Monat: Mai 2020

Mach dich locker

Grenzen selbst zu setzen, statt sich fremden Regeln zu unterwerfen, ist, was spätestens seit der Aufklärung zum Hauptprogramm eines vernunftbegabten Wesens gehört. Man nennt das Freiheit und muss sofort erinnern, dass zu ihr vor allem die Fähigkeit gehört, sich selbst zu beschränken. Nichts muss sich ändern im eigenen Handeln mit den annoncierten Lockerungen des Staats; und vieles sollte sich nicht, so lang die Ansteckungsgefahr groß ist. So verlockend der leichte und lose Alltagsgestus ist und stets als Ausweis des souveränen Umgangs mit dem Leben gilt, so unmittelbar zeigt sich die wiedergewonnene Souveränität im rücksichtsvollen Umgang mit anderen, denen gegenüber sich verantwortlich zu wissen als Nachweis gelten mag, den Spielraum von Freiheit ausgemessen zu haben.

Selbstbetrug

Das ist die Grundverlogenheit des Lebens, dass ein Mensch, der vieles kann und Widersprüchliches will, der heute so und morgen ganz anders gestimmt ist, der sich selbst nicht durchschaut und oft nicht merkt, wie dreist er sich belügt, dass dieses komplexe Wesen sich für homogen hält und sich als schlicht, als verlässlich, als eine einheitliche Persönlichkeit ausgibt. Warum diese gedankenlose, unwillkürliche Maskerade? Damit er als liebenswert erscheint. Und weil er nicht versteht, dass die Liebe gerade das ist, was Unvereinbares versöhnt, Unterschiede aushält und gegen die Unstetigkeit Dauer setzt.

Was geht? Und wann?

Unter allem, was einer Sache Sinn verleiht, ist die Perspektive, die sich mit ihr verbinden lässt, die entscheidende Zutat. Ohne diese Aussicht, ohne die Gewissheit in der Frage, wozu sie taugt, was sich mit ihr anstellen lässt, wann sie einzusetzen ist, fehlt ihr jene feste Bestimmung, die erlaubt, sie wie in einem Koordinatensystem dem eigenen Leben zuzuordnen. Das ist Sinn: genau angeben zu können, wo der angestammte Platz ist für das, was das Interesse erweckt hat.

Diskussionswürdig

Viel wäre für die Sache gewonnen, wenn in einer Diskussion nur dasselbe Maß, die eigene Überzeugung zu begründen, eingesetzt würde, wie wir an Mitteln aufwenden, den anderen zu verunsichern.

Ohne Vorbereitung

„Komm, wir gehen da mal schnell rein.“ – „Einen Augenblick, die Schlaufen meiner Maske haben sich verheddert. Ich muss sie mir neu aufziehen.“
„Schön, dass Ihr überraschend geklingelt habt. Wenn Ihr vielleicht einen Moment draußen warten wolltet. Ich muss erst Tisch und Stühle auseinanderziehen, damit wir genügend Abstand haben.“
„Wollen wir ein Eis essen?“ – „Die Schlange vor dem Salon ist mir zu lang, Da brauchst du zwanzig Minuten, bis du an der Reihe bist.“

Eine der wesentlichen Formen sozialer Nähe ist die Spontaneität. Sie enthält beides: das Ungefragte und das Fraglose. So angenehm es sein kann, dass jenes in Zeiten des gepflegten Abstands wegfällt, so sehr nervt, dass auch das verschwindet, was sonst in schönster Unmittelbarkeit geschieht.

Hindernislauf durch die Krise

Der allenthalben beschworene Gemeinsinn, die Achtung des Anderen, die Zuwendung zum Schwächeren, die Sorge um die Kranken, all diese feinen Zeichen der Solidarität werden, noch heimlich, verdrängt vom Wettbewerb um die beste Ausgangsposition nach der Krise. Welches Land kommt eleganter durch? Welche Region hat die wenigsten Angesteckten? Welche Stadt kann sich zuerst als virenfreie Zone erklären? Wer ist rasch und ohne tiefere Blessuren in der neuen Normalität angelangt, die alles sein darf, nur nicht Alltagsnorm? Längst dienen die täglichen Zahlen der Neuinfizierten, der Genesenen, der leeren Krankenhausbetten, als Ausgangspunkt für den Vergleich mit denen, die es nicht so gut hinbekommen. Und es wächst unter vielen, die meinen, der Zeitenunbill getrotzt zu haben, eine fatale Einsicht heran, die sich noch als Frage tarnt: Könnte es sein, dass die Formen der Beschränkung und Beschrankung, soziale Distanz, Barrieren zwischen Nachbarstaaten und das strikte Besuchs- oder Reiseverbot, mehr sind als nur die harten Reaktionen auf einen Krankheitsnotstand? Könnte die Wiederentdeckung der Grenze, die Kleinteiligkeit der Handlungen, die Verengung des Horizonts nicht der Grund sein für die eigene Überlegenheit? Das ist die eigentliche Ansteckungsgefahr: dass die Angst aller jeden auf sich zurückwirft.

Tag des Aufbruchs

Arbeiten bedeutet, die Welt so zu gestalten, dass sie die eigene genannt zu werden verdient.