Kategorie: Allgemein

Denn sie wissen nicht, was sie tun

Theorie: das Denken will sein eigener Interpret sein. Wie in der Kunst, wo der Schöpfer der schlechteste Deuter seines Werks ist, dient das nicht immer, die Sache angemessen zu verstehen.

Geben Sie Gedankenfreiheit

Die Gedanken sind frei – wenn man sie laufen lässt. 

Gesunder Egoismus

Was unter den Therapeuten ein beliebtes Heilmittel ist, die paradoxe Intervention, leitet sich aus einer alten Methode ab. Schon die frühen Buschmänner haben das Feuer gelöscht, indem sie einen Brand legten. Die Sache ist umstritten, weil sie nicht leicht zu kontrollieren ist, aber sie funktioniert oft. Ob sich im Zusammenleben der Menschen gerade Ähnliches ereignet? Es scheint, dass sich die Neidgesellschaft, so es sie je gegeben hat, wandelt. Die Missgunst scheint keine so große Rolle mehr zu spielen in dem Maße, wie der Blick auf den anderen durch die weit verbreitete Nabelschau abgelöst wird. Wo das Selfie als Statusbild reicht, ist der abschätzige Blick auf den Nächsten nicht mehr nötig. Ein Laster wird durch ein anderes bekämpft; der Narzissmus lässt den Neid verschwinden. Oder hat sich nur der Zwang, zu vergleichen, einen anderen Ausdruck gesucht? Über den Neid am Abend mehr: im Gespräch mit Jürgen Wiebicke, dem Moderator der Sendung „Das philosophische Radio“ in WDR 5.

Die neuen Siebensachen

Anderthalb Jahrtausende ist es her, dass sich die fromme Welt auf sieben – ja, was: Eigenschaften, Charakterschwächen, Gefühle, Fehlhaltungen, Zwänge, Lüste geeinigt hat, um ihre wichtigsten unmoralischen Gegner zu beschreiben. Sie nannte sie die Todsünden und zählte darunter die Wollust, den Zorn, den Geiz, den Neid, die Völlerei, den Hochmut und die Trägheit. Nicht, dass uns das Böse in diesen Formen nicht mehr bekannt wäre: Auch wir Zeitgenossen leiden an ihnen oder genießen sie, und wissen zweifellos um ihren zwiespältigen Reiz. Aber sind sie noch die Hauptlaster dieser Tage? Wo bleiben die Wurstigkeit und die Verlogenheit, die Seichtheit oder die Dreistigkeit? Fehlen nur noch drei, um dem alten Zahlenzauber aktuell zu entsprechen: Man sollte wohl auch die Unbelehrbarkeit darunter zählen, die Zahlengläubigkeit und die Schaumschlägerei. Wie sagte einst der große Grafiker Heinz Edelmann: Wenn der Teufel einen Namen hat, dann heißt er heute – Marketing.

Arbeitsmoral

Kaum fordert das neue Projekt im Job nicht mehr jeden Tag die letzten Kräfte und schlaflose Nächte, setzen die ersten Existenzsorgen ein, nur weil man regelmäßig eine Stunde weniger arbeiten muss. Zur Deformation der modernen Arbeitswelt zählt, dass der Manager den Druck, den er angesichts seiner zahlreichen Aufgaben verspürt, nach deren pünktlicher Erledigung eintauscht gegen das Stressgefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.

Wo ist, was nicht da ist?

Sentimentalität: die schönste Form, in der Vergangenes gegenwärtig ist.

Die Nüchternheit der Verantwortung

Der amerikanische Schriftsteller Delmore Schwartz, zu dessen Studenten der spätere Sänger Lou Reed zählte, betitelte sein erstes Buch mit einer wunderbaren Formel. Es heißt „In Träumen beginnen Verantwortlichkeiten“. Doch deren dichterische Schönheit macht die Sache nicht richtig. Es kann nicht sein, dass in der Gesetzesfreiheit reiner Gedankenbilder schon moralische Verpflichtungen stecken, auf die sich jedermann nach Belieben berufen könnte. Umgekehrt allerdings gilt der Satz allemal: In der Verantwortung hört die Träumerei auf.

Kostenproblem

Versuch über die Versuchung: Es ist ein Irrtum zu meinen, dass es nichts kostet, wenn man nur kostet.

Beim Sünder nascht man gesünder: In Bad Homburg wird mit dem Kauf der Süßware das gute Gewissen mitgeliefert

Beim Sünder nascht man gesünder: In Bad Homburg wird mit dem Kauf der Süßware das gute Gewissen geliefert

Alles eine Frage der Perspektive

Aus der Sicht derer, die sich auf Sachzwänge berufen, weil sie in ihnen gefangen sind, ist der freie Geist stets maßlos und arrogant.

Und versuche, uns nicht zu führen

Von allen Bitten des großen Gebets ist jene die rätselhafteste, die fürchtet, in Versuchung geführt zu werden, und darum ersucht, dass dies nicht geschehe. Was wäre das für ein Vater, der durch gutes Zureden erst davon abgehalten werden muss, seine Kinder auf attraktive, aber verhängnisvolle Abwege zu locken? Die Umkehrung indes ist allemal leichter zu verstehen: und versuche, uns nicht zu führen. Wie viele Mächtige kommen auf den fatalen Gedanken, aus reiner Zuneigung und Freude an der Gestaltung in die Hand zu nehmen, wozu sie bestenfalls Handreichung geben sollten? Die Neigung gerade der Wohlmeinenden zu orientieren, anstatt zu zeigen, wie einer sich selber orientiert, ist groß. Es lohnt, auf diesen wichtigen Unterschied immer wieder aufmerksam zu machen, auf dass in der Sache Dezenz geübt wird.

Schlafrhythmus

Im kleinen ICE-Abteil sitzt der berühmte Pianist auf dem Weg zum nächsten Auftritt. Noch müde von seinem furiosen Konzert am Abend zuvor hat er sich die Schlafbrille über die Augen gelegt und schnarcht vernehmlich. Diesmal fällt dem Mitreisenden besonders schwer wegzuhören. Immer wieder meint er, im Röcheln den Kontrapunkt zu hören, Rhythmus und Dynamiken zu erkennen. Es ist zwanghafter Quatsch, er weiß es; und doch kann er sich davon nicht lösen. Denn der Zufall wollte, dass er gerade noch der Kunst der Fuge gelauscht hatte, die der Meisterspieler so streng und klar interpretiert. Und von deren Komponisten Bach der Klavierkünstler einst gesagt hatte, dass er ihn anrege, breit zu atmen.

Falsches Versprechen

Es ist wie bei den „bügelfreien“ Hemden, die aus der Waschmaschine nie ohne Knitter gezogen werden. Der sicherste Hinweis auf einen schwierigen Charakter ist der treuherzige Satz: „Ich bin ganz pflegeleicht.“

Fernbeziehung

In jenen Momenten, da sie das tun, was das Nächstliegende ist zwischen Mann und Frau, blicken sie einander an mit Augen, die irgendwohin ins Allerfernste schweifen. Der Mensch ist ein endliches Wesen mit unendlichen Sehnsüchten.

Ich mache nur meinen Job

Der schlechte Leumund, der den Sekundärtugenden seit Jahr und Tag anhaftet, rührt aus der Erfahrung, dass einer fleißig sein kann oder ehrlich, pünktlich und höflich, ohne im mindesten eine Persönlichkeit zu haben, die mit Fug zuverlässig genannt zu werden verdiente. So einer macht halt seinen Job, auch im Moralischen. Allerdings hat die Diskreditierung dieser Anstandsformen die Verlegenheit hervorgebracht, nun unterhalb der sittsamen Oberfläche herausfinden zu wollen, wie einer sich wirklich versteht, ob ihm Vertrauenswürdigkeit attestiert werden kann oder Verlogenheit nachgesagt werden muss. Seit die bürgerlichen Werte unter Generalverdacht stehen, richtet sich die Suche daher auf so unspezifische Eigenschaften wie Authentizität, Betroffenheit oder typische Charaktermerkmale eines Menschen. Mit welchem Erfolg? Dass sie da nichts Gewisses findet. Wer gleich ins Tiefe will, versinkt allzu häufig in Untiefen. Haltungen zeigen sich nicht als Haltung, sondern stets in Gesten. Die freilich können missdeutet und missbraucht werden. Wahrscheinlich gibt es richtiges Leben kaum anders als im falschen.

Blindtext

Das Grundgesetz der Erkenntnis: Mehr sehen heißt Abstand nehmen.

Sehtest für Konstruktivisten: Zuletzt schaut einen an, was man hineingedeutet hat

Sehtest für Konstruktivisten: Zuletzt schaut einen an, was man hineingedeutet hat

Glücklich ist, wer vergisst

Das Glück und die Zeit: keine erbauliche Verbindung. Es will Ewigkeit und kommt über den Moment kaum hinaus. Sie ist von Dauer, aber nur weil sie deren Bedingung fortwährend zerstört. Der Glückliche vergisst die Zeit; die Zeit nagt am Glück. Also das Jetzt genießen? Ohne Reue, die in die Vergangenheit zwingt, ohne Sorge, die sich der Zukunft bemächtigen will? Am Ende kommt da nicht nur die Zeit zu kurz oder das Glück, sondern vor allem der Mensch. Der Mensch ist das Tier, das den Augenblick nicht erleben kann, ohne an Gestern zu denken und auf Morgen zu hoffen.

Augenblicksglück: Mit der Zeit sammeln sich die gelungenen Momente in der Rumpelkammer des Lebens und nähren das innere Chaos

Augenblicksglück: Mit der Zeit sammeln sich die gelungenen Momente in der Rumpelkammer des Lebens und nähren das innere Chaos

Befreiungsakt

Viel weniger als gemeinhin angenommen steckt in dem Drang, Geschriebenes zu veröffentlichen, das Bedürfnis nach Selbstdarstellung. Man unterschätze nicht den Wunsch, sich vom Eigenen zu befreien. Einmal publiziert, muss sich der Autor mit seinen Gedanken und der Form, die er ihnen gegeben hat, nicht mehr selber auseinandersetzen. Er kann fortan anderen überlassen, die Sache weiter zu verfolgen, zu verbessern oder zu vergessen.

Sachbuch des Monats

Freude, Dank und zehn Schnipsel aus der Konfettikanone: Die „Tagesrationen“ landen auf der Liste der zehn besten Sachbücher des Monats März, die der NDR mit der „Süddeutschen Zeitung“ herausgibt.

Kunsterziehung

Fast jeder Künstler hat Schwierigkeiten, es in einer Institution oder mit ihr auszuhalten. Doch das Missvergnügen an fremden Regeln reicht nicht. Er muss es geschafft haben, selber als Institution anerkannt zu werden. Bei allen negativen Kräften, die sie voraussetzt, ist Kunst am Ende immer Bejahung.

Deutsch als Fremdsprache

Nirgends wird deutlicher als am Dialekt, dass der Preis für Verständigung ist, andernorts unverständlich zu sein.

Wattän dattän?

Wattän dattän?

Die Sprache als Gesprächspartner

Die Buchkritik von Philip Kovce zu den „Tagesrationen“ in SWR 2

Copyright SWR 2

Na dann, gute Nacht

Mancher findet keinen Schlaf, weil er übervoll von Tagesbildern zu immer neuen Gedankenausflügen aufbricht. Ein anderer kommt nicht zur Ruhe, weil er mangels erlebter Welt die eigene Leere fürchtet. Die Nacht tut wohl dem, der zwischen Wirklichkeitsreichtum und Realitätsarmut das rechte Maß getroffen hat.

Grundsatzentscheidung

Politik: die Übersetzung eines Problems in eine Verfahrensfrage.

Illustrationen Heinz Edelmann

Illustrationen Heinz Edelmann

Zerstörungslust

Vor der Mülltonne steht der Nachbar und zerreißt konzentriert einen beachtlichen Aktenstapel. „Frühjahrsputz?“ fragt ihn der Passant, der ihn bei seinem Treiben schon eine Weile beobachtet hat. Die ersten milden Temperaturen des Jahrs locken die Menschen wieder ins Freie. „Nein. Ich habe es mit den Altlasten nur nicht mehr ausgehalten. Sie mussten raus. Auch die Dinge haben einen Todestrieb.“ Achselzuckend geht der neugierige Frager weiter. Er weiß nicht, dass der Nachbar als Psychoanalytiker arbeitet und das Aufräumen als eine Sache ansieht, die jenseits des Lustprinzips angesiedelt ist.