Monat: Februar 2016

Damit habe ich nicht gerechnet

Was wir Zufall nennen, ist nur der andere Name für eine Bedeutsamkeit, die wir konstatieren, ohne sie erklären zu können, und interpretieren, ohne dass wir sie zu verstehen vermögen. In ihm hat sich das Bedürfnis diskret erhalten, einem augenfälligen Ereignis einen höheren Sinn abzugewinnen. Alles Zufällige rechnet heimlich mit seiner Vorläufigkeit und hofft auf eine spätere Auflösung ins Unabänderliche.

Spiel’s noch einmal

In jedem Spiel – ob der Wette, dem Machtkampf oder Theatervortrag, im Sport wie beim Gesellschaftsabend – klärt sich erst im Augenblick des Zuspiels, ob der andere ein Mitspieler, Gegenspieler oder Spielverderber sein will. Es ist der Moment, da er seine zuvor gezeigten Absichten bekräftigen muss, weil sie auf die Probe gestellt werden, und das Spiel sich mit dem Ernst berührt. Das Zuspiel verlangt unmittelbar nach einer Antwort auf die Frage, wie wirklich es einer meint, ob er sich einlässt oder die letzte Ausflucht sucht, in welche Rolle er schlüpft, ob er die Offerte aufnimmt oder ablehnt.

Auf die übliche verklausulierte Form des klaren, schlichten Nein, die vor allem im Geschäftsjargon lautet: „Da tun wir uns schwer“, möchte man gelegentlich antworten: „Anderes habe ich nicht erwartet. Was leicht ist, kann ich selbst. Also, strengen Sie sich an.“ Was sagt das über uns, dass wir dort, wo Anstrengung und Mühe lauern, Hindernisse zu überwinden sind oder Widerstände klug zu umgehen wären, die Ablehnung verorten und nicht die Lust, sich in seiner Intelligenz und Kraft herausfordern zu lassen?

Jubel, Trubel

Wenig galanter Dialog auf einer Jubelfeier:

„Da hat der Jubilar mal wieder sein ganzes Leben zusammengetrommelt, wenn man die Vielzahl der Gäste sieht.“
„Sein ganzes? Die bessere Hälfte scheint zu fehlen. Zumindest die früheren Lieben sind wohl nicht eingeladen, wenn ich das richtig überblicke – wahrscheinlich weil es die letzte nicht wollte.“
„Wer sagt denn, dass das seine letzte Liebe ist? So alt ist er ja nun auch nicht.“
„Sie nehmen’s aber genau. Na dann: die jüngste.“
„Verleiten Sie mich nicht zu uncharmantem Spott, Kollege. Die jüngste? Das ist sicher ein paar Jahre her.“
„Okay. Vielleicht: die aktuellste?“
„Who knows?“
„So langsam wird’s aber spitzfindig. Wie würden Sie das Verhältnis denn nennen?“
„Das ist doch die Pointe. Was das Leben lehrt, ist: Je länger es währt, desto schwieriger lässt es sich  zusammenfassen. Dabei hoffen wir immer das Gegenteil, dass es sich im Alter endlich auf den Begriff bringen lässt. Begriffe taugen nur für die Langweiler. Bei den anderen muss man sich schon die Mühe machen, Geschichten zu erzählen. Und die interessantesten wären gewiss von denen zu hören, die heute leider nicht da sind.“

Regelwerk

Paradoxie der Demokratie: Weil sie auf Regeln des Zusammenlebens fußt, die in ihr nicht ausgehandelt werden, kann sie darauf setzen, dass die Regeln des Zusammenlebens in ihr ausgehandelt werden.

Bürgersinn

Am 27. Januar 1848 sagte Alexis de Tocqueville in einer leidenschaftlichen Rede vor der französischen Abgeordnetenkammer die Revolution einen Monat vor deren Ausbruch voraus und analysierte zugleich die Entstehungsbedingungen dieses Umbruchs. Er habe die „Tribüne bestiegen“, weil er glaube, dass sich die Sitten und der Gemeinsinn in einem gefährlichen Zustand befinden und „dass die Regierung auf eine äußerst riskante Weise dazu beigetragen hat“. Dabei sei ihm wichtig, dass verstanden werde, dass er dies nicht aus der Sicht eines Moralisten vortrage, sondern „von einem politischen Standpunkt“ aus. Das Beunruhigende für die Gesellschaft sei, dass der Bürger, also auch der gewählte Politiker, in einem umfassenden Sinn ungebildet ist, weshalb er dazu neigt, seine persönlichen Interessen vor die gemeinschaftlichen Aufgaben zu stellen. „Die öffentlichen Sitten verderben dort, sie sind dort schon gründlich entstellt; sie verschlechtern sich von Tag zu Tag; immer mehr werden die gemeinsam geteilten Überzeugungen, Empfindungen und Ideen von Einzelinteressen und individuellen Zielen abgelöst sowie von Auffassungen verdrängt, die dem Privatleben und -interesse entspringen.“* Es reichte, diese kleine, bedeutende Rede in unseren Parlamenten heute vorzulesen.

* Alexis de Tocqueville, Kleine politische Schriften, 180

Schlechte Laune, aber von Herzen

Die wiederholt formulierte Befürchtung, die Maschine könne den Menschen in vielen Dienstleistungen ersetzen, wird in dem Maße zum Wunsch, wie sich der Mensch der Maschine bis zur unfreiwilligen Komik angleicht: Viele der gestanzten Floskeln, mit denen Unternehmen Kundennähe simulieren – „wir sind gleich für Sie da“; „danke, dass Sie uns die Chance geben, Ihnen ein Angebot machen zu dürfen“; „ich wünsche Ihnen einen wunderschönen und erfolgreichen Tag“ (so die Kassiererin zur gebrechlichen Dame im Gehwagen) – riefen nicht diese verhinderten Aggressionen hervor, kämen Sie von einer elektronischen Stimme aus einem Lautsprecher gepresst. Wie wohltuend wirkt da die schlechte Laune, die von Herzen kommt.

Der Roman des Jahrhunderts

Noch nicht geschrieben ist das Buch mit dem Titel „Die Politik ohne Eigenschaften“. Ob in ihm wie im großen Vorbild von Robert Musil auch so viel vom Möglichkeitssinn die Rede sein würde, und so wenig vom Wirklichkeitssinn?

Spieglein, Spieglein

Das Feedback ist die technische oder soziale Form der verlorenen Unschuld.

Das letzte Hemd im letzten Haus

Anders als im christlichen Brauch, sind in der jüdischen Tradition Gräber das ewige Eigentum des Toten. Der Raum, in dem er bestattet ist, gehört ihm, so dass die letzte Ruhestätte nicht wiederverwendet wird. Dem Verstorbenen wird ein unantastbarer Ort zugesprochen, in dem er auf das Kommen des Messias ungestört warten kann. Mit dem zeitlich unbegrenzten Recht auf eine nur für ihn festgeschriebene Stätte ehren die Überlebenden den Toten und halten seine Würde fest, indem sie ihm einen Platz auf dieser Welt freihalten. Wie unterschiedlich doch die Vorstellungen sind, die mit dem Eigentum einhergehen: hier das unzerstörbare Recht auf ein letztes Haus, die zeitlos gewährte Bestimmung, es zu nutzen; dort die absolute Entkleidung von jedem Besitz bis auf ein letztes Hemd, das keine Taschen hat. Beiden allerdings liegt die Überzeugung zugrunde, dass nur der Freie (Befreite) auf Auferstehung angemessen hoffen darf.

Rechthaber

Immer war es ein sicheres Indiz, dass er wieder mal nur Recht behalten wollte, ohne im Recht zu sein, wenn er seine Sache maßlos übertrieb. Als traute er seinen Gründen nicht mehr, verließ er sich fortan nur noch auf das plumpe Rednergeschick, ja er verfiel in eine größere Lautstärke als sonst. Von diesem Dröhnen seines Silbenschwalls getragen suchte er, was er erwiesenermaßen hasste, bei sich und bei anderen: unbedingt das letzte Wort haben zu müssen. Es sind diese Auffälligkeiten, die der Sprache das Substantiv „Rechthaber“ beschert haben. Rechthaberisch ist, bei dem zwar offenbleibt, ob er Recht hat, aber bei dem nie fraglich ist, um was es ihm geht: um sich und das, was er für richtig hält.

Schiebespiel

Ein Großteil der Anstrengung in einer politischen oder wirtschaftlichen Organisation zielt darauf, Anspruchsnehmer sich bis zur Erschöpfung in ihr verirren zu lassen. Die Unangreifbarkeit einer Entscheidung wird erreicht durch die Ungreifbarkeit derer, die sie zu vertreten haben.

Es ist wie bei „Asterix erobert Rom“, wo sich die Protagonisten im modernen Labyrinth verlaufen, im „Haus, das Verrückte macht“, bei der Suche nach dem Passierschein A 38.

 

Klangteppich

Lang, bevor Erik Satie mit seinen fünf Kompositionen einer musique d’ameublement, einer Tonkunst für den häuslichen Gebrauch, die Gattungsbezeichnung lieferte, waren schon die Stücke geschrieben und gespielt, die zur klanglichen Untermalung von festlichen Tischgesellschaften eingesetzt werden: der unvermeidliche Pachelbel – Canon & Gigue –  oder Albinoni und Corelli. Es sind Titel für die kurze Phase einer Verlegenheit, für Augenblicke, da man einander gerade nichts mehr zu sagen hat, und der Gastgeber oft angestrengt die Liste jener Themen im Hirn durchläuft, die eine träge Runde wieder ins muntere Parlieren bringen. Da übernimmt das Lauschen der getragenen Melodien die Funktion, die vorbeiziehende Landschaften oft haben, wenn sie vom Eisenbahnabteil aus angesehen werden: Die zuverlässige Bewegung, auch als betrachtete, reicht, damit die Gedanken wieder in Fluss geraten und mit ihnen das Gespräch abermals in einen einvernehmlichen Gang kommt. Auch der Geist ist ein motorisches Organ.

Dreimal schwarzer Kater

Im Maße, wie anstehende Entscheidungen einschneidend sind, wächst die Neigung, sie durch eine Prise Aberglauben abzusichern. Die Suche, ja Sucht nach kleinsten Zeichen dient im Erfolgsfall der Gemütsberuhigung, weil die Superstition wirkungsvoll ausblendet, dass solche Hinweise stets deutungsbedürftig sind und somit vieldeutig bleiben. 

Elementarteilchen

Wer einmal Diät gehalten hat für eine gewisse Zeit, weiß, wie fein nach deren Ende das einfachste Essen schmeckt: Schwarzbrot mit Salz, ein Apfel, die aufgebrochene Walnuss. Das ist der Sinn des Fastens: nicht der Verzicht auf, sondern der Gewinn einer Sinnlichkeit, die sich ihres eigenen Erregungspotentials wieder vergewissert. Es gehört zur Widersprüchlichkeit dessen, was wir wesentlich nennen, dass es sich unserer Aufmerksamkeit gewöhnlich entzieht.

Streng vertraulich

Das Stimmengewirr im Zugabteil bietet für gewöhnlich einen dichten Geräuschteppich, in den eingehüllt der Vieltelefonierer meint, vor ungebetenen Gesprächszeugen sicher zu sein, wenn er nur nicht allzu laut spricht. So lassen sich auch von unterwegs noch unveröffentlichte Bilanzzahlen durchsprechen, die Vorlieben in der Einkaufsliste abgleichen, lässt sich der Büroklatsch höhnend weitergeben oder der Lebenspartnerin mal eben mitteilen, dass man sich von ihr trennen werde. Die Wellen an Gelächter im Hintergrund, das Rascheln der Butterbrotpapiere, Geflüster hier oder munteres Geplaudere dort sorgen für die gebotene Diskretion. Doch wie bei den Meereswellen, deren Interferenz zuweilen eine glatte Wasseroberfläche beschert, ersterben auch die zuverlässigsten Laute ab und zu, als würden sie von Geisterhand dirigiert. Im Waggon ist nun nur noch die Stimme des Manns am Telefon zu hören, die allerdings für alle deutlich vernehmbar: „… und dann muss ich Ihnen noch etwas sagen, was Sie bitte als absolut vertraulich behandeln mögen …“ Erschrocken dreht er sich um und starrt in spottbereite Gesichter. Plötzlich bricht das Abteil in lautes Gebrüll aus; der Geschäftsmann legt verlegen auf. Die unvermittelte Stille hat alle daran erinnert, von wievielen Unwägbarkeiten ein gutes Gespräch abhängt.

Finger weg

Es ist ein Irrtum zu meinen, Eigentum sei nichts als das Verhältnis, das wir zu Gegenständen besitzen, die uns gehören. Erst wenn ein anderer sich für dasselbe Stück interessiert, bekommt es einen Eigenwert, weil wir es seiner Begehrlichkeit vorenthalten. Jeder kennt das lächerlich beklemmende Empfinden, das sich in dem Moment meldet, in dem sich der Freund ein Buch ausleihen will, das wir noch nie angeschaut haben. „Bring’s bald zurück“, ist noch die freundlichste Form einer plötzlich aufkommenden Furcht, es gerade jetzt zu brauchen. Das Eigentum ist eine Beziehung – nicht zum Objekt direkt, sondern – zu einem anderen über die Sache, der mich allererst stillschweigend nötigt zu sagen: „Meins.“

Nullnachricht

Wenn Politik nach dem Interesse der Bürger gemacht würde, käme sie in den Nachrichten kaum vor.

Wieviel darf es denn kosten?

Der Hang, einfache Lebenseinstellungen wie Ehrlichkeit oder Verantwortungsgefühl gleich als Werte zu übertreiben, rechnet nicht mit der subversiven Grundregel eines moralischen Denkens, das sich an Werten ausrichtet: Denn was auch immer ich als oberstes Handlungsprinzip wähle, es entwertet stillschweigend anderes. Die Sehnsucht nach Werten entstammt der Verlegenheit einer Gesellschaft, die vergessen hat, wie entlastend – um nicht zu sagen: wertvoll – es ist, aufs Selbstverständlichste anständig zu sein.

Ach ja

Zehn Einstellungen zur Wirklichkeit:

– Romantik: der Glaube, es könne ein Ja geben ohne ein Nein.
– Revolution: der Antrieb, der im Nein liegt, ohne schon an das Ja zu denken.
– Redlichkeit: die Einsicht, dass jedes Ja auch ein Nein einschließt.
– Reue: die Hoffnung, gegen das Nein wieder auf ein Ja setzen zu können.
– Risiko: die Zuversicht, dass das Ja dem Nein überlegen ist.
– Rache: die Verbissenheit, ein Nein nie mit einem Ja zu erwidern.
– Rechtfertigung: das Geschick, das Nein wie ein „Ja, aber“ aussehen zu lassen.
– Ruhe: die Festigkeit, sich in seinem Ja nicht von einem Nein abbringen zu lassen.
– Rationalität: die Schärfe, zwischen Ja und Nein klar zu unterscheiden.
– Routine: die Kühnheit, aus dem wiederholten Ja und Nein eine Lebensregel zu formulieren.

 

Ich meine, du deine, er eine

Meinung ist jene Stufe der Überzeugung, die man erreicht hat, wenn das Denken auf halber Strecke zur Begründung müde geworden ist. Der Fehler besteht darin, dass ein Zwischenziel als Endergebnis ausgegeben wird.

Aller Anfang ist abstrakt

Er habe niemals gezögert, über das eigene Werk zu reflektieren, gesteht Heinz Mack, einer der Gründer der Künstlergruppe ZERO.* Der Satz ist tiefer, als er sich liest. Denn er unterstellt, es sei im Fach der höheren Malerei nicht üblich, das künstlerische Tun eigens zu bedenken. Zur Freiheit der Kunst gehört selbstverständlich auch, sich nicht über sich selbst verständigen zu müssen. Das Ergebnis spricht für sich; mit ihm ist alles gesagt. Darin unterscheidet sie sich von der Wissenschaft, die methodisch einordnen muss, was sie in der Sache schon mühsam auf den Weg gebracht hat. Warum also reflektiert ein Künstler wie Mack dennoch seine Arbeiten? Wohl weniger um des Publikums willen, dem er sie erklärt, sondern aus Zweifel an der unmittelbaren Wirkung. Das Bild selber ist entstanden durch einen Abstraktionsprozess, ist Struktur, nicht Gegenstand, Bewegung, nicht Inhalt. Am Ende geht es um die Gewissheit, dass es lohnt, über die Reflexion eine höhere Stufe der schöpferischen Unmittelbarkeit zu erklimmen, die ihre Ursprünglichkeit dort findet, wo sie längst verloren ist: in der Konstruktion.

* Die neue dynamische Struktur, ZERO 1, Düsseldorf 1958; Reprint ZERO 1-3, Heinz Mack und Otto Piene, Köln 1973, 14

Voll aggro

Wut: Das Gefühl, im Recht zu sein, ahnt seine eigene Ohnmacht.
Zorn: Die Gewissheit, mächtig genug zu sein, setzt eine Sache in ihr Recht.
Verdruss: Das Gespür, dass die Machtlosigkeit unrecht ist, wendet sich gegen sich selbst.
Groll: Der Wille zur Macht steht sich im Weg, findet es aber richtig, dauerhaft nicht tätig zu werden.
Hass: Ihm macht es nichts aus, nicht im Recht zu sein.

Eins und eins

Wenn stimmt, dass das Wort „rechnen“ ursprünglich einmal nichts hieß als: in Ordnung bringen, so muss man in der Sprachlosigkeit der höheren Mathematik auch eine versteckte Kapitulation sehen: Wir sind fähig, eine Welt zu denken, von der wir weder wissen, wie sie aussieht, noch sagen können, was sie bedeutet, und nicht einmal festzustellen vermögen, ob wahr ist, was wir abstrakt formulieren. Den Beweis überlassen wir einer (Rechen-)Maschine. Ordnung ist, was wir im letzten nicht begreifen.