Monat: Mai 2021

Ich habe immer schon gesagt

Regierungspolitik der Gegenwart: Angesichts zu vieler ausgelassener Gelegenheiten ersetzt die Selbstrechtfertigung das Argument.

Wertvoll

Eine der wichtigsten Leistungen des Denkens ist, nicht nur zu erkennen, dass jede Unterscheidung auch eine Wertung einschließt. Sondern vor allem, um der Beschreibbarkeit dieser Differenzen willen, dafür zu sorgen, dass über Urteile und Vorurteile und deren Folgen immer besonnen aufgeklärt wird. Nur so lässt sich frei reden und gelöst benennen, was ist, ohne dass man den Furor der Verletzten fürchten muss und die Idiosynkrasie von Ideologen Machtansprüche erhebt. Reflexion ist, was allzu voreilige Reflexe hindert, sich zu verabsolutieren.

Moralgewalt

So anders als das, was er im Dünkel der Gesinnungsüberlegenheit zu treffen beabsichtigt, ist der moralische Reflex gar nicht. Beide, die unbedachte Beleidigung wie deren prompte gesellschaftliche Ächtung, finden sich wieder unter der Rubrik: Mit dir bin ich fertig. Das ist das Problem des allzu schnellen Anstandsurteils, dass es kein Klima des Respekts, sondern eine Atmosphäre der Angst erzeugt. Man kann die Lebendigkeit des Lebens mit Worten töten, vor allem wenn sie, hier wie dort, im Gestus eines letzten daherkommen.

Nein, und nochmals Nein

Woran sonst, wenn nicht überall dort, wo ein Mensch entschieden Nein sagt, lässt sich etwas über seinen Charakter und dessen Stärke lernen. Jede Zustimmung gewinnt an Klarheit in dem Maße, wie sie sich ihrer impliziten Verweigerungen bewusst ist. Identität heißt jene Konturenschärfe eines Ich, die sich gebildet hat aus vielfältigen Erfahrungen, in denen es seine eigenen und die Grenzen der anderen nicht immer ohne Schmerz kennengelernt hat. Dass etwas nicht oder es einem nicht passt, gehört zu den unvermeidlichen Einsichten einer Freiheit, die sich erlaubt, stets mehr zu sein als das, was sie ist, um das zu sein, was sie ist.

Nur nicht an der Hand nehmen

In einer souveränen Demokratie kann politische Führung nur bedeuten, Menschen die Freiheit zu lassen, sich als Gesellschaft so aufzustellen, dass sie sich in ihr und über sie jederzeit klar orientieren können.

Was wäre, wenn

Die Sonntagsfrage, die zwar so heißt, als verkünde sie Wahrheit direkt aus dem Unterricht der religiösen Sonntagsschulen, die aber nur den politischen Wählerwillen statistisch erkundet, indem sie jetzt zur Entscheidung stellt, was viel später wirklich beschlossen wird, veranlasst Parteien und Protagonisten, verführt durch den Irrealis in der Formulierung, zu bemerkenswerter Realitätsverweigerung. „Was wäre, wenn“ das Parlament zur Neuaufstellung stünde, dieses Gedankenspiel ruft die Schönfärber desaströser Lagen auf, wie die Warner, das aktuelle, rosarote Stimmungsbild nicht schon als den Erfolg selber zu buchen. Alles könne noch anders kommen, heißt es in Übereinstimmung mit der trivialsten Einsicht in das, was Zukunft bedeutet. Wie wahr. Verdrängt wird das Maß des Korrekturpotentials, das denen bleibt, die sich als Kandidaten haben aufstellen lassen, hier als Chance aufzuholen, dort als Drohung, noch abgestraft zu werden. Das ist oft kleiner als erhofft, manchmal befürchtet. Denn anders als der Zeithorizont vieler Politiker, der, in Wahljahren sonderlich, gerade mal zu opportunistischem Handeln im Augenblick taugt, reicht der des Wählers weit über den Moment hinaus. Dass dieser auch Monate später nicht vergisst, gehört zum Unvorstellbaren vieler, die selbst dort auf Monate hinaus nicht perspektivisch denken, wo es geboten wäre. Das Nicht-Vergessen-Können ist als Figur der langen Frist die genaue Entsprechung zu einer Strategie, nur dass diese nach vorn gerichtet ist. Deren Fehlen bleibt als Leerform im Gedächtnis. Die Erinnerung ist der Schatten des Visionären. Zu hoffen, dass am Wahltag alles sich ganz anders verhalte, mag jenseits des „Wunderwerks der Banalität“ (Georg Simmel) ein unerfüllter Wunsch bleiben von Günstlingen der Gelegenheit, die ihren eigenen Mangel an Langfristigkeit verwechseln mit der Labilität des Volks.

Kapitalverbrechen

Ob es an seiner knapp gemessenen Lebenszeit lag – John Keats, der britische Poet, wurde nur fünfundzwanzig Jahre alt; er starb 1821 –, dass er ein feines Gespür besaß für vertane Tage? An seinen Bruder George und dessen Frau Georgiana schrieb er im Mai 1819. „Was für ein Unterschied zwischen behaglichem und unbehaglichem Nichtstun! Einen müßigen Tag, selbst wenn er mit unerfreulichen Gedanken ausgefüllt ist, kann man, wenn man allein ist, aushalten und sogar angenehm finden, und die Erfahrung hat uns gelehrt, daß Ortswechsel noch keine Veränderung ist. Aber nichts zu tun zu haben und umgeben sein von unangenehmen Wesenheiten, die einen grade bedrücken, daß sie einen von ungestörter Muße abhalten – jedoch nicht so, um einen zu interessieren und anzuregen, das ist eine Kapitalstrafe für ein Kapitalverbrechen. Denn ist es nicht ein Kapitalverbrechen, wenn man seine Zeit für Leute opfert, die weder Licht noch Schatten haben?“ Der Dichter erzählte im Brief von einer Einladung zum Lunch, die er besser wohl ausgeschlagen gehabt hätte. Aus manchen wohlgemeinten Begegnungen kehrt man nach Hause zurück, als habe man sich mit einer lähmenden Krankheit infiziert. Denn das Nichts dehnte sich auch auf den folgenden Tag aus: „Ich weiß nicht, was ich Montag machte  – nichts – nichts – nichts – ach wäre das doch etwas Besonderes!“* Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Muße und Müßiggang, dass die Muße jederzeit beendet werden kann, wohingegen man sich vom Müßiggang und seiner Langeweile nur unter Anstrengungen zu befreien vermag.

* John Keats, Gedichte und Briefe, 337