Monat: März 2016

Lebensphasen

Mittelalt: jene Lebensphase, in der Kraft und Erfahrung ins Gleichgewicht geraten.
Älter: wenn die Erinnerungen die Erwartungen übertrumpfen.
Alt: Zustand, in der nur noch das Wetter für Abwechslung sorgt.

Rhetorik des Raums

Wie hohle Phrasen auch entstehen: Man kann von Menschen so klein denken, dass jedes ihrer eigentlich passenden Wörter plötzlich wie aufgeblasen erscheint, als viel zu groß geraten für das Leben, in das sie durch geringschätzige Anschauung eingekürzt wurden.

Störungsfrei

„Ich glaube, ich habe Wortfindungsschwierigkeiten“, sagt er, nachdem er allzu lang nach dem richtigen Ausdruck gesucht hat.
„Das wiederum glaube ich nicht“, erwidert sie. „Dieses Wort ‚Wortfindungsschwierigkeiten‘ finde ich viel zu schwierig für einen, der eine solche Störung hätte.“

Der Wurm im Buch

Von einer gewissen Größe an fördert auch eine gute Bibliothek das Denken nicht mehr, sondern hindert es. Vor die Frage, was man sucht, tritt dann die Überzeugung, es jederzeit finden zu können. Der fremde Einfall hat die Herrschaft über die eigene Idee sichtbar angetreten.

Frauengeschichten

Wer die im Testament überlieferten Auferstehungsgeschichten für unwahrscheinlich hält, muss für wahrscheinlich halten, dass Autoren aus einer durch und durch patriarchalischen Welt die Heldenrollen in ihren Erzählungen, jene Augenblicke, die über Glücken oder Misslingen der Geschichten entscheiden, Frauen überlassen. Sie sind es, weil sie sich nicht jammernd zurückgezogen haben wie die Jünger in ihrer Trauer und ihrem Selbstmitleid, die das leere Grab entdecken und von dessen Unheimlichkeit nicht überwältigt sind, sondern mit Realitätssinn der Sache auf die Spur kommen, jener Sache, an der schließlich alles hängt.

Nichts zu sagen

Das Schönste an der Stille ist, dass sie sich nicht rechtfertigen muss; wohingegen die Stummheit oft unter den Zwang gestellt wird, sich erklären zu müssen.

Karfreitag

An diesem härtesten aller Tage im christlichen Festkalender und dem befremdlichsten für jene, die ihn nicht feiern, ein Wort zur Liturgie: In ihr, der katholischen, wird der wichtigste Teil des Gottesdiensts, die Wandlung von Brot und Wein, beschlossen mit einem sich steigernden Dreiklang aus Präpositionen: „Durch ihn und mit ihm und in ihm.“ Er formuliert das Innenverhältnis der göttlichen Personen als eine Wesensbestimmung, die genauer wohl kaum sein könnte – klar, aber auch kühl. Menschlicher indes geht es zu an dem Tag, an dem nach altem Brauch auf die Einsetzungsformeln verzichtet wird, weil anderes im Blickpunkt steht: das Leiden des Weltenerlösers, das vorgestellt wird in den Geschichten des Testaments. Auch sie lassen sich in eine Präpositionsreihe bringen und verdichten. Passion bedeutet, so verstanden als Geschehen, das dem Menschen dient: mit dir, für dich, bei uns – Teilhabe, Hingabe, Verlässlichkeit. Nur, so knapp ist das nicht zu erzählen.

Pilatusfrage

Zu den großen Irritationen des Denkens gehört, dass das Ideal, dem es sich in allem verpflichtet weiß: Wahrheit, dem Menschen nichts schuldet, ihm, der sich doch anstrengt, diesem Leitmotiv genau zu entsprechen. Was auch immer das Ergebnis seiner Mühen sein wird, noch nie hat Wahrheit den glücklicher gemacht, der sie erkannte. Es sei denn: dass jene verstörende Differenz zwischen dem Wirklichkeitssinn und dem, was menschlich genannt zu werden verdiente, Anlass ist, nach Wahrheit noch einmal ganz anders zu suchen. Pilatus war in seinem Gerichtsgespräch mit Jesus nah dran, als er ihn fragte, was Wahrheit sei. Aber er wollte keine Antwort.

Sei nicht so faul

Ob nicht hinter den meisten unserer Ängste Bequemlichkeit steckt: also die Furcht, etwas ändern zu müssen? Statt des trostreichen Zuspruchs „Hab keine Angst“ wäre die Aufforderung „Sei nicht so faul!“ viel wirklichkeitsgetreuer und wirkmächtiger.

Potztausend*

Bildung: die Voraussetzungen verstehen, aus denen Sätze formuliert sind.

* Die 1000. Notiz. Zu den 999 anderen geht es über das Archiv am Fuß der Website oder über den Link jeweils am Ende der Seite „Notizen“. – Der Ausdruck „Potztausend“ ist wohl ein verdeckter Fluch – „Gotts tausend Sakrament“ –, über den Erstaunen, Verblüffung, Überraschung ausgedrückt werden soll.

Testfall

Unter den vielen dramatischen Geschichten des Testaments markieren die Passionserzählungen, die der semana santa ihren Inhalt geben, den Ernstfall. Sie stellen den Realismus der Gottesbeziehung auf die Probe, auf beiden Seiten: als Frage an die Festigkeit eines Glaubens, dem das Vertrauteste abhanden kommt, und als Bericht vom Scheitern einer höheren Bemühung um den Menschen, die ihr Ende findet, weil dieser dumm genug ist, sich nicht gefallen zu lassen, wozu er ohnehin nichts beizutragen gehabt hätte. Dass der Erlösertod dennoch nicht den Tod der Erlösung bedeutet, ist jedenfalls kein trotziges Ergebnis dieses Testfalls, sondern das Bekenntnis eines, der sich nicht irritieren lässt davon, dass es in den wichtigen Augenblicken des Lebens nichts zu rechtfertigen gibt.

Rasant ausgerastet

Leidenschaft, auf die Probe gestellt, wird leicht zur Hysterie. Ein großes Gefühl, das meint, seine Echtheit beglaubigen zu müssen, steigert sich hinein in eine verkehrte Intensität.

Stilbruch

Wenig ist lächerlicher als das Ergebnis einer erzwungenen modischen Metamorphose: Seit einiger Zeit trägt der älter gewordene Herr nicht mehr nur die zerbeulte Cordhose, sondern inszeniert sich in der Art des englischen Landadels mit Tweed, Ellbogen-Patches aus Leder, Seidenschal und dem obligatorischen Einstecktuch. Es passt alles, nur die Hose erinnert wegen des abgewetzten Cords unfreiwillig komisch an jene Tage, da die Klamotten noch aufs Selbstverständliche angezogen wurden und nicht die Stilerwartungen der sehr viel jüngeren Frau erfüllen mussten.

Mathematik des Passspiels

Was das Publikum am Fußball liebt: seine Unberechenbarkeit.
Wie der Trainer im Fußball den Erfolg sucht: durch Kalkül.
Womit der Spieler nach der Begegnung sein Tor erklärt: mit Berechnung.
Worüber der Ahnungslose beim Zuspiel immer staunt: über die Genauigkeit.
Was den Verein am Saisonende am meisten interessiert: die Bilanz.
Weswegen die Mannschaft sich über die Maßen ärgert: wegen des Ausgleichs.
Was am Ende allein zählt: das Ergebnis.

Lebensbestimmung

„Er ist der geborene Unternehmer“, so kommentiert der Gast im Publikum die kurze Rede des energisch vortragenden Managers.
„Sind wir das nicht alle?“ fragt der Sitznachbar zurück.
„Na, ich denke, dass es da doch deutliche Unterschiede gibt zwischen den Menschen. Die einen preschen voran, die anderen lassen sich hängen, dritte zögern, aber handeln dann in ihrer Behutsamkeit umso konsequenter.“
Der gelegentliche Gesprächspartner bleibt hartnäckig. „Weil sie gerade von den Menschen sprechen: Wir sind doch alle nicht nur Lebewesen, sondern wir müssen unsere Existenz in die Hand nehmen, sonst würde es mit uns alsbald schiefgehen. Jeder Mensch ist ein Lebensführungswesen, folglich: ein geborener Unternehmer“, bemerkt er unverhohlen triumphierend.
Leicht genervt beugt sich der Gast auf die gegenüberliegende Seite zu seiner Begleitung und flüstert: „Wie komme ich aus dieser Besserwisser-Nummer wieder raus? Unternimm du doch mal was.“

Ganz schön einträchtig

Harmonie ist das freundliche Antlitz der Realitätsverweigerung.

Wenn’s um Geld geht

Die Zeichen der Zeit sind ohnehin schon vielfältig und vieldeutig genug. Welche Botschaften soll man aus ihnen lesen? Nun wirbt auch die Sparkasse im unentzifferbaren Piktogrammstil. Was soll das heißen? Drei verquere Versuche über eine verquaste Kampagne:

1. Stoppt alle, die das Geld wie mit der Gießkanne verteilen. Lieber abwarten und Tee trinken! (nur die weißen Felder)
2. Bequemer geht’s nicht: Wo auch immer du bist, zuhause oder unterwegs, bleib sitzen. Für Geld Schlange zu stehen, lohnt nicht! (nur die roten Felder)
3. Das Tempo des Lebens (1): Ein schnelles Auto? (2) Lass es ziehen. (3) Die eigene Immobilie? (4) Sei froh, wenn am Ende jemand die Radieschen gießt, die du von unten siehst. (5) Was willst du mit dem vielen Geld? (6) (die Felder horizontal gelesen)

Symbol des Lebens: Das billige Geld gehört nicht auf die Sparkasse, sondern ist unter die Leute zu bringen nach dem Gießkannenprinzip

Symbol des Lebens: In Zeiten des billigen Gelds gehört das Vermögen nicht auf die Sparkasse

Denkzettel

Viele große Veränderungen geschehen aus Versehen. So ehrlich der nachgeschobene Satz sein kann: „Das habe ich nicht so gemeint“, so armselig wirkt er als erschrockener Versuch, Entscheidungen zu entschuldigen. Er gerät zum nachträglichen Verrat der eigenen Freiheit. Es gehört zur Qualität eines Denkzettels, dass er zwar anderen zu denken geben soll, selber aber selten verrät, dass derjenige gedacht hat, der ihn ausstellt.

Großer Hunger

Unter den vielen Bestimmungen des Menschen ist diese die genaueste: Er ist ein Chronophage – das Tier, das Zeit frisst.

Retro

Man muss nur lang genug warten, dann kippt jedes Alte ins Antiquarische oder Antike, und was jetzt noch als schäbig gilt, wird fortan als Stil, mindestens aber als Stück einer Erinnerung begriffen, die zu bewahren historische Pflicht ist. Was dem erbarmungsfreien Zerstörungswerk der Zeit entkommt, erhält so allein durch seine Fortdauer den Anschein, wertvoll zu sein. Es handelt sich um eine Wertsteigerung durch Hartnäckigkeit. Das Substantielle ist ein Zeitbegriff. 

Na schön, na gut

Zugespitzt scheinen das Ästhetische und das Ethische von derselben Qualität zu sein, so dass wir beide formelhaft in einem Atemzug nennen: „Schön und gut“, heißt es dann lapidar, worauf nicht selten ein „Aber“ folgt. Wie unterschiedlich die Eigenschaften der beiden Begriffe indes sind, lässt sich ahnen, wenn man sie zu steigern versucht. Das Schöne ist ohne weiteres bis zum Superlativ dehnbar. Doch das Gute? Für das Ethische gilt, dass besser als gut auch das Beste nicht sein kann.

Handelsregister

Der Ängstliche: Er handelt so, dass er sich wünscht, es schon hinter sich zu haben.
Der Träumer: Er handelt nicht, weil er sich wünscht, es immer noch vor sich zu haben.
Der Enthusiast: Er handelt, indem er sich wünscht, außer sich zu sein.
Der Blasse: Er handelt, ohne dass er es merkt, weil er in sich gekehrt ist.
Der Empfindsame: Er handelt, und trägt die Wirkungen seines Tuns stets mit sich herum.
Der Verantwortliche: Er handelt, weil er glaubt, die Folgen auf sich nehmen zu können.
Der Zögerliche: Er hält das Handeln an sich für etwas Sinnvolles.

Immer das Gegenteil

Die Aufforderung „Vergiss mich!“, die das Ende einer tiefen Beziehung einläutet, ist so paradox wie die Gefühle in den Abschiedsaugenblicken. Wie soll man den Imperativ sinnvoll übersetzen? Absurd wäre, ihn als Erinnerung zu verstehen, zu streichen, was aus dem Gedächtnis verschwinden soll, ja den Verlust gar als Ergebnis eigener Anstrengung anzusehen. Besser bedeutet er: „Vergiss nicht, dich meiner zu erinnern, aber erinnere mich nicht an dich, damit ich dich vergessen kann.“

Seelische Klimazonen

Man müsste eine Welt erfinden, in der nicht die Gefühlskälte, sondern die Herzenswärme als ein Schutzmittel taugt gegen allzu heftige Ansinnen, derer man sich erwehren zu müssen meint.