Monat: Juli 2021

Prinzip Hoffnung

In der Hoffnung erhält sich die Vernunft einen Rest von Funktionsfähigkeit, obwohl ihr das Prinzip des zureichenden Grundes abhanden gekommen ist.

Vergeben, nicht vergessen

Die Differenz zwischen Vergeben und Vergessen markiert nicht nur die Unfähigkeit des Opfers, erlittenes Unrecht, trotz einer Geste der Verzeihung, nicht selten schmerzhaft erinnern zu müssen. Sondern sie respektiert indirekt auch die Identität des Täters. Gäbe es diesen Unterschied nicht, verlöre er mit dem Erlass der Schuld auch Passagen seiner Geschichte. Nur eine Vergebung, die sich nicht künstlich zwingt zu vergessen, nimmt ernst, was geschehen ist.

Gezielte Provokation

Wenig ermüdet so sehr wie eine durchsichtige Provokation. Das eigentliche Ärgernis von Menschen, die kalkuliert die Belastbarkeit von Grenzen austesten, ist, dass sie unerträglich langweilen.

Anfangszahl

Wenn es ein mathematisches Symbol für den Menschen gibt, dann ist es die Primzahl. Nichts in den Rechenreihen repräsentiert Einzigartigkeit so genau, wie diese Anfangszahl, die aus keiner anderen natürlichen Zahl multiplikativ konstruiert werden kann, welche größer ist als 1, und die nur durch die Eins und durch sich selbst teilbar ist. Und die aufgrund all ihrer sonderlichen Eigenschaften sich hervorragend eignet zur Verschlüsslung. Sie taugen, wie Menschen, nicht recht für Allgemeines. Wäre es metaphorisch also allzu verwegen, ihnen zuzusprechen, dass sie sich selbst ein Geheimnis sind?

Das erste Wort

Viel schwieriger, als das letzte Wort zu behalten, ist es, das erste Wort zu finden. Wo jenes ein Zeichen von Macht darstellt, verweist dieses im besten Fall, also jenem, in dem durch Sprache Neues in die Welt kommt, auf Vollmacht. Das letzte Wort dröhnt laut, das erste Wort, voller Respekt vor der Aufgabe, einen Anfang zu setzen, sucht seine Bestimmtheit diskret, manchmal zaghaft und übervorsichtig, gelegentlich nimmt es sich zurück zugunsten eines besseren. Jeder, der Texte schreibt, kennt das Problem des Beginns und wundert sich nicht, wenn er weiß, wie er aufhört, bevor er den rechten Einstieg getroffen hat.

Kunst der Unterscheidung

Es gibt eine seit alters wohlerwogene, sehr einfache Bestimmung dessen, was „Bildung“ bedeutet: die Fähigkeit, sinnvoll unterscheiden zu können. Sie hat nur so viel mit dem zu tun, was heute Politiker und Wissenschaftler unter Bildung verstehen, als sie dem Erwerb von Funktions- und Leistungsfähigkeiten vorausliegt. Was helfen Fachwissen, die Expertise in Theorien, das erlernte Handwerk, wenn ich nicht weiß, wo es seine Geltung besitzt, wenn ich also nicht in der Lage bin, Grenzen zu erkennen, nicht nur die seiner Anwendbarkeit. Gebildet ist, wer nicht in Versuchung gerät, die Sache, mit der er erfolgreich ist, zu verabsolutieren.

Liedgut

Wenn das Reden stockt, weil das Wort oder, nicht zu vergessen, die Stimme nicht trägt, mag eine Melodie helfen, das Lied, um dennoch sagen zu können, was sonst vor der Welt verschwiegen geblieben wäre. Die Sprache der Musik dehnt den Raum des Sagbaren durch das Singbare bis an jene letzte stumme Grenze, vor der wir erschrecken, und die nie zu akzeptieren zu den höchsten Aufgaben des Menschlichen zählt.