Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht

Eine der wichtigsten Alltagsstrategien ist die Unterscheidung zwischen Person und Sache. Sachen sachlich zu nehmen, schützt davor, von ihnen seelisch allzu belästigt zu werden. Personen sachlich anzusehen, ist die Voraussetzung, sie einigermaßen gerecht zu behandeln. Sachen persönlich aufzufassen, ist oft der Anfangspunkt von Engagement. Und mit Personen eine persönliche Beziehung aufzubauen, setzt diese Grunddifferenz ins Elitäre: Man sucht sich  besondere Menschen, mit denen man mehr teilen will als die Sache. Schwierig wird die ungeplante und ungewollte Vermengung der Sphären. Gerade in der Erfahrung, dass so manche Sache einen sehr persönlich trifft und dass es Kraft kostet, sich davon zu befreien, wiederholen wir das, was in frühen, auch biographisch jungen Phasen als magisches Denken bekannt ist: zu glauben, dass von den Gegenständen (auch Gesprächsgegenständen) ein, gelegentlich unguter Zauber ausginge.

Die ideale Zeitung

„Eine Zeitung muss das Werk einer Gesellschaft von Gelehrten sein … Aber es genügt nicht, wenn ein Journalist Kenntnisse besitzt; er muss auch gerecht sein: denn ohne diese Eigenschaften wird er mittelmäßige Erzeugnisse verhimmeln & die herabsetzen, denen er sein Lob hätte vorbehalten sollen.“* Das zeichnet den Sachkundigen aus, dass er nicht nur weiß, sondern vor allem einzuordnen weiß. Kenntnis ohne Urteilskraft ist unkritisch; Urteilskraft ohne Kenntnis ungerecht.

* Denis Diderot, Art. Journalist, in: Die Welt der Encyclopédie, 186

Schnell erledigt

Daniel Barenboim erzählt, dass er von Mozart gelernt habe, dass man in der Welt nicht alles so wahnsinnig ernstnehmen solle.* Es habe jede Situation, auch die hässlichste, eine leichte Seite. Diese Einstellung zum Leben spiegele sich wider in der Musik des Wiener Komponisten, in der unmittelbar deutlich ist, was seine Zeit braucht und was keinerlei Aufschub duldet. Der Hörer so mancher Symphonie fühlt sich erinnert an schnelle Passagen, die vor allem deren Interpreten herausfordern: der eine spielt sie hastig und verschleift die Töne, beim anderen klingt das Stück brillant und klar. Eine Sache leicht zu nehmen, bedeutete also gerade nicht, sie schludrig zu erledigen, sondern an ihrem Tempo die Ernsthaftigkeit der eigenen Virtuosität zu erproben.

* Vgl. Daniel Barenboim, Klang ist Leben. Die Macht der Musik, 145

Auf die lange Bank

Das Unangenehme wird genau so lang nicht erledigt, bis das nächste noch Unerfreulichere eingetroffen ist, dem gleich generös Verschleppung verordnet wird. Auch wenn die Bank lang ist, auf die es geschoben ist, reicht der Platz zum fortgesetzten Prokrastinieren nicht. Und das schlechte Gewissen, Ärgerliches nicht sofort anzufassen, wird dadurch gemildert, sich wenigstens von der Mühsal befreit zu haben, die, obwohl im fernsten Winkel des Schreibtisches zwischengelagert, unterschwellig gequält hatte.

Lob des Missverstehens

Es ist das Maß des Missverstehens, das eine Beziehung bereichert, und die Tiefe des Verstehens, die sie festigt. Zu wenig hiervon, die scheinbare Klarheit in allem, das unausgesprochene Antizipieren des Gewünschten und Gemeinten lässt sie genauso verarmen, wie ein Mangel davon, Fehldeutungen, Unsicherheiten und wildes Irrlichtern das Vertrauen aushöhlt und die alltägliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem anderen verflachen lässt.

Warum? Wozu?

Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied zwischen Denken und Leben darin, dass dieses die gleichsam mechanische Anwendung der Fragen nach Grund und Zweck auf alle Dinge gelassen ignorieren kann. Solange es in Bewegung bleibt, muss es, anders als der Verstand, nicht immer wissen, woher eine Sache rührt und wohin sie tendiert. Leben heißt, dem Tiefsinn eines Warum und der Zielstrebigkeit des Wozu entgehen zu können durch schlichte Lebendigkeit.

Alles gesagt, alles gezeigt

Ein Geheimnis: das, was nicht aufgeht, auch wenn alles gesagt ist und alles gezeigt, und doch nicht ohne das Sagen und Zeigen sein kann.
Das Geheimnis schlechthin: die Liebe.
Das dunkelste Geheimnis: das Talent der Liebe zu verletzen, obwohl sich mit ihr alles heilen lässt.

Kindlich, kindisch

Es gibt ein sicheres Kennzeichen für die Unterscheidung zwischen „kindlich“ und „kindisch“: Das kindliche Gemüt behält seine Wünsche, auch wenn ihnen nicht nachgekommen wird, wohingegen das kindische die Erwartungen, die es hegt, gleich beleidigt für falsch erklärt, wenn ihnen die Erfüllung unmittelbar versagt ist.

Erzählungsbedürftig

Zu den Grundbedürfnissen menschlichen Lebens gehört auch der Hang zu erzählen und der Wunsch, Geschichten zu hören. Beides, die eigene Erfindung wie die Berichte anderer, die auch nichts anderes sind als deren Fabeleien, sind die Elemente, mit denen wir die Vorstellung von uns selbst bilden und ausbauen.

Tristesse oblige

Man sollte stets jenes Niveau an Feinfühligkeit pflegen, das Menschen daran hindert zu fragen, wie es einem gehe, weil sie sehen, dass schon diese Art neugierig mitspürender Erkundigung zu viel sein würde für den so Angesprochenen. Die Pflicht zur Rücksicht auf Traurigkeit verlangt auch das Unterscheidungsvermögen zwischen einer anlassgebundenen Verstimmung, die aufzuheben ein Gespräch über den Auslöser helfen könnte, und jener tieferen Gestimmtheit, die  sich nurmehr verstärkte durchs Reden über sie.

Grüße aus der Ferne

Freundschaft ist jene Form eines Zuhauses, die nicht an Ort und Zeit gebunden ist. Nur so kann man ganz bei sich bleiben, auch wenn man außer sich geraten ist.

Wir sollten, müssten, könnten mal …

Ginge es nach den Plänen, Wünschen und Vorhaben, die wohlmeinende Mit- und Nebenmenschen mit einem zum Jahresbeginn hegen, wäre der Terminkalender voll mit Verabredungen. Was in den vergangenen zwölf Monaten nicht geklappt hat, obwohl es mit genauso großem Getöse annonciert worden war, soll nun unbedingt nachgeholt werden. Das Zuverlässigste an solchen Ankündigungen ist deren Ritualcharakter: Je nachdrücklicher sie verlautbart werden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es zu ihrer Realisierung nie kommt. Es fehlte daher auch Entscheidendes, wenn sie schlicht ausblieben.

Mit der Welt spielen

Was wir als Naivität abtun, ist nicht selten ein Spiel mit der Wirklichkeit, die durch Unbedarftheit provoziert wird, ihre Grenzen zu zeigen. So lernen wir den Realitätssinn. Und man wird, zur Überraschung so mancher Erkenntnistheorie, sogar behaupten können, dass die Welt in der Schärfe ihre Konturen zeigt, wie ihr zunächst mit Einfalt und Offenheit begegnet wird. Naivität lässt die Welt klarer, weil widerständiger erscheinen – allerdings bedeutet das nicht nur, dass Ahnungslosigkeit bestraft, sondern auch dass Undenkbares plötzlich möglich wird.

Wende zum Guten

Das Neue im gerade angebrochenen Jahr ist keine Charaktereigenschaft, kein Wesenszug, hat nichts von einem Status, ja erreicht nicht einmal die Qualität, die eine neue Hose hat, die sie eine Zeitlang behält, bis dann der nächste Kleidungskauf das gute Stück zum Gebrauchsartikel degradiert. Mit den Wünschen am Anfang des Jahrs signalisieren wir, dass wir die Absicht haben, der Ungewissheit des Kommenden nicht nur mit Befürchtung und Risikoabwehr entgegenzutreten, sondern voller Erwartung und Interesse. Das Neue ist hier die projizierte Hoffnung auf bessere Tage.

Ausblick auf das nächste Jahr

Mut und Politik

Nicht der Souverän, das Volk, hindert die Politik, souverän zu handeln. Sondern die Angst, nicht populär genug zu sein, um wiedergewählt zu werden. Zwischen den beiden seit der Aufklärung widerstreitenden Bedeutungen dessen, was das Volk sei, die aufrechte Stimme, die Entscheidungen legitimiert, oder der Pöbel, der sich gegen das Gesetz auflehnt, hat sich der Mut derer versteckt, die aus einem einzigen Grund einst angetreten waren, sich delegieren zu lassen: dass sich etwas wandelt. Das ist die Verführung der Macht, dass sie ergriffen wird um ihrer Fähigkeit zur grundlegenden Veränderung willen, und dass sie, einmal errungen, partout eines nicht will: Destabilisierung. Der mutlose Politiker ist fast ein Pleonasmus.

Hätte, hätte, Lieferkette

„Das ist alles, was wir haben.“ So hört man es derzeit öfter in sonst gut sortierten Geschäften, vor allem dort, wo Elektronikprodukte verkauft werden. „Wenn Sie heute bestellen, können Sie damit rechnen, wahrscheinlich noch im ersten Halbjahr die Sachen zu bekommen.“ Der Kunde, der gern einer geworden wäre, wendet sich ob des Angebotsmangels frustriert ab. Aber nicht, weil ihm das Warten zu lang dauert, sondern weil bis dahin der nächste Produktzyklus vorgestellt sein wird. Lieferkettenunterbrechungen verursachen wirtschaftlichen Schaden. Zum Problem werden sie, wenn der Rhythmus der Innovationen schneller ist als die Logistik. Kaum jemand bestellt Neues, von dem er weiß, dass es am Tag der Auslieferung schon veraltet ist.

Winter Sale

Schlussverkauf, so hieß der Sale ehedem, um die Besitzlust durch erzeugte Zeitknappheit bis zum Verkaufsschluss zu steigern. Für viele ist die letzte Chance die erste, die sie ergreifen, weil in ihr sich das Gefühl des günstigen Augenblicks unmittelbar verdichtet: jetzt oder nie. Verschleiert ist stets, dass der Erwerbsgunst ein Veräußerungszwang entspricht; die neue Kollektion beansprucht Platz. Und dass die besten Sachen in den üblichen Konfektionsgrößen oft längst nicht mehr zu haben sind. Sale ist die Kunst, den Restposten als ein begehrtes Einzelstück zu deklarieren. In ihm wird die Komplexität der Seele auf das schlichteste Muster von Reiz und Reaktion reduziert.

Dazwischen

Es sind ganz und gar gegenteilige Erfahrungen, die wir mit Zwischenzuständen machen – ob wir sie als unendlich befreiend oder unendlich bedrängend erleben. Zwischen den Jahren sich in den Ohrensessel am Kaminfeuer zu fläzen und ohne Lektürepflicht vergnügt den Roman zu lesen, der unterm Weihnachtsbaum gelegen hat, unterscheidet sich fundamental von der nervösen Unruhe  einer Vorentscheidungsphase, solange man zwischen den Stühlen sitzt. Woran das liegt, dass das Zwischen so unterschiedlich wahrgenommen wird? Sobald es sich ausdifferenziert hat, zeigt sich eine Tendenz: hier das Sowohl-als-auch, dort das Entweder-oder. Dessen Nähe zum Weder-noch ist deutlich größer.

Das Original aller Feste

„Sollen aber Feste sein und ist der erste Ursprung des Christentums für etwas Großes und Wichtiges zu achten, so kann niemand leugnen, daß dieses Fest der Weihnacht ein bewundernswürdiges Fest ist; so vollkommen erreicht es seinen Zweck und unter so schwierigen Bedingungen. Denn, wenn man sagen wollte, dies Andenken werde weit mehr durch die Schrift erhalten und durch den Unterricht im Christentum überhaupt als durch das Fest, so möchte ich dieses leugnen … Ja, soviel kräftiger ist die Handlung als das Wort, daß nicht selten aus festlichen Handlungen, deren wahre Bedeutung verloren gegangen, falsche Geschichten sind erdichtet worden, nie aber umgekehrt.“*

* Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, 63ff.

Geschenkartikel

Das schönere Geschenk ist die Beziehung, die sich in ihm zur Darstellung bringt.

Der Erlöser

In der Vorstellung vom Erlöser anerkennt die Welt, dass sie die Erfahrung macht, sich mit selbstgeschaffenen Problemen immer wieder heillos zu überfordern. Sie ist der schwierige Demutsgestus, der die Erfahrung einer beschränkten Lösungskompetenz teilt, die gerade einmal nur so weit reicht, wie die neu entstandenen Fragen das, was sie hervorgerufen hat, nicht mehr als sinnvolle Antwort auf die alten erscheinen lassen. Und die unter diesen Fragen einige entdeckt, die sie nie hat loswerden können. Wittgensteins Satz aus dem „Tractatus“: „Die Lösung des Problem des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems“ (6.521) ist, auf blasser weihnachtlicher Spur, eine irreführende Notiz. Denn das Verschwinden solcher defizitären Erscheinungsformen wie eines Problems zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man es nicht merkt, weshalb ja auch meist nicht genau gesagt werden kann, was es ausgelöst hat. Auffällig wird nur das Erstaunen, plötzlich erleichtert zu sein, nichts zu vermissen von dem, was sich aufgelöst hat in Wohlgefallen, die einsetzende, gelegentlich unbändige Freude. Der Aufforderung zu erklären, wie das genau gekommen sei, lässt sich nicht entsprechen, außer durch die Erzählung einer Geschichte, in deren Zentrum weniger das Ereignis selbst, sondern dessen Begleiterscheinungen und Deutungen stehen. Lukas, in seinem Weihnachtsevangelium, war ein Meister einer solchen Berichtsform, die dem Unscheinbaren den prominentesten Platz einräumt. Und die dem bedürftigen Imperativ „Erklär’s mir!“ die einladende Gegenfrage beigesellt: „Kannst du das glauben?“

Nichts sagen ist nicht nichtssagend

In jedem Schweigen lauert das Unheimliche. Wer sich aus dem Gespräch zurückzieht, klärt nicht auf, ob er schweigt, weil er meint, dass man einander nichts sagen muss – die Vorstellung totaler Einigkeit –, oder weil er denkt, dass man einander nichts mehr zu sagen hat – das Szenario totaler Uneinigkeit. Nichts sagen ist nicht nichtssagend.

Systemausfall

Die Paradoxie des Systemausfalls ist, dass man die Verbindungen kappen muss, wenn ein Virus das Ganze bedroht, um das Eigene vor ihm zu schützen. Und dass dieser allfällige Schnitt durch die weitverzweigte Vernetzung genau das bewirkt, was vermieden werden soll: den Systemausfall.