Spaltpilz

Eine Gesellschaft, eine politische Institution ist in dem Maße gespalten, wie sie mit ihren eigenen Unterschieden nicht versöhnlich umzugehen vermag. Das Reden von Einheit und Gleichheit ist verlogen, wenn es nicht zugleich akzeptiert, dass jeder stabilen Gemeinschaft die Verschiedenheit nicht nur vorausliegt, die am Ende zu überwinden sei, sondern dass sie das Grundprinzip eines lebendigen Miteinanders darstellt. Früher hat man diese Fähigkeit zur Versöhnung „Geist“ genannt.

Lieben und Leiden

Was Liebe meint, erschöpft sich für einige im Wunsch, lieber zu leiden, als unbeachtet sein zu wollen.

Für sich, für andere

Freiheit bedeutet für die meisten, für sich sein zu können, ohne den starken und beherrschenden Einfluss der anderen spüren zu müssen. Der Blick richtet sich auf das Eigene. Das ist keine hinreichende Vorstellung, aber auch keine falsche. Sie wird ergänzt zu einer vollständigen Bestimmung, wenn all das Unbehelligte, Entfaltungsbereite, Anfangsetzende sich nicht verrät, indem es seinerseits schlicht dominant zu werden versucht, sondern das Verhältnis zur Welt geformt sein lässt durch das souveräne Zusammenspiel von Gestaltungswille und Gesellschaftspflicht, Spontaneität und Rücksicht. Der Blick richtet sich auf das Fremde.

Mach keine Scherze

Je größer der Ernst der Lage, desto besser müssen die Scherze sein, mit denen man sich von ihm für einen Augenblick absetzt. Krisen sorgen für ein höheres Niveau im Humor, weil der Reiz zum Lachen handfeste Gründe braucht. Oder, wo sie fehlen, mit List und Intelligenz ausgelöst werden muss.

Nichts

Das eigene Ende vor Augen trumpft der Narzisst noch einmal auf und wird gefährlich. Weil er nicht akzeptieren kann, dass es Größeres gibt, und einsehen muss, dass er sich wird fügen müssen, treibt er die Realitätsverleugnung bis zur Selbstvernichtung. Worauf seine Gegner immer gehofft hatten: dass er sich als nichtig entlarvt, besorgt er selbst. Den Triumph, ihn besiegt zu haben, gönnt er ihnen nicht. Von ihm und dem, was er als sein Eigentum ansieht, soll, wenn ihm schon nicht mehr alles zugeschrieben werden und er nicht mehr alles erreichen kann, wenigstens eines noch übrig bleiben: Nichts. So, seine Hoffnung, ist noch keiner abgetreten. (s.a. „Die Niederlage des Narzissten“)

Wie wäre das Leben, wenn … ?

Wie wäre das Leben, wenn Kraft und Erfahrung nicht auseinanderstrebten, so dass früher die Kraft die Erfahrung übertrumpfte und später die Erfahrung jene Kraft ersetzen muss, die fehlt? Wie wäre das Leben, wenn die anfängliche Unbekümmertheit vom Maß der Einsicht immer begleitet würde, das sich erst einstellt mit den Jahren? Wie wäre es, wenn Abgeklärtheit mit der Spielfreude gleichermaßen zusammenfielen; wenn die Begeisterung sich hielte, obwohl die Enttäuschung zunimmt; wenn die Routine sich stets neu erfinden müsste, obwohl sich die Erlebnisse unaufhörlich zu stimmigen Geschichten anhäufen; wenn die Neugier wüchse mit der Erinnerung? Wie wäre es, wenn Lust keine Abschwächung kennte und die Liebe sich ihres Versprechens nicht einmal entsinnen müsste, unendlich zu sein; wenn die Vorfreude sich mit der Gewissheit paarte; wenn derselbe Satz im Mund eines Dreißigjährigen sich nicht anders anhörte, als von einem Alten gesprochen? Wie wäre das Leben, wenn es nichts lernen müsste und nichts vergäße? Kurz: unerträglich.

Ein Mann mit Grundsätzen

Auf einen Espresso in der Stadt

„Und wie?“ fragt der Freund, der zufällig den Weg gekreuzt hat.
„Was soll man sagen? Passt schon. Und was nicht passt, wird passend gemacht.“ Die Antwort mimt den unerschütterlichen Optimismus eines professionellen Pragmatikers.
„Ein Satz für alle Lebenslagen“, erwidert der Freund überrascht. „So kenne ich dich gar nicht. Mit einer blöden Phrase eine ernstgemeinte Erkundigung wegwischen. Du bist doch sonst eher der Prinzipienmensch. Also, wie geht es wirklich?“
„Eher ein Satz für alle Lebenslügen“, korrigiert der andere. „Wenn ich ehrlich bin: Nichts passt. Ist alles ein bisschen inkommod dieser Tage. Findest du nicht?“
„Stimmt.“
„Nicht einmal das passt, dass wir hier einfach sitzen wie früher. Und einen Espresso nehmen, als sei nichts.“ Der andere steht unvermittelt auf und verabschiedet sich.
„So gefällst du mir schon besser. Ein Mann mit Grundsätzen“, bemerkt der Freund. Aber da ist der andere schon weitergezogen.

Irgendwas, irgendwie

Der elende Trick der Sprache, für das Besondere (den allein individuell erlebbaren Schmerz, das Hochgefühl, für das es kein Vorbild zu geben scheint, die Lüge, die nur dem Lügner bekannt ist, die Verschwörungstheorie, die sich aus geheimen Einsichten speist) nur Allgemeines zur Verfügung zu stellen (Begriffe und andere Wörter, die den Anspruch erheben, von allen verstanden werden zu können), diese Beschränkung hat einen heilsamen Effekt. Sie sorgt dafür, dass Verrücktheit, trotz zwischenzeitlicher Popularität, am Ende vereinsamen lässt. In Schleiermachers Dialektik ist die Einheit als Hauptaufgabe von Sprache und Vernunft herausgestellt, die nie nur eine logische Form darstellt, sondern auf den Zusammenhalt derer zielt, die sich ihr als Ausdrucksmedium anvertrauen und sie als Handlungskriterium anerkennen. „Die Irrationalität der einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache durch die Einheit der Vernunft.“* Erfahrung lehrt, dass Gespräche, Diskussionen, Debatten für jeden gefährlich sind, der sich auf „Wahrheiten“ beruft, die er exklusiv zu haben meint.**

* § 303. Der Herausgeber der „Dialektik“ bemerkt, dass der Autor im Manuskript statt „Irrationalität“ zunächst von „Relativität“ spricht und dieses Wort auch nicht durchgestrichen hat.
** Man mag daran denken, was Joe Biden vor der ersten Fernsehdebatte mit seinem Kontrahenten geantwortet hat auf die Frage, wie er dem Präsidenten Paroli bieten wolle: mit „truth“. Wahrheit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie um regelkonforme Zustimmung wirbt und nicht nach Ausschließlichkeit strebt. 

Bleib mir fern

Aus gegebenem Anlass, da die Zahlen wieder steigen: Der gebotene Abstand, der Infektionen zu vermeiden helfen soll, der in der AHA-Regel* ein prominentes Akronym bestückt und dessen Missachtung allenthalben zur öffentlichen Klage Anlass gibt, diese Distanz ist nur die eine Seite des Problems. Schwer auszuhalten ist gelegentlich auch die dominante Nähe zu Hause, die Unfähigkeit, denen aus dem Weg zu gehen, mit denen man ein Leben zu teilen sonst gewillt ist, im home office, nicht zuletzt in Ermangelung von Terminen außer Haus, wegen geschlossener Restaurants, gestrichener Flüge, abgesagter Reisen, reduzierter Theatervorstellungen. Da reichen anderthalb Meter nicht. Hier gibt es zu wenig Abstand, dort zu viel. Das ist die eigentliche Schwierigkeit: dass die Wahlmöglichkeit abhanden gekommen ist.

* Abstand, Hygiene, Alltagsmaske

Liebe und Hass

Was Liebe und Hass verbindet: dass ihnen die Gleichgültigkeit fehlt. Hier wie dort wird der andere mit höchster Sensibilität angesehen. Nur dass das, worauf die Liebe ein Auge geworfen hat, der Hass beäugt.

Effekthascherei

Seine Unschuld verliert ein Mensch in dem Augenblick, in dem ihm bewusst wird, dass er seine Wirksamkeit sich zunutze machen kann für die Verbesserung der eigenen Wirklichkeit, nicht nur zur Veränderung von Welt. Das mag mit den Tränen des Kleinkinds beginnen, die es geschickt einsetzt, um zu erreichen, was es sich trotzig vorgenommen hat. Und endet nicht in jener Selbstbezogenheit, der alles andere gleichgültig geworden ist, solange es der Selbstbestätigung  treu dient. Zu dieser Verengung des Blicks auf das Ich gehört nicht zuletzt, dass ihr am Ende selbst die Einsicht abhanden gekommen ist, es könne um mehr gehen als das Eigene. Das ist nicht unschuldig, aber ignorant.

Systemrelevant

Kultur kann nicht systemrelevant sein. Ihre viel größere Aufgabe ist zu fragen, ob das System relevant sei.

Zwei Fragen

Zwei Fragen sind es nur, die das Leben unbedingt beantwortet haben will: Wer bin ich? Und: Wo gehöre ich hin? Es kommt nicht selten vor, dass die Gewissheit in der einen das andere Problem vergessen lässt.

Grenzerfahrungen

Immer sollte bedenken, wer Grenzen einreißt, dass er damit auch Konturen zerstört. Formen, auf die verzichtet wird, geben stillschweigend die Aufgabe, eine neue Identität auszubilden. Im Idealfall ist dieses geschehen, bevor jenes angegangen wird. ​

Auf Abstand

So manche Begegnung auf Abstand fiele leichter, wenn man die in Zeiten der Ansteckungsgefahr gebotene Distanz, die Handschlag und Umarmung verhindert, als sichtbaren, ja messbaren Ausdruck auffassen könnte für den Respekt, den Menschen einander erweisen.

Das Versprechen der Sprache

Das große Geheimnis der Sprache ist, dass sich aus ihr etwas anderes gewinnen lässt als Wörter – Taten.

Zivilgesellschaft

Es ist die Pflicht jeder bürgerlichen Gesellschaft, jenes Maß an Zivilisiertheit nicht zu unterschreiten oder ein niedrigeres Niveau zu dulden, das ihr politische Entscheidungen möglich macht, die auf der Grundlage eines Wettbewerbs um die besseren Inhalte getroffen werden. Und das verhindert, dass die Frage nach Wahrheit ersetzt wird durch lautstarke Beleidigungen, dass dreiste Lügen unwidersprochen bleiben, dass Pöbelei zum Hauptton einer wesentlichen Auseinandersetzung erkoren wird. Alles andere zerstörte das Fundament dieser Zivilgesellschaft.

Konfliktlösung

Viele Probleme im Zwischenmenschlichen verschwinden nicht, weil wir immer nur danach streben, den Streit zu befrieden, anstatt den Streit selber als Form der Befriedung zu begreifen. Konfliktlösung bedeutet nicht, dass Konflikte gelöst werden, sondern dass Konflikte lösen.

Die Kunst der höflichen Absage

Wenn ein Nein fällig wäre, weil eine Entscheidung längst gefallen ist, deren Erklärung aber aussteht …, wenn einer wartet auf das, was dem anderen zu sagen lästig ist und was dieser sich als unnötig mitzuteilen umdeutet, weil sich angesichts des Schweigens doch denken ließe, wie es um die Dinge steht …, wenn ausbleibt, was höflicherweise geboten wäre …, dann zeigt sich roh, wovon viele Begegnungen zwischen Menschen im tiefsten geleitet sind: die Instrumentalisierung. Das Gegenüber für die eigenen Zwecke einzuspannen, kommt so oft vor, wie es ohne Grundformen der Etikette einigermaßen unerträglich ist. Das ist die Funktion des Anstands, den anderen zwar wissen, aber nicht spüren zu lassen, dass es nur um die Frage geht, worin er nützlich sein könne.

Eine Art Naturkatastrophe

Zweimal ist das Wort „Naturkatastrophe“ öffentlich gefallen als Beschreibung einer Zeit der Ansteckungsgefahr, vom Virologen zunächst angeboten und vom Politiker wiederholt.* In ihm klingt mit das Ohnmachtsgefühl und die Schicksalhaftigkeit eines Ereignisses, dem der Mensch ausgeliefert ist, nur dass sich dieses nicht lokal begrenzen lässt wie ein Vulkanausbruch oder ein Tsunami. Gegen solche Überwältigung richten sich schon immer die Wissenschaft, deren Aufklärungsbemühen im Dienst der technischen Beherrschung steht, und die Staatslenkung, deren Pragmatismus stets die Fähigkeit des Zusammenlebens steigern will. Dass die Erinnerung an die Natur und ihre ungezügelte Kraft mit dem Begriff aus der Tragödientheorie verbunden wird – den Wendepunkt, an dem sich das Los des Helden entscheidet, die καταστροφή –, mag angesichts des großen Stils, mit der die Krankheit Menschen weltweit erfasst, auch einen längst vergessenen und verschobenen Gedanken über den natürlichen Gang der Dinge ins Blickfeld rücken. Vielleicht sind mit dem Tragischen auch Evolutionsgesetze wiedergekehrt, von deren Herrschaft der Mensch meinte, sich durch Kultur emanzipiert zu haben: die der Biologie. Noch Hans Blumenberg schreibt in seiner posthum publizierten Anthropologie, dass „die Existenzmöglichkeit des Menschen gerade dadurch biologisch definiert ist, dass er die Faktoren seiner eigenen Entwicklung auszuschalten vermochte. Ihm gelang dies, indem er eine wohl ausweglose Anfangssituation kompensierte durch die Schaffung einer kulturellen Zone um den eigenen nackten Leib herum. Diese kulturelle Zone, angefüllt mit Werkzeugen und allen Arten von Lebenssicherungen institutioneller und dinglicher Art, fängt den Zugriff der selektiven Mechanismen auf das organische System selbst ab.“** Was aber, wenn es sich bei dieser „Naturkatastrophe“ weltumspannenden Ausmaßes um genau die Wiederkehr einer natürlichen Auslese handelte, der zu entkommen die Wege noch nicht gefunden sind? Der Gedanke mag metaphysisch sein. Aber er ist, wie übrigens jede Metaphysik, weniger ein Versuch, das große Ganze zu bezeichnen, als dass er vielmehr geleitet ist von der Bescheidenheit gegenüber einer Welt, die zu verstehen eine unendliche, also nie abgeschlossene Aufgabe ist.

* Zuerst spricht Christian Drosten davon, auf dem World Health Summit: „Diese Pandemie ist ja erst mal kein wissenschaftliches Phänomen, es ist eine Naturkatastrophe.“ Dann, ein paar Tage später, beim Parteitag gestern, Markus Söder: „Corona ist eine Art Naturkatastrophe. Es ist vielleicht die Prüfung unserer Zeit und unserer Generation.“
** Beschreibung des Menschen, 539

Neue Normalität

Nach und nach kristallisiert sich heraus, was in Zeiten der Ansteckungsgefahr die neue Normalität bedeutet: Das Leben wird abstrakter, weil die Atmosphären schwinden mit den Orten, die nicht mehr selbstverständlich aufgesucht werden können – Theater, Konzertsäle, Hotelbars, Fußballstadien, Märkte. „Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Die gute Gesellschaft denkt darum nicht abstrakt, weil es zu leicht ist, weil es zu niedrig ist, niedrig nicht dem äußeren Stande nach, nicht aus einem leeren Vornehmtun, das sich über das wegzusetzen stellt, was es nicht vermag, sondern wegen der inneren Geringheit der Sache.“ So hat es Hegel notiert in einem kleinen Aufsatz von 1807.

Motivation

Die wohl schönste und wirksamste Motivation in der Arbeit ist die Liebe zum Produkt und die aus ihr erwachsene Sehnsucht, es alsbald vorzeigen zu können.

Sich an die Regeln halten

Regeln, das ist die Einsicht der Allgemeinheit in die Fassung für den Einzelnen gebracht, von dem verlangt wird, sich als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen und das Unvermeidliche anzuerkennen.

Baupläne

Die echten Kosten, die für den Bau von Luftschlössern anfallen, übersteigen den Preis für reale Immobilien bei weitem.