In der Krise

Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass auch eine unscheinbare Entscheidung gravierende Folgen zeitigt, die Möglichkeit aber zu zögern ausgeschlossen ist, da die Konsequenzen oft noch einschneidender sind. Anders: Es ist schwer, in solchen Phasen der Gefährdung Entschlüsse zu fassen, die am Ende eher größere Spielräume öffnen, als das Optionenfeld zu verengen. Und doch ist es unbedingt nötigt, die Handlungsauswahl gerade an der Vielzahl der erlaubten Anschlussaktionen zu messen.

Splendid Isolation

Für jemanden, der immer nur an sich gedacht und „sein Ding“ gemacht hat, ist die Bestrafung durch Isolation nur die verkehrte Bestätigung, richtig gehandelt zu haben. Es gibt eine Form der Anerkennung, die genau darin besteht, dass man sie verweigert.

Glaubwürdig

In den Ostergeschichten wird der Glaube der Enttäuschten entzündet durch Gesten der Vertrautheit, nicht durch ein glorifiziertes Wunder, das Staunen und Anbetung erregt: durch die allbekannte Stimme, die Maria ihren Namen sprechen hört, durchs Brotbrechen bei der Tischgemeinschaft in Emmaus, durch die erhellende Auslegung von oft vernommenen, traditionellen Texten, die sich als Weissagung auftun, durch sinnfällige Berührung der geschlagenen Wunden, beim geglückten Fischfang. Alles neu machen bedeutet im Testament: dasselbe noch einmal ganz anders sehen und leben zu können. Das könnte als Bedingung gelten für die Lebendigkeit des Lebens.

Sich der Freude nicht schämen

In Zeiten und an Orten, in denen Schrecken, Elend und Leid so erdrückend vorherrschen, dass Schönes zu sehen und zu sagen, leicht taktlos wirkt oder peinlich berührt, kann Freude, die das Leben feiert, nicht laut sein. Aber sie vermag in ihrer absichtslosen Diskretion, wenn sie nicht vergisst, dass sie aus der Überwindung und Befreiung ihre Kraft zieht, zu trösten. Vielleicht ist das der Sinn von Freude, wörtlich: der Frohsinn, überhaupt: Halt zu schenken und Stärke zu verleihen, eine, die unterschiedslos allen gewährt wird. So sagt es der, von dem das Testament berichtet, dass er die Macht hat zu versöhnen: „Ich lebe und Ihr sollt auch leben.“ (Joh. 14, 19)

Drohung oder Versprechen

Zu jeder wirkungsvollen Drohung gehört das Doppelspiel mit Ungewissheit und Sicherheit: Was geschehen wird, soll weitgehend offenbleiben – „unvorhersehbare Konsequenzen“ –, solange nur eindeutig bestimmt ist, wann es zu geschehen hat. Das Gegenläufige funktioniert aber auch: dass die Kampfansage die Folgen präzise beschreibt, ohne genau zu sagen, zu welchem Zeitpunkt sie eintreten werden. Der Reiz auszutesten, wo die Grenze zum Eingriff liegt, wächst in dem Maße, wie beides klar benannt oder beides im Ungefähren gehalten wird, hier die Probe auf die Stringenz zwischen Wort und Tat, dort die Provokation der noch verborgenen Entschlossenheit. Wichtig ist nur die Abhängigkeit vom eigenen Verhalten, das letztlich entscheidet, ob die Andeutung übersetzt wird in die Aktion. Beim Versprechen ist es umgekehrt: Es operiert zweifach mit Gewissheit und signalisiert Festigkeit vor allem im Inhalt wie in der Zuverlässigkeit der eigenen Absichten. Nur dass unsicher bleiben muss, ob der Gang der Dinge das wirklich zulassen wird. Drohung und Versprechen fordern beide den Glauben heraus, der sich als Furcht artikulieren wie als Vorfreude zeigen kann.

Selbstaufgabe

Kapitulation steht in keinem guten Ruf, wenn es darum geht, eine erbittert geführte Auseinandersetzung zu beschwichtigen. Sie steht im Verdacht, vor dem gewaltigen Anspruch der Selbstbehauptung feige eingeknickt zu sein. Der Doppelsinn von Aufgabe, lösen zu müssen, was ansteht (mir ist aufgegeben), und daran zu scheitern (ich gebe auf), spiegelt aber wider, dass es sich nicht nur um den Verzicht handelt, das Eigene ins Zentrum des Tuns rücken zu müssen. Aufgeben bedeutet, die Würde des selbstbestimmt Agierenden gerade in dem Augenblick sichtbar werden zu lassen, in dem sie am meisten bedroht ist. Es ist der Übergang ins Leiden, der Wechsel ins pure Passiv, der ansteht, und der nun vermieden wird, indem ein Mensch es vorzieht, das Ende zu setzen, bevor es ihm gesetzt wird. Für einen Moment blendet er aus, dass nichts dabei seiner Intention entspricht, dass hier kein Raum mehr für die eigenen Wünsche vorhanden ist. Fast möchte man sagen, er handelte, als ob… Denn wer aufgibt, spürt die Unausweichlichkeit eines Zwangs. Und doch erinnert er sich ausgerechnet jetzt seiner Freiheit, die er noch einmal der Notwendigkeit dessen, was ohnehin geschehen wird, erschöpft triumphierend entgegen hält. Auch das Wort „Passion“, der an diesem Karfreitag gedacht wird, übernimmt diese zweifache Bedeutung, Leiden und Leidenschaft zu sein, passiv und aktiv zugleich. Seltsam, dass die deutsche Sprache diesen kleinen Stolz abbildet, indem sie eine Verwandtschaft zwischen der Resignation und der Initiation entdeckt. „Aufgabe“ meint beides: Ende und Anfang, ablassen und anpacken. Dass Gott, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann*, sich selbst aufgibt (über das hinaus Geringeres nicht geschehen kann), um so zu retten, was zu retten ist, mag die Ungeheuerlichkeit dessen anzeigen, was im Tod Jesu auf dem Spiel steht. Dem Bösen wird die Macht genommen, mit dem Letzten drohen zu können: der Vernichtung – auch wenn es immer noch die Macht hat, es auszurichten. Auferstehung ist der Gewinn einer Freiheit, die nicht mehr gezwungen ist, Angst haben zu müssen.

* Siehe Anselm von Canterbury, Proslogion, II

Mit-Teilung

Es ist eines der weltumspannenden, einsichtsfordernden Gesetze, das die Geschichte vom letzten Abendmahl durchzieht: dass ein Miteinander vor allem von Hingabe und Teilen gehalten wird. Die Passionsgeschichten, die mit dem Abschiedsessen in ihre ernste Phase treten, sind tiefe Lehrstücke über die ungemessene Größe und den leidvollen Variantenreichtum einer Liebe, der Gottes zum Menschen.

Stattdessen

Etwas für etwas anderes zu nehmen, ist die Fähigkeit von Vernunftwesen, die nicht nur gelernt haben, Ersatzwirkungen zu erzeugen oder zu akzeptieren, sondern im Stattdessen den höchsten Ausdruck ihres Freiheitsniveaus zu identifizieren. Der Mensch ist das symbolische Tier. Er vermag Zeichen zu setzen und zu deuten, mit Fingerzeigen Handlungen zu ersetzen oder anzudeuten. Das Geschenk nimmt er als Form der Zuneigung, den Gruß als Signal eines Interesses, der Sieg im Spiel gleicht dem Akt der Übermächtigung. Solche Gesten sind umso wichtiger, je unmittelbarer und eindeutiger eine Zeit nach Einschnitten und Einschreiten ruft. Politik ist ein Symbolsystem, auch wenn sie sich nicht erschöpfen kann in Ersatzhandlungen. Ihr Medium ist die Rede und das Gespräch. Das zu verweigern, macht eine Sache, ein Verhältnis zwar nicht eindeutiger, aber gefährlicher. Wer auf Sinnbilder verzichtet, verbaut Auswege.

Zerstörungswut

Es ist Zeit, ein Wort aus dem mythischen Vokabelschatz hervorzuholen, das – zwar nicht in Vergessenheit gerät, aber – unter den Verdrängungsobjekten vorn steht: das Böse. Böse ist eine Sache immer dann, wenn die Zerstörung kein Ziel kennt als sich selbst.* Wenn alle Zwecke schale Erfindungen sind, die maskieren sollen, was einzig zur Befriedigung des Drangs, grausam zu sein, treibt: die unmittelbare Lust an der Vernichtung. Nie ist Menschsein stärker in Frage gestellt, politisch wie moralisch, strukturell wie strategisch, als in solchen Momenten. Es sind die Augenblicke, in denen die Geschichte ein Urteil spricht.

* Siehe die acht Diskurse über das Böse des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski: Gespräche mit dem Teufel, 74f.

Du kannst mir ruhig näher kommen

Vieles lässt sich in einer Beziehung klären, wenn zwei Fragen – eine nach dem Raum, die andere nach der Zeit – ehrlich beantwortet werden: Wie nah? Und das wie lang?

Recht menschlich

Man kann von Menschlichkeit sinnvoll nur reden, wenn man von ihrem Talent zur Unmenschlichkeit sprechen gelernt hat. Das Recht ist eine geniale Erfindung, die das Misstrauen in die naive Humanität und die unmittelbare Enttäuschung über Nebenmenschen nicht zum Anlass genommen hat, aufeinander loszugehen, sondern die Bedingungen formuliert, unter denen es gelingen kann, miteinander auszukommen.

Chirurgisch

Die zynisch geschönte Vorstellung, die sich in der Wendung „chirurgische Kriegsführung“ ein Bild bastelt von einer militärischen Auseinandersetzung ohne Schäden in der Zivilbevölkerung, bereitet dennoch vor, was künftig denkbar ist: Gewalt, die nicht sichtbar ist, Zerstörung, die symbolisch wirkt, Überwindung durch Drohung, Waffen, deren Überlegenheit darin besteht, dass der Gegner sie nicht versteht, der Verzicht auf Frontlinien, die Vernichtung des Aggressors, nur indem seine zentralen Figuren ausgeschaltet werden. Der herrschende Krieg erscheint wie ein letztes nihilistisches Aufbäumen des Zeitalters der Explosion, in dem Autos mit Verbrennungsmotoren gebaut und die Wahnsinnswirkung von Wasserstoffbomben getestet wurden. Vom medialen Talent des Verteidigers abgesehen ist dieser Flächenkonflikt mit seinen Gräueln so entsetzlich wie aus der Zeit gefallen. Die vielbeschworene Zeitenwende stellt er selber nicht dar; er mag sie ankündigen. Künftige Kriege machen nicht mehr dem Erdboden gleich, was eine digitale Industrie im stellvertretenden Sprachbild fast sentimental „bricks & mortar“ nennt. Sie schalten aus und schalten ab.

Nach dem Ende einer Beziehung

Fundstück unter den Schreibfehlern. Da hat die Sprache einem intimen Gefühlsmix aus Enttäuschung und Verletzung, Zuneigung und Abschied einen zarten Ausdruck geschenkt: Vertrauern.

Trotz und Trost

Es wäre nicht Hoffnung, wenn sich eine Erwartung nicht darauf richtete, dass sich die obwaltenden Zustände verbessern. Hoffnung ist jene Form der Zuversicht, die sich kaum zufriedengibt mit einer Zusage, sondern voller Ungeduld ins Handeln, in die Veränderung drängt, wohl wissend, dass Tat, Verantwortung, die Auflehnung gegen Fakten noch leicht angekränkelt sind von der lähmenden Ohnmacht, aus der sie erwachsen. Hoffnung ist der tröstliche Trotz der Optimisten.

Selbstkontrolle

Es stimmt schon, dass Freiheit und Kontrolle sich weitgehend ausschließen. Sie ist vielmehr die treueste Verbündete des Vertrauens. Aber an einer entscheidenden Stelle kommt für sie alles darauf an, die Sache fest im Griff zu halten: Freiheit ohne Selbstkontrolle verliert sich selbst. Und heißt: Willkür.

Was möglich gewesen wäre

Das Drängen auf Klarheit und Eindeutigkeit bedeutet immer das Ende von dem, was noch möglich gewesen wäre.

Von Mensch zu Mensch

Seit alters gibt es kein größeres Entsetzen als das, was Menschen erfasst, wenn sie entdecken, dass Menschen einander Unfassbares antun können, und dabei erkennen müssen, wozu sie prinzipiell selber fähig wären. Nietzsche hat das berühmte Chorlied* der antiken Tragödie in die moderne Bodenlosigkeit übersetzt und den Blick als den urmenschlichen Akt, in dem wir uns offenbaren, in seiner abgründigen Tiefe vorgestellt: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“**

„Ungeheuer ist vieles, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, singt der Chor in Sophokles‘ Antigone (V. 332)
** Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 146

Strafmaß

Wenn Barbarei und hemmungslose Brutalität das Handeln bestimmen, erscheint kein Strafmaß der zivilisierten Welt so hoch, dass es ausreichte, das Sühneverlangen zu befriedigen. Und doch will Strafe die reflektierte Reaktion auf die Einsicht sein, dass Rachekreisläufe unterbrochen werden müssen, um eine Gesellschaft lebensfähig zu halten. Wohin mit dem Überschuss an Zorn, dem herzzerreißenden Schmerz der Verzweiflung, dem grenzenlosen Leid am Ungeheuren? Es gibt keine befriedende Antwort, nicht einmal in der Geste großen Mitleids, der Weltsolidarität. Aber die Ahnung keimt auf, dass solcherart Gewalt nur endet, wo sie sich entweder über zerstörerische Folgen von Gegengewalt selber erschöpft oder in einem so unwahrscheinlichen Akt von maßloser Vergebung aufgehoben sieht, dass er auch die größte Reue noch beschämt.

Dienstverhältnisse

Man kann Glaubwürdigkeit nur erlangen, indem man den Worten so dient, dass sie der Wirklichkeit dienen, die sie wiedergeben. In jedem Anspruch zu sagen, was Sache ist, steckt eine latente Fälschungsintention, schon gar, wenn er gebunden ist an die politische Macht, solche Sachen selber zu gestalten und zu verändern. Der hartnäckige Respekt vor einer Sprache, die ihre Ausdruckskraft nicht instrumentalisiert, um Weltlagen zu beschönigen oder Konfliktlagen coram publico verlogen zu beschwichtigen, zeigt unmittelbar ein Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung, das dem Ringen um Worte und dem Kampf um Klarheit stets den Vorrang einräumt vor der Präsentation von floskelhaften Scheinlösungen. Der Ernst herrscht über den Effekt.

Lass uns das ausräumen

Gelegentlich muss im Leben Ordnung geschaffen werden wie in den Räumen, in denen es seine Spuren wild hinterlassen hat. Nur dass man sich hier von lästigen Dingen trennt und dort Beziehungen sortiert. Ordnung ist der Name dafür, dass nicht alles aufgeräumt werden kann, sondern einiges auch ausgeräumt werden muss. Sie setzt ein, wenn Freiheit für einen Augenblick den Status wiedererlangt hat, Neues anzufangen.

Verhandlungssicherheit

Das größte Problem in Verhandlungen ist nicht, die Position des Gegners zu überwinden, sondern das eigene Misstrauen in dessen Absichten. Jedes Ergebnis, in das beide Parteien eingewilligt haben, ist nur in dem Maße tragfähig, wie geglaubt wird, dass sich alle an die Vereinbarungen halten. In keiner anderen Dialogform zeigt sich das Verhältnis von Wort und Tat so fragil wie in einem klärenden Verfahren, das einen Konflikt zu schlichten beabsichtigt. Weniger als der erzielte Kompromiss entscheidet über den Erfolg, ob sich an ihn eine vertrauensvolle Kommunikation anschließen lässt. Verhandlungen loten stets aus, was jenseits von ihnen noch geht. Sie enden mit einem Anfang.

Anleitung zum Klugsein

Kenntnis ist noch keine Garantie, klug zu sein. Man kann auch aus Erfahrung dumm werden. Und nicht zuletzt mangels Erfahrung überlegt handeln und verständig überlegen.

Gleichgewicht der Kräfte

Das Glück in der Liebe ist ein Gleichgewicht der Kräfte, durch die sie sich lebendig erhält. Dass einer mehr liebt als der andere, dass eine größere Sehnsucht verspürt nach Nähe, dass dieser schweigt, wo jene reden will, dass hier Gemeinsamkeit die unfragliche Voraussetzung ist, selbstständig Interessen zu verfolgen, und dort sich der Zusammenhalt erst bildet aus der Freiheit von Eigenwilligkeit, dass ihr Andeutungen laut genug erscheinen und ihn Klarheit und Logik leiten in seiner Kommunikation …, all diese Nuancen und Differenzen bereichern und gefährden Beziehungen im selben Maße. Gleichgewicht der Kräfte bedeutet, überall dort, wo das Risiko lauert, einen immer noch größeren Vorteil für das Gemeinschaftliche entdecken zu können.

Ratlose Berater

Der letzte Schritt in einem Beratungsverhältnis ist stets der des Klienten. Nur wenn er gelingt, waren Gespräch oder Hilfe, Empfehlung wie Analyse sinnvoll und wertvoll. Mit ihm gerät der Einfluss an eine unüberwindliche Grenze, an der sich entscheidet, ob Entschlüsse und deren Folgen fremd erscheinen, Einsichten hohl, Lebensweisen erfüllt, Erfolge zwangsläufig. Dieser letzte Schritt heißt Aneignung und nicht: Übernahme. Er bedeutet, dass der Rat verwandelt wird in eine Ausdrucksform der eigenen Persönlichkeit, die sichtbar selbstverständlich ist, weil verstanden, wie sich in biographische oder unternehmerische Zusammenhänge einfügen lässt, was von außen zugetragen und beigetragen wurde.