Monat: Juni 2021

Am Ende

Nur wer mit der Sache noch nicht am Ende ist, kann ihr selbstbestimmt ein Ende setzen. Aber warum sollte er? So wie wir den Anfang verpassen, weil er sich uns schon entzogen hat (begann die Liebe mit dem ersten Kuss, schon eher, oder erst nach Jahren des gemeinschaftlichen Lebens?), so fällt es schwer, zum rechten Zeitpunkt aufzuhören. Wir kennen ihn nicht. Es ist müßig, jemandem vorzuwerfen, er habe versäumt, den Moment für den Absprung zu finden. Das Leben kennt seine entscheidenden Augenblicke des Beginns und des Abschieds nur im rückschauenden Konjunktiv. Der Rest ist Glück.

Endlosschleife

Es gehört zur Binnenstruktur des Denkens, dass es sein Ende von sich aus nie findet, jenen Punkt, an dem es sich zugunsten des Handelns von sich verabschiedet, ohne dass noch dies oder das zu sagen wäre.

Gelassenheit

Zu jedem Handeln gehört ein Mindestmaß an Gleichgültigkeit, das das eigene Tun abhebt von all dem anderen Wichtigen und Erwarteten, dem gerade wegen des spezifischen Interesses an der einen Sache nicht die Aufmerksamkeit zuteil werden kann, die es meint zu verdienen. Lassen ist die Bedingung, sinnvoll agieren zu können.

Formfanatiker

Hier ein Zertifikat, dort der Feedback-Fragebogen, kaum eine Institution, die nicht nach Auszeichnungen lechzt, Bewertung einfordert, Formen der Selbstdarstellung pflegt wie der Vorstädter seinen Vorgarten – es nervt. Es ist lästig und verlogen, weil all die plakatierten Qualitätsausweise, die vorgeben, über den Wert des Inhalts präzise Auskunft zu geben, in Wahrheit nur eines leisten: Sie lenken vom Wesentlichen ab, dem Inhalt.

Wieder gesund

Die auffällige Schwäche der Unbestimmtheit in den Definitionen von Gesundheit lässt sich erklären aus der Unauffälligkeit des Phänomens. Wer gesund ist, bemerkt es nicht einmal in den Augenblicken, in denen er gefragt wird, wie es ihm gehe. Die ehrlichste Antwort wäre: Woher soll ich das wissen? Aus dem Fehlen von Funktions- und Leistungsfähigkeit mag man schließen, dass abhanden gekommen ist, was genau zu sagen nicht immer leicht fällt. Und dass vor allem am Maß der Sehnsucht, es wiederzubekommen, erst erkennbar wird, wie groß der Mangel ist.

Keine Solidarität

Unter den Sozialkompetenzen, die so heißen, als handele es sich um eine erlernbare Fähigkeit, die aber oft ein Talent verlangen, das allem Erwerb vorausläuft, ist das Mitgefühl die feinsinnigste. Anders als die Solidarität und ihre Bekundung, die getragen ist vom Bewusstsein, im Prinzip zusammenzugehören, zeichnet sich diese diskrete Art der Empfindsamkeit gerade dadurch aus, dass sie weiß, dem anderen nicht anders beistehen zu können als durch Gesten des Einstehens im Geiste, weil er seinen Kampf im Dasein allein zu bestreiten gezwungen ist. Das Mitgefühl übernimmt stellvertretend jene Sensibilität, die dem vom Schicksal Getroffenen entrissen worden ist.

Wunscherfüllung

Dass die Seele dem Prinzip der Wunscherfüllung gehorcht, hat sich über alle Wandlungen der Psychoanalyse als Regulationsaufgabe durchgehalten. „Wir hatten uns in die Fiktion eines primitiven psychischen Apparats vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufung von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. … Eine solche, von Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch“, so schreibt es Freud im Kapitel VII der Traumdeutung. Nur wird unterschlagen, wie die Vermeidung von Unlust noch lang nicht ihr Gegenteil hervorruft. Viel öfter ist, wer dem Schmerz, der Anstrengung oder dem Konflikt konsequent ausweicht, einfach nur gelangweilt. Und folgt dem Ideal gleichmäßigen Desinteressses, das die Auseinandersetzung so scheut, dass er die großen Erkenntnis- und Daseinsfragen sich nicht zu stellen traut: die nach Anfang und Ende, Wahrheit und Irrtum, Liebe und Tod. Solcherart Wunscherfüllung macht zwar nicht unglücklich, aber untauglich fürs Leben.

Verlegenheitswörter

„Zufall“ ist ein Verlegenheitswort, „Zukunft“ ein verwegenes Wort.

Zu voll

Was dem Schüler verschwiegen wurde, dem mit dem Satz plenus venter non studet libenter noch die Lust am Lernen genommen wurde, nicht die Freude am Essen: dass vor allem ein übervoller Kopf dem Gedanken abträglich ist.

Das Blaue vom Himmel

Die Lust an luftigen Versprechen vor der Wahl ist so groß, da noch niemand sie verloren hat, nur weil er seine Zusagen wieder zurücknehmen musste. Auch der Bürger nimmt üblicherweise Worte lieber politisch, als dass er Politiker beim Wort nimmt.

In die Jahre gekommen

Das Alter setzt in dem Augenblick ein, da der Geist sich für jünger hält, als der Körper es spüren lässt.

Wir

Innerhalb der grammatischen Personen, die die Gesprächsrollen bezeichnen*, unterscheidet die deutsche Sprache schlicht zwischen Singular und Plural: hier die Folge ich / du / er, sie, es; dort die Reihe wir / ihr / sie. Nicht markiert ist die dimensionale Verschiebung, wenn zu Ich und Du nun ein Wir hinzukommt, das mehr darstellt als deren Addition. Das „Wir“ ist eine symbolische Größe, nicht recht fassbar, kaum anschaulich. Jeder, der in einem paarweisen Lebensverhältnis sein Glück gesucht hat, wird dieser Form eigenen Rechts gewahr, wenn er in die Verlegenheit gerät, auf dessen bemerkten Verlust reagieren zu sollen durch „Arbeit“ an der Beziehung. Das „Wir“ will eigens gepflegt sein, weil es sich nicht von selbst ergibt durch den Zusammenschluss von Ich und Du. Die Aufzählung der Mehrheitsrollen im deutschen Sprachregelwerk bildet nicht den Qualitätssprung ab, der mit der quantitativen Erweiterung von der Einzahl in die Vielzahl einhergeht.

* Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 94ff.

Weinkunde

Viele wählen den Wein nach der Jahreszeit, an lauen Sommerabenden den weißen, zum Kaminfeuer im Winter den roten. Oder sie fragen nach der Speisenfolge, der sie die Traubenfarbe anpassen. Dabei eignet sich der Unterschied zwischen einem fruchtigen Weißburgunder und einem Merlot in dunklem Rubin bestens, um die Gesprächserwartungen des Tischgastes diskret zu erraten: zum leichten Wein gehört der Wortwitz, den schweren begleitet die Lust am Tiefsinn.

Rückschau

Man kann sich von einer Sache oder einem Menschen nicht entfernen, ohne sich gelegentlich umzudrehen, um festzustellen, wie weit man gekommen ist und ob der Abstand inzwischen das Maß erreicht, das mit Ferne zutreffend beschrieben ist. Das gilt auch im Verhältnis zu sich selbst und zur eigenen Vergangenheit. Was man hinter sich lassen will, muss man in den Blick nehmen.

Schöner scheitern

Überheblichkeit ist jene Form der Verzweiflung, die mit dem Scheitern an der Welt noch keine Bekanntschaft gemacht hat.

Gespaltene Gesellschaft

Die Gesellschaft ist nur für den gespalten, der noch eine Vorstellung von ihrer Einheit besitzt.

Korrekt

Korrektheit kann kein moralisches Kriterium sein. Andernfalls müssten allgemeine Inhalte, und nicht allgemeine Formen, als verbindliche Handlungsprinzipien taugen, so dass ein messbarer Abstand zu ihnen den Grad der Anständigkeit genau zu ermitteln erlaubte. Nicht ohne Grund hat der schärfste Denker der praktischen Vernunft, Immanuel Kant, jenseits aller ausgeschriebenen Normen vor allem eines für jede Tugendlehre zum Qualitätsmaßstab erklärt: die Fähigkeit, über die Abstraktheit eines Imperativs zu sehr anschaulichen, wirksamen und lebensnahen, nicht zuletzt frei gewählten Unterscheidungen des eigenen Tuns zu finden. Korrektheit ist ein Mittel, aus einem sachlichen Gefälle eine persönliche Überlegenheit abzuleiten: die zwischen Selbstüberschätzung und Erniedrigung.

Vom Vorrecht des Handelns gegenüber der Haltung

Es gäbe viel weniger Verzweifelte auf der Welt, wenn der Glaube an die Veränderung größer wäre. Eine Resignation, der nicht wenigstens der Versuch einer Revolution vorausgegangen ist, hat ihr eigenes Niveau verfehlt. Lebensfreude ist jene Haltung, die sich der Freiheit verdankt, handeln zu können.

Die Hand reichen

Knapp anderthalb Jahre Abstinenz vom Händedruck zur Begrüßung oder zum Abschied haben offenkundig die Empfindsamkeit so stark anwachsen lassen, dass Berührungen von Innenflächen fast schon – je nach Art der Begegnung – als über„griffig“ oder allzu intim wahrgenommen werden. Da muss sich erst wieder einspielen, was ehedem selbstverständlicher Grußgestus gewesen ist. Auch wenn die Hand zumeist in ihrer Funktion als erstes Werkzeug in der Kulturgeschichte behandelt ist, hat schon Aristoteles gewusst, „dass die Seele der Hand analog ist“*.

* De anima, 3, 8, 432

Bürgerstaat

Eine Lesefrucht, die reif geworden ist:
„Eine Regierung kann nicht genug Wert auf eine Tätigkeit legen, die individuelle Bemühung und Entwicklung nicht behindert, sondern ihr hilft und sie anspornt. Das Übel beginnt erst, wenn sie, statt die Tatkraft und Fähigkeit der Einzelnen und der Körperschaften anzustacheln, ihre eigene Tätigkeit dafür einsetzt, wenn sie, statt zu belehren, zu raten und gelegentlich zu tadeln, jene in Fesseln arbeiten lässt oder sie beiseite schiebt und die Arbeit selbst macht. Der Wert eines Staates ist auf lange Sicht der Wert der Individuen, die ihn bilden. Und ein Staat, der die Interessen der geistigen Entwicklung dieser Individuen vernachlässigt zugunsten einer etwas besser funktionierenden Verwaltung oder jenes Anscheins davon, die die Praxis im jeweiligen Detail liefert, ein Staat, der seine Menschen verkümmern lässt, um an ihnen – selbst für nützliche Zwecke – gefügige Werkzeuge zu besitzen, wird merken, dass mit kleinen Menschen wahrlich keine großen Dinge vollbracht werden können.“*

* John Stuart Mill, Über die Freiheit, V, 325

Sicherheitsabstand

Beim Besuch in der City: Die Empfehlung einer Distanz von mindestens anderthalb Metern zum nächsten Nebenmenschen, die während der Zeit erhöhter Ansteckungsgefahr das Regelmaß der Sicherheit im öffentlichen Raum darstellte, scheint eine gut gewählte Größe zu sein. Sie entspricht, ungeachtet der Gefährdung durch den Aerosolwolkenzug, dem Bedürfnis nach Eigenheit, nach Eigensinn, Eigenwelt, Eigendynamik, Eigennutz. Und macht unmittelbar anschaulich, was Individualität in einer Gesellschaft meint, die auf die Differenz ihrer Identitäten verstärkt pocht.

Sich selbst vertrauen

Gleich zwei Hauptwurzeln sind es, aus denen das Selbstvertrauen erwächst. Nur wenn dem Lob durch andere die Einsicht sich zugesellt, sich seiner würdig zu finden, also zur Anerkennung die Anerkennung der Anerkennung kommt, kann jene Gewissheit über das Eigene gedeihen, die es gegenüber späteren Verführungen, die mit allen Formen der Beachtung einhergehen, stark macht.

Reinschrift

Dass man sich beim Schreiben noch die Finger schmutzig macht, diese Vorstellung, sofern sie nicht im übertragenen Sinn gelesen werden will, stammt aus einer Zeit, in der die Worte mit Tinte aufs Papier gebracht wurden, nachdem sie zuvor gewählt worden waren. Aus ihr hat sich ein Stilideal gerettet, das die Abgewogenheit in der Sache sprachbildnerisch knüpft an die Anstrengung, zwar in das Thema tief einzudringen, sich aber von ihm nicht kontaminieren zu lassen: Man müsse so formulieren, dass der Feinsinn gewahrt und der Gegenstand, über den zu handeln ist, nur im Unendlichen berührt wird, wobei die eigene Position und die Zielrichtung dennoch jederzeit erkennbar bleibt. Wie anders wäre diese Schreibkunst zu nennen als – tangential.

Ganz persönlich

Es gibt viel weniger Personen, die so faszinierend sind, dass sie die Sache vergessen lassen, für die sie einstehen, als es Sachen gibt, die so unklar sind, dass man wenigstens hofft, die Sympathie für eine Person könne ein gutes Wahlkriterium sein. Der Erfolg einer Person ist nicht dasselbe wie ein persönlicher Erfolg, auch wenn keine sachlichen Gründe erkennbar sind.