Monat: Juni 2016

Macht dumm

In dem Maße, wie die Macht ihren Widerstand verringert, an dem sie sich einst abarbeiten musste, fördert sie die eigene Dummheit. Wer klug und klar werden will, lernt dies am ehesten über die Anstrengung, die ihm abverlangt wird in Auseinandersetzungen. Konkurrenz belebt zwar nicht immer das Geschäft, aber sie erhöht die Intelligenz eines Unternehmens. Das ist die vornehmste Aufgabe einer parlamentarischen Opposition: dass sie die Regierung zwingt, nach- und vorauszudenken.

Unbedarft erwachsen sein

Die Naivität der Erwachsenen hat einen Namen: Sie heißt Innovationsmanagement.

Nullsummenspiel

Der Spieltheoretiker als Politiker wird zum Hasardeur. Er kennt den Unterschied nicht zwischen Gewinnen und Siegen.

Ich habe an dich gedacht

Nur einmal im Jahr lugt für einen ehrlichen Augenblick jene zweite Welt, in der wir die anderen in unseren Gedanken oder mit dem Herzen begleiten, in die Realität hinein: am Geburtstag. An ihm wird die Probe aufs Exempel gemacht, ob wirklich jene an uns denken, von denen wir denken, dass sie es müssten, indem sie sagen, was wir von ihnen erwarten. Da sortieren sich die Freunde jedesmal neu – in solche, an die nur wir denken, und solche, die nur an uns denken, und solche, von denen wir hoffen, dass sie bloß vergessen haben, daran zu denken, es uns zu sagen, dass sie an uns denken, und solche, die weil sie an uns denken, denken, es uns nicht sagen zu müssen, und solche, an die wir denken, weil sie an uns denken. Wenige Tage geben so viel Gelegenheit, etwas fundamental falsch zu machen.

Einheitsbrei

Dort, wo international gekocht wird, findet man vietnamesische, marokkanische, griechische oder russische Restaurants, den obligatorischen Italiener von nebenan ohnehin, aber keine Gaststube, auf der „Internationale Küche“ steht. Die gibt es nur dort, wo einer nicht weiß, was er anbieten soll, weil ihm die Hausmannskost zu fad schmeckt und für das fremde Rezept das Talent fehlt.

Ungeschehen machen

Politik sei, einem berühmten Satz zufolge*, die Kunst des Möglichen. Allerdings ist sie darauf beschränkt, geschehen zu machen, was man sich ausgedacht hat. Was aber, wenn den professionellen Ermöglichern unterläuft, was nie hätte gelingen dürfen? Den Beruf des Ungeschehenmachers gibt es nicht, so sehr man ihn sich manchmal wünschte. Da bleibt nur der Rücktritt als kleinlautes Eingeständnis, dass der Begriff „Kunst des Möglichen“ zuweilen eine düstere Färbung einnimmt, weil allzu offensichtlich ist, was alles unmöglich bleibt. Ungeschehen zu machen, was schon falsch gewesen ist, als man es sich ausgedacht hatte, vermag allenfalls die Verzeihung. Sie ist jene Geste, die es nie im Institutionellen geben kann, sondern die nur zwischen Individuen ihren Platz findet. Man könnte sie vorsichtig eine Kunst des Unmöglichen nennen.

* Das Wort wurde Bismarck schon zu dessen Lebzeiten zugeschrieben, stammt aber wohl vom Kämpfer für die politische Einheit, dem Historiker und Politiker Friedrich Christoph Dahlmann.

Grenzfall

Die Grenzen einer Wirklichkeit bedeuten die Grenzen ihrer Wirksamkeit.

Good luck, be happy

Es liegt im Zusammenspiel der zwei Bedeutungen im Wort „Glück“ wohl doch eine größere semantische Weisheit, eine Sprachlist, die anzunehmen bei begrifflichen Zufällen sich sonst verbietet. So allein lässt sich nämlich erklären, warum in Lebenswelten, die das Gelegenheitsglück durch Berechnung erfolgreich zu überlisten und auszumerzen suchen, sich jenes andere tiefe Lebensglück meist nicht wirklich einstellen will. Vielleicht gehört zur Kunst einer gelingenden Existenz entscheidend, dass sie nicht kalkulierbar ist. Und die Ahnung, dass nichts unzufriedener macht als ein genaues Datenwissen über eine menschliche Angelegenheit. Wenig sorgt für hartnäckigere Langeweile als Daseinsformen, die sich der Statistik vollständig verschrieben haben.

Stadt, Land, Flucht

Stadtpflanze: ein Mensch, der keine Zeit hat, darüber nachzudenken, was andere nicht erleben.
Landei: ein Mensch, der Zeit hat zu erleben, worüber andere noch nachdenken.

Die Sprache ist redselig

Kann einer gut denken, der schlecht schreibt? Man will es nicht glauben, so lang Klarheit, Stimmigkeit, Lebendigkeit, Schärfe, Spannung, Spiellust, sie alle Eigenschaften darstellen, die hier wie dort in Anspruch genommen werden können, für die tiefe Reflexion wie den reichhaltigen Text. Und doch bleibt der Vorbehalt, es sei durchaus möglich in dem Maße, wie wir zwischen Denken, Schreiben und Sprechen einen Unterschied setzen.

Gefällt

In letzter Instanz verurteilt der Richterspruch das Leben zu einer Eindeutigkeit, die es von sich aus nie finden kann. Warum? Damit es weiterlebt. Zur Wirklichkeit einer Existenz gehört nicht nur, dass sie faktisch auf viele Möglichkeiten verzichtet, anders zu sein. Sondern vor allem, dass sie sich entschließt, die ungezählten Auslegungsangebote abzulehnen, die ein zwangsbeschränkter und derart gekränkter Geist anbietet, sich jene Festgelegtheiten schönzureden. „Urteil“ – ob juristisch oder ästhetisch, sozial, logisch oder psychisch – heißt jene Interpretation, die sich gegen andere durchgesetzt hat. Das Urteil ist stets eine Machthandlung. Und, bei aller Begründung (die ins Unendliche tendiert), notwendig rhetorisch. Die Rhetorik ist der sprachliche Rettungsgriff für Fälle, in denen alles eine Auslegungssache ist – weil nur so beschlossen werden kann, was darum wirbt, jederzeit neu verstanden werden zu können.

Das Alphabet der Bürokratie

Wenn ein Behördenmitarbeiter, der eine Sache klären kann, generös sagt, da finde sich eine unbürokratische Lösung, meint er in der Regel irgendeinen politischen Weg. Wenn derselbe ankündigt, dass sich in einer Angelegenheit gewiss eine politische Entscheidung abzeichnen dürfte, fragt er nicht nach deren Wirtschaftlichkeit. Wenn er bestimmt, das Ansinnen selber erst noch einmal durchzurechnen, räumt er ein, dass es durch die Mühlen der Bürokratie muss.

Na, du

Mit klugen und behutsamen Beiträgen bereichert ein Teilnehmer die Gesprächsrunde so, dass deren Leiter ihn nach dem Namen fragt. „Hannes“, antwortet der beredte und belesene Kopf. „Hannes … und weiter?“ „Ich nenne mich ja nicht mit dem Nachnamen“, erwidert jener Hannes listig und lässt die Neugier ins Leere laufen. „Erlauben Sie, dass ich Sie nicht duze?“ lässt der Moderator nicht locker. „Na klar, aber gestatte mir bitte auch, dass ich mich nicht in der Sie-Form vorstelle.“ Genervt gibt der Diskussionskundige auf. – Zwischen plumper Vertraulichkeit und überrumpelnder Vertrauensseligkeit findet das Vertraute keinen Platz.

Lösungsmittel

Irgendwann wird eine Generation einmal unser Zeitalter als jenes klassifizieren, in dem der Druck, Lösungen auf Probleme zu finden, öffentlich so groß geworden war, dass wir gelernt haben, Antworten zu geben, bevor wir die Fragen überhaupt richtig formulieren konnten. Wenig schadet dem Verhältnis von Denken und Reden so sehr wie die kommunikative Atemlosigkeit.

Der Ursprung der Geschichten

Niemand hat so viel Phantasie wie der Ängstliche, der sich in seiner Sorge ausdenkt, was alles passieren könnte.

Wer Gewalt sät …

Dass sich unsere Kommunikation von der Fähigkeit entkoppelt hat, miteinander zu sprechen, lässt sich ablesen an der sich steigernden Tendenz zur Gewalt. Eine Welt, in der das Reden sich erschöpft, weil es aus allen medialen Kanälen fließt, wird anfällig für Brutalitäten aller Art.

Neulich

Das Wort Innovation drückt eher eine Sehnsucht aus als eine Wirklichkeit. Alles andere würde vom göttlichen Talent des Menschen, schöpferisch zu sein, viel zu seicht denken.

Ganz schön stark

Zu jeder Schwäche gehört eine Stärke, die sich woanders zeigt. Wer um Entscheidungen verlegen ist, zögert kaum, einen anderen unmittelbar verantwortlich zu machen für das, was dann um eines Effekts willen beschlossen werden musste. Man mag sich fragen, ob angesichts dieser fast regelhaften Parallelität von Unzulänglichkeit und Kraft es auch umgekehrt gilt: Wie lautet der Mangel, der die Macht mahnt, bescheiden zu bleiben?

Nicht so dicke

Zu Recht steht das Pathos der Rede oft im Verdacht, theatralisch zu sein: Was soll die sprachliche Übertreibung auch, wenn es die Sache nicht hergibt; sie klingt peinlich. Viel stärker wirkt das rhetorische Understatement, wenn die Begeisterung sich einstellen will, ohne dass es der Worte bedarf. Kein Kommentar ist stärker als der Text. Keine Reportage bedeutender als das Fußballspiel.

Sätze, denen die Luft ausgeht

Wenn nichts sonst, so kann man vom Vorsokratiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Martin Heidegger, zumindest lernen, wie man Sätze bildet, die gewichtig anmuten, aber im Verdacht stehen, äußerst leicht zu sein, weil sie vollgepumpt sind mit heißer Luft. „Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denken“, liest man in einer berühmten Schrift. Oder: „Das Gewährende, das so oder so in die Entbergung schickt, ist als solches das Rettende.“* Versuchen wir es noch dicht(end)er zu sagen:
Die Frömmigkeit fragt nach dem Denken.
Denken bedeutet, im Fragen fromm zu werden.
Das Fragen rettet die Entbergung, indem es das Gewährende ins Denken schickt.
Es frommt nicht alles, was das Denken gewährt.
Entborgen gewährt das Fragen die Rettung vor dem Denken …
Stoff für mindestens das Wochenende.

* Beide Sätze stehen im Vortrag „Die Frage nach der Technik“, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 40 und 36

Hinlänglich kurzatmig

Dafür, dass die Lüge nur kurze Beine hat, ist sie in der Welt schon ganz schön weit herumgekommen.

Plusminus

Der Unterschied zwischen Optimismus und Pessimismus ist nicht nur der einer Einschätzung. Wenn diesem eine Sache vornehmlich negativ vorkommt und jener sich ihrer erfreut, so ist doch die wesentliche Differenz, dass hier alles in der Beobachtung erstarrt, wohingegen dort gehandelt wird. Dem Pessimisten wird die Zukunft zum Gegenstand purer Anschauung, dem Optimisten ist sie der Ort seiner vitalen Gestaltungskraft.

Diffizile Differenz

Man kann nur unterscheiden, was nicht zu trennen ist. Was differenziert wird, bleibt in Beziehung. Der Imperativ, der bei George Spencer-Brown zur logischen Leitformel geworden ist, der Satz: „Triff eine Unterscheidung“*, klärt Verhältnisse, indem er sie aufreißt und zusammenfügt. Der absolute Unterschied ist nicht denkbar. Philosophisch ist Unsinn zu behaupten, man habe sich getrennt wegen unüberbrückbarer Differenzen. Stimmt es psychologisch? Vielleicht sollte ein Paar, das beschlossen hat, nur noch im Minimalfall „Wir“ zu sagen, erwägen, ob es nicht eher auseinandergegangen ist, weil ihm wachsend schwerer fiel, einen Unterschied zu setzen, wo allzu viele Brücken unabhängige Wege verhinderten. In der lebensstarken Fassung lautet die Maxime: Solange man (sich) unterscheiden kann, muss man sich nicht trennen.

Gesetze der Form, 3

Letzte Fragen

Letzte Fragen fallen aus dem Rahmen:
Warum soll ich mich ans Recht halten? Das ist nicht juristisch, sondern nur moralisch zu beantworten.
Wie gilt es, die Toleranz verteidigen? Wider deren Gegner: immer intolerant.
Was bedeutet es, ein Spiel zu spielen? Man muss es ernst nehmen.
Worin gipfelt die Entwicklung der Religionen? In der Vorstellung eines Gottes, der Mensch geworden ist.
Wer verdient, der Mächtigste genannt zu werden? Derjenige, der begnadigen kann.
Wieso ist das Ende zu bedenken? Damit wir wieder anfangen können.