Monat: Mai 2021

Was die Welt braucht

Das ist das schlimmste Verbrechen, dass ausgerechnet jene Institution, die sich selbstgewiss „Hüterin des Glaubens“ nennt, die Kirche, sich an dem vergeht, was eine überkomplexe Welt am meisten braucht, um mit sich selbst klarzukommen: das Vertrauen. Wer dem Vertrauen nicht mehr vertraut, verliert sich endlosen Verfahren und deren Aufsicht, wagt nicht, Großes zu entscheiden, diskutiert zäh die verpassten Chancen und Fehler vergangener Zeiten, statt sich entschlossen, und in der gelegentlich naiven Überzeugung, es besser zu machen, mit Entdeckungslust und Erneuerungskraft dem Problemlösen zu stellen. Glauben befreit das Handeln vom Zwang zur Kontrolle, weil es in jedem Tun ein umso größeres Lassen zu erkennen vermag, in dem es die Bedingungen des Gelingens zuversichtlich vermutet.

Triumph der Freude

Am schönsten sind Siege, wenn nicht nur der eine den anderen Gegner übertrumpft hat, sondern wenn am Ende die Freude über alle Gefühle triumphiert.

Um die Umwelt

Es schmälert die Sorge um die Welt nicht, wenn sie auf Formeln der Selbstverkleinerung des Menschen verzichtet. Dass wir der Natur zugehören, die wir zerstören, ist so richtig, wie es wahr ist, dass es als eine der delikaten Leistungen in der Entwicklung zum Menschsein und Menschlichsein anzusehen ist, sich von den natürlichen Bedingungen stilgerecht emanzipiert zu haben. So lässt sich mit Fug von „Umwelt“ sprechen, ohne gleich befürchten zu müssen, es könne in dieser Bezeichnung allzu sehr die Entfremdung mitbetont sein zwischen dem Subjekt und all dem anderen, das es nicht ist und doch braucht: als Lebensklima, tragfähiger und ertragreicher Boden, als Atmosphäre oder Wasser, die für uns Existenzraum und Elixier in dem Maße sind, wie wir sie darauf nicht reduzieren. So sehr der Mensch eine Unverträglichkeit gegen sich entwickelt, sobald er sich selber überlassen ist, so sehr gilt es darauf zu achten, im Gegenschwung wider die Klimakatastrophe die Natur als letzten Gott vor dem Untergang nicht zu verklären.

Ärger als ärgerlich

Bei einem Ärgernis ist höchst unwahrscheinlich, dass man sich am meisten über das selber ärgert, was es ausgelöst hat. Und selbst wenn: es brächte die Sache nicht aus der Welt, den Fehler einzugestehen, Reue zu empfinden und bußfertig vor die rachbereite und hämesüchtige Öffentlichkeit zu treten. Das Ärgerliche hat im Ärgernis längst einen gesellschaftlichen Rang erklommen, weil es als Ausdruck einer vermuteten Haltung wahrgenommen wird, die der akute Fauxpas nur unzureichend repräsentiert.

Verpasste Gelegenheit

Manchmal entpuppen sich verpasste Gelegenheiten überraschend als Orientierungshilfen im Leben. Da sind die Möglichkeiten plötzlich eingeschränkt, weil das Prüfungsergebnis nicht den Erwartungen entspricht, die man an den Ausgang der Sache gerichtet hatte; aber dieses verengte Chancenangebot, das dem leicht vertanen Examen folgt, führt glücklich genau in jene Richtung eines Berufs, den zu ergreifen nicht in den Sinn gekommen wäre. Nicht das, was geschieht, ist entscheidend, sondern das, was man daraus macht.

Das Reden hört nie auf

Die unterschiedlichen Ebenen der Sprache, die vom schlichten Imperativ bis in die weiten Verzweigungen der Interpretation reichen, erlauben, dass das Reden nie aufhören muss. Wo rücksichtslose Machthaber Gewalt wortlos ausführen und anschließend die Brutalität ihres Tuns im Spektrum zwischen Fadenscheinigkeit und Verlogenheit rechtfertigen, da kann umgekehrt die politische Handlung all jene Appelle legitimieren, die eine Rückkehr ins Recht einfordern, aber ungehört oder unerhört verhallen. Der Aktion, die den Mahnrufen in ihrer strengen Konsequenz den Ernst beilegt, den sie brauchen, um zu wirken, wird durch ihre begleitende Deutung der Charakter der Unwiderruflichkeit genommen. Das Wort in seinem Talent, das Niveau seines Gebrauchs zu wechseln, behält die Dominanz über der Tat. Und bricht so deren Endgültigkeit auf, die andernfalls nur den engen Raum von Urteil und Bestrafung anböte, die Macht und Gegenmacht in eine zwanghafte Gewaltspirale münden ließe.

Toleranz, erkenntnistheoretisch

Es lohnt, die Vorstellung von Toleranz nicht nur als politische Errungenschaft oder moralische Pflicht anzusehen, sondern unter erkenntnistheoretischer Perspektive zu betrachten. Dann nämlich erschließt sich, dass jedes Individuum nur deswegen eine Welt hat, weil es andere seiner Art gibt, Menschen, die nicht identisch mit ihm sind, sondern in ihrer Vielheit und Vielfalt allererst die schönsten Perspektiven öffnen auf ein Ensemble von Einsichten, dessen Fülle und Gesamtheit wir „Welt“ nennen. Die Anerkennung von Intersubjektivität, und damit des Anderen als ein Wesen souveränen Rechts, bedeutet die Garantie, dass jedem die Welt nicht bloß als ein factum brutum erscheint, das gegeben ist, sondern sich als ein eigenständiger Anspruch präsentiert, der ihm aufgegeben ist: als das, was sich erschaffen und ergreifen lässt, entwickelt und entdeckt werden muss.

Der Zukunft zugewandt

Es hat der Wirtschaft und der Politik selten geschadet, statt ein Übermaß an Plänen zu produzieren, eine gewisse Empfänglichkeit für den Zufall* zu entwickeln.

* Paul Valéry, Lust. Das Fräulein von Kristall, in: Werke 2, 259

Mathematik des Geistes

Geist = der Blick fürs Ganze + die Achtsamkeit auf Details
Geist = Vernunft + Verstand + Herz
Geist = Wahrheit + Erträglichkeit
Geist der Unterscheidung = Unterscheidung der Geister
Geist = Mut – Übermut
Geist = Trost ↔ Ohnmacht der Hilfe
Geist = Schärfe der Klarheit : Milde der Barmherzigkeit
Geist = Lebendigkeit ≠ Lebensverbrauch
Geist = Ende ≡ Anfang
Geist = ¬ Status
Geist = ∞ Liebe
Heiliger Geist = die Gegenwart des abwesenden Gottes

Führungstalent

Die Kunst des Führens, die zu beherrschen Verantwortliche in Wirtschaft und Politik für sich oft ungefragt in Anspruch nehmen, besteht weniger darin, Menschen nach den eigenen Vorstellungen zu leiten. Als vielmehr in jenem seltenen Talent, eine Atmosphäre zu gestalten, in der diese Menschen die Sache, um die es geht, im Ganzen erleben und verstehen und sich mit ihr, nicht zuletzt miteinander, so wohlfühlen, dass sie das Maß ihres Handelns in Eigenregie ausrichten am dauerhaften Erfolg in der Sache, von dem sie wissen, dass er nur zu gewinnen ist, wenn sie sich selbst dabei nicht verlieren, der aber verloren wird, wenn sie nur für sich daraus Gewinn ziehen wollen.

Shitstorm

Im Wettbewerb zwischen Hass und Dummheit siegt der dumme Hass. Er hat die schnellsten Reflexe.

Virtuelle Welt

In der virtuellen Welt gibt es nichts, was als bedeutsam gelten kann. Wo zu viel Platz angeboten wird und unbeschränkte Zeit, vermag sich keine Ordnung auszubilden, keine Rangfolge, kein Mehr oder Weniger, kein Jetzt oder Nie. Wertvoll ist nur, was unter Bedingungen der Knappheit Anstrengung beansprucht, die das Maß des Begehrens bestimmt.

Desorientierung

Nicht zu wissen, wer man ist oder sein möchte, wohin man gehört und was man kann, diese Form der zeitweiligen Desorientierung, unter der vor allem jüngere Generationen leiden, findet Jahre später ihre Steigerung. Da weiß einer genau, wer er ist oder sein möchte, was er vermag und wohin er gehört, aber er kann dort nicht sein. Heimat ist nicht nur der Ort, den ein Mensch für sich gefunden hat, sondern die Art, wie er bei sich sein kann.

Ungefragt

Es kann äußerst nervig sein, wenn Zeitgenossen ungefragt Auskunft geben über Inneres, über das gebildete Ensemble aus Einstellungen und Erfahrungen, und sich zu einem öffentlichen Bekenntnis gedrängt sehen. Wer will schon wirklich wissen, was als Persönlichstes ausgewiesen wird und seinen Platz im Verborgenen gut gefunden hat, aus dem herauszutreten indes meist bedeutet, dass es als Befremdlichstes daherkommt. Allerdings verlangen Extremsituationen des Lebens gelegentlich doch – nicht als Frage, aber – als Anspruch, dass diese Haltungen sichtbar werden. Dann wird die Konfession schnell zum Bekennermut, der Konsequenzen provoziert, weil er sich jenseits aller gestanzten Formeln positioniert. Im Kampf wider den Antisemitismus geht es nicht nur um eine politische Stellungnahme für … aus Verantwortung vor …, sondern ums Mitgehen, Mitleiden, Mitstreiten, Mitsein.

Zeugen der Toleranz

Die größte Zumutung, die Freiheit jenen auferlegt, die von ihr Gebrauch machen, ist, sie allen anderen auch zuzugestehen. Unterhalb dieser erreicht Freiheit nicht ihr eigenes Niveau. Man nennt sie Toleranz.

Spontan ist immer gut

In Phasen der Zeitknappheit und Arbeitsüberlastung klingt der Vorschlag, sich ungeplant zu verabreden, wie die schnelle Lösung auf die peinliche Not, einen Termin zu finden für ein Treffen. In Wahrheit aber verschärft er das Problem durch den ungeregelten Aufschub: Keiner fühlt in sich das Drängen, das den spontanen Entschluss auslöst, nimmt dem anderen aber grundübel, sich seinerseits nicht gemeldet zu haben.

Zu kompliziert

Längst hat die Welt jenes Niveau an Komplexität erreicht, auf dem nicht mehr zu verhindern ist, dass einer irgendwas behauptet, ohne dass er fürchten müsste, widerlegt zu werden, weil die Antwort so kompliziert wäre, dass sie nur wenige noch verstünden. Der ungeheure Zuwachs an Wechselwirkung und Verflochtenheit gefährdet unsere Entscheidungsfähigkeit und damit freie politische Systeme, weil sie den Entschlüssen mit der Gewissheit auch die Belastbarkeit raubt. Der Aufwand, einfach mal irgendeine Behauptung in die Welt zu setzen, steht in keinem Verhältnis mehr zu der oft vergeblichen Mühe, sie wieder aus ihr zu vertreiben.

Saatgut

Man kann Hass sähen, und weiß dennoch nicht, was man ernten wird. So wie die Liebe, die weniger gesät als geschenkt wird, nicht mit ihrer Erwiderung unbedingt kalkuliert. Als ungefragte Offerte darf sie keine Erwartungen knüpfen an ihr Gegenüber. Diese Unberechenbarkeit, die Freiheit zu nennen wohl übertrieben und die Zufall zu heißen gewiss unterbestimmt wäre, ist der geheimnisvolle Ort letzter Hoffnungen in Konflikten, die zu lösen schier aussichtslos erscheint.

Kraft

Zu den Texten, die jenem Teil der Gesellschaft noch geläufig sind, der heute nicht den Vater- oder Herrentag begeht, sondern Christi Himmelfahrt feiert, zählt die Zeugenschilderung aus der Apostelgeschichte (1, 4-11), nach der die Pointe der Erzählung weniger in deren räumlichen Sprachbildern zu suchen ist, sondern in der Überbrückung einer Frist: Um das Warten auf die endgültige Erlösung sinnvoll auszuhalten, in die der Bericht einen Vorblick gibt, ist von der Geisteskraft die Rede, die vergessen lässt, dass noch nicht definitiv geschehen ist, wovon schon jetzt das Wort zuverlässig ergeht. Diese Kraft unterscheidet alle, die auf Großes harren: in Zauderer und Verzagte, Ermüdete und Gelangweilte, Prokrastinatoren und Phantasten der Utopie hier oder, so die Begeiste(r)ten dort, in Kämpfer für Wahrheit, Versöhner und Verständige, nicht zuletzt jene, die nicht nur aufklären, sondern aufrichten und Trost spenden. Solche Kraft zu haben, bedeutet, dem Warten die latente Passivität zu nehmen und es nie als zu lang zu empfinden. Sie ist mehr als Geduld, und deswegen nicht ungeduldig.

Rollentausch

Es hat dem Handeln selten geschadet, sich in jene versuchsweise hineinzuversetzen, die es betrifft. Aus der Goldenen Regel, die seit Jahrtausenden als einfaches moralisches Kriterium in vielen Formen anerkannt ist, hat der Oxforder Philosoph R. M. Hare ein Aktionsmodell abgeleitet, das auf einer schlichten Frage ruht: „Was sagst du über diesen hypothetischen Fall, in dem du in der Position des Betroffenen bist?“* So manches Wort bliebe ungesagt, das eine oder andere Vorhaben steckte fest, achtete man wechselseitig auf die Verletzbarkeit möglicher Adressaten. So sich einschränken zu lassen, verwirklichte den Gedanken des Respekts unmittelbar, der in einem umfassenden Sinn nichts anderes bedeutet, als Rücksicht zu nehmen.

Richard Mervyn Hare, Freedom and Reason, 107 

Demokratie in der Krise

Eine Demokratie ist in der Krise, wenn die Mehrheit der Bürger nicht mehr weiß, von wem sie sich regieren lassen will, weil sie von allen Kandidaten genau weiß, dass sie sich von ihnen nicht regieren lassen will.

Die Sache der Gerechtigkeit

Das ernste Bemühen, nur der Sache gerecht zu werden, könnte sehr viel beitragen, das politische Problem der Ungerechtigkeit zu bewältigen.

Aus tiefstem Herzen

Nicht wenige Entschuldigungen, die nach einem allzu dummen Fauxpas „aus tiefstem Herzen“ öffentlich abgegeben werden, lassen das Publikum allenfalls in das sehen, was es in der Tiefe des Herzens immer schon vermutete: dunkle Abgründe. Aus denen dringt, als sei es das verzerrte Echo auf eine alltagsrassistische oder sonst moralisch unkorrekte Bemerkung, die kurz zuvor für mediale Empörung gesorgt hatte, reflexartig das hohle Sorry, das sich nicht zu schade ist, die Bitte um Vergebung routiniert zu instrumentalisieren. So entleert die Sprache sich selbst von Sinn und Bedeutung, indem sie immer mehr Wortverbindungen aus dem Verkehr zieht.*

* Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 500

Die neue Heuchelei

Wer vom (von) Außen (Äußerungen) auf das Innere, die Haltung unmittelbar schließt, fördert die Heuchelei. Die Fassade als Kriterium der Korrektheit bringt Menschen hervor, denen es nur um den Anstrich des Anstands geht.