Monat: Mai 2016

Auf dem Weg

Auf dem Weg zu sein, ist die Metapher für das menschliche Leben. Nur, dass sich die Wege des Lebens von den vielen Wegen, die wir im Leben gehen, dadurch unterscheiden, dass sich jene erst erzeugen, indem wir sie beschreiten.

Hoch hinaus zu geraten, bedeutet nicht immer, dass man weiterkommt. Nicht nur im Politischen gilt, dass der Gipfel der Ort des größten Stillstands ist – Ilona Reuig, On the Road. Skulptur im Rahmen der Zürcher "Gasträume"

Hoch hinaus zu geraten, bedeutet nicht immer, dass man weiterkommt. Nicht nur im Politischen gilt, dass der Gipfel der Ort des größten Stillstands ist – Ilona Ruegg, On the Road. Skulptur im Rahmen der Zürcher „Gasträume“ 2016

Um eine Armlänge voraus

Im übervollen Zug sitzen sie nebeneinander, Glück gehabt, überhaupt einen Platz zu bekommen. Beim Startbahnhof fragte er schon, ob neben ihr noch frei sei. Stumm verbringen sie lesend Hunderte von Kilometern, teilen sich die Lehne zwischen den Polstern und den knapp bemessenen Fußraum. Da berührt er sie unwillkürlich mit seinem Ellbogen. Ihm ist das peinlich. „Nein“, sagt sie, „ich muss mich entschuldigen, ich bin Ihnen zu nahe gekommen.“ Er blickt auf, sieht sie; es durchfährt ihn. „Schade“, erwidert er. „Was? Dass ich zu weit rübergerutscht war?“ „Dass Sie das gesagt haben. Irgendwie bin ich froh, dass Sie mir ein Stück nahegekommen sind.“ Sie unterhalten sich über das Anecken, ausgefahrene Ellbogen, Machtkämpfe. Als er aussteigen muss, bittet er vorsichtig um Ihre Telefonnummer. „Jetzt sind Sie mir doch noch zu nahe gekommen“, meint sie und deutet lächelnd zum Ausgang: „Sie müssen aussteigen. Sonst ist der Zug abgefahren.“

Glück und Frieden

Die beiden Trinkfreunde am Tresen heben die Weingläser. „Glück und Frieden“, wünscht der Einheimische „Das sagt man hier so.“ „Na dann“, erwidert der andere. „Frieden und Glück.“ „Ich wollte eigentlich keine Rangfolge hier hineinbringen“, meint der erste. „Ich schon“, sagt der Fremde. „Oder willst Du etwa behaupten, dass es gleich sei, ob der Frieden eintritt, weil die Menschen glücklich sind, oder das Glück kommt, weil es friedlich zugeht in der Welt?“„Nein“, sagt der eine. „Egal ist es nur, weil es uns an beidem fehlt, an Glück und an Frieden, Freund. Aufs schöne Leben!“

Aufgeblähtes Blabla

Große Worte – nichts schafft es wirkungsvoller, dass man für klein gehalten wird. Sie sind immer einen Tick zu ambitioniert für die Taten, so dass man sich selber dauernd in die Verlegenheit bringt, hinter sich atemlos herzulaufen. 

Allen das Gleiche, jedem das Seine

Man sagt immer, Menschen seien einander nur darin gleich, dass sie sterben müssen. Das stimmt, verkürzt aber die Wahrheit des Satzes: Es gehört zu den erstaunlichsten Erfahrungen eines Lebens, Zeuge zu sein beim Tod eines anderen. Die unmittelbar nach seinem Ende einsetzende Stille, die einen noch so großen Raum ganz und gar erfüllt, lässt sich jedes Mal spüren. Das verbindet die Individuen über alle Unterschiede hinweg. Als ginge mit dem Gestorbenen mehr als nur dieser eine Mensch, umfasst der plötzlich gegenwärtige Frieden Dimensionen weit über den Einzelnen hinaus. Im Überschuss an Stille wird ein letztes Mal der ganze Reichtum seiner Beziehungen erlebbar, werden seine Hoffnungen sichtbar, seine Träume anschaulich, ist seine Freundschaft einprägsam.

Die Ambivalenz des Anderen

Warum wir nie ein für allemal klären können, ob das Fremde mehr fasziniert als abstößt, eher irritiert oder orientiert? Weil es zu uns selbst gehört. Das Fremde ist unser Eigenes. Kein Mensch, der sich nicht immer wieder erlebt als einen, den er nicht kennt, ja kennen will. Allzu oft kommt vor, dass wir in Erwartung eines klärenden Selbstgesprächs plötzlich jemanden antreffen, mit dem wir scheinbar nichts zu tun haben. Wir sind es, die in dem Maße „Es“ sagen, wie sie vom „Ich“ sprechen und so anzeigen, dass auch das Innerste undurchsichtig ist. Dass wir uns gelegentlich fremd sind, ist der Preis, den wir zahlen für ein Subjekt, das nicht aufgeht in dem, was es sagt, tut, hofft oder erwartet. Das Fremde ist eine unserer größten Möglichkeiten.

Das Selbstbewusstsein als Missverständnis

Jeden Tag um dieselbe Stunde saß der Mann in der Kirche, immer in der dritten Bankreihe rechts. Der Pfarrer, der den Gast über eine gewisse Zeit beobachtet hatte, sprach ihn eines Abends an: Ob es ihm gut gehe? „Wenn es die Hölle gibt, sitze ich mittendrin.“ Erschrocken reagierte der beflissene Geistliche wider die eigenen Absichten und Einstellungen: Ja, dann müsse er dringend gehen, dann sei der Himmel für ihn wohl außerhalb des Gotteshauses. „Das hätte ich nicht erwartet“, sprach der Mann nun, „dass Sie das wirklich meinen. Die eigene Wahlstatt so verleugnen. Ich hatte nicht behaupten wollen, dass dieser Ort, an den ich täglich komme, um Entlastung zu finden, die quälende Unterwelt sei. Die finde ich vielmehr in mir und hoffte, Sie könnten mich daraus befreien. Nun aber muss ich feststellen, dass Sie offensichtlich der heilenden Wirkung Ihres Gottes und seines Hauses selbst nicht recht trauen und mich wegschicken. Was ich nie nur im Ansatz dachte, wird dieser Platz für mich jetzt: eine Stelle der größten Einsamkeit. Schade, durch Ihr Missverständnis bin ich der Wahrheit nähergekommen. Nur, dass sie nicht frei macht, sondern mich gefangenhält, indem Sie mich ins Freie weisen. Hätte gern mit Ihnen geplaudert.“ Der stotternde Rettungsversuch des kirchlichen Amtsträgers machte es nur noch schlimmer. Der Gast verließ wortlos seine Bank und schlich sich nach draußen.

Moralinsäure

Zur Nüchternheit einer Moral gehört, das Fehlverhalten von Menschen so lang zu bedenken, bis es zurückgeführt werden kann auf ein einziges Motiv: Angst. Sie ist es, die unser Tun und Lassen vergiftet, die dem Widerwärtigen Kraft, dem Missgünstigen Ausdauer, der Ablehnung Phantasie verleiht. Aber kann man für die eigene Angst verantwortlich gemacht werden? Wohl nicht – allerdings für ihre Folgen. Vielleicht entziehen sich die Beweggründe unseres Handelns überhaupt einer moralischen Zuschreibung, weil das Ich, das allein einstehen müsste für sein Wirken, eben nicht leicht zu fassen ist. War ich’s? Oder es? Und wenn, wer von uns? Wer nicht eindeutig auf diese Fragen zu antworten vermag – und das sind wir alle –, verlangt heimlich nach einer höheren Kategorie als Verantwortung. Gibt es die? Am Ende jeder Moral steht das Problem, ob Versöhnung zwischen Menschen eher zu erreichen ist, indem man sie als verantwortlich identifiziert und bestraft, oder durch Vergebung. Aber setzt nicht diese jenes voraus? Beide Formen der Erwiderung verlangen zumindest, dass sich Freiheit selber ernstnimmt.

Dem Volk aufs Maul schauen

Man muss dem Wutbürger nur gut zuhören, dann erschließt sich unmittelbar, dass die geschichtliche Parallelität zwischen dem Aufkommen von Philosophie, Rhetorik und Demokratie in der griechischen Polis auch eine sachliche Beziehung enthält. Ohne Sprach- und Denkfähigkeit, ohne den aufgeklärten Umgang mit logischen Formen ist eine souveräne Herrschaft des Volks nicht möglich, die ja nicht zuletzt vor allem eine Aufgabe besitzt: die Verschiedenheit der Einzelnen in einem Gemeinwesen als einen Konflikt zu beschreiben, der aus guten Gründen ausgehalten und dauerhaft bearbeitet wird, weil er im letzten wohl nicht zu lösen ist.

Neugier genügt

Was einen Wortwechsel auszeichnet, ist vor aller Geistesgegenwart, Heiterkeit oder Ideenfülle das Interesse am anderen. Wenn das fehlt, lässt sich eine Unterredung nicht retten durch noch so brillante Verstandestalente: Ohne Eros erodiert das Gespräch.

Zeichenstil

An der Art zu zeichnen lässt sich erkennen, ob ein Mensch mit der horizontalen Linie freier umgeht, die nach oben strebenden Bildaspekte mehr liebt oder beide gleichermaßen stilsicher beherrscht. Ähnlich ist es mit dem Denken: der auf einer Ebene sich erstreckende Sprachmodus schätzt die langen, ausufernden Geschichten, der vertikale die logischen Ableitungen eines Satzes über die genauen, scharfen Begriffsbestimmungen.

Produktivkräfte

Es wird immer betont, dass sich Vertrauen nicht herstellen lässt, sondern im besten Fall einstellt, wenn es einmal verlorengegangen ist. Das stimmt nur bedingt. Man kann den Inbegriff des Selbstverständlichen, paradox zu sagen, auch rekonstruieren aus den Bruchstücken einer Erinnerung. In der Vorstellung, alles sei intakt wie früher, formuliert sich so der Vorschuss an Verlässlichkeit, der seine Probe aufs Exempel allerdings noch vor sich hat. Am Ende ist Vertrauen, das unseren Umgang mit einer ungewissen Zukunft erst möglich macht und sich herleiten mag aus etlichen beglückenden Erfahrungen, nichts als reine Gegenwart.

Ware nicht abgeholt

Nichts wird  bei einem Meinungsaustausch weniger getauscht als die eigene Überzeugung: Die meisten nehmen vom Diskussionstisch genau die Gedankenware wieder mit nach Hause, mit der sie schon gekommen waren.

Das Duell

In einer Glosse aus dem Jahr 1985 mokiert sich Hans Blumenberg über das großsprecherische Gefasel all derer, die sich die Rettung der Welt (noch anmaßender: der Schöpfung) vorgenommen haben. „Der Mensch kann vieles zerstören, von Tag zu Tag mehr, und er kann mehr zerstören, als er jemals beigetragen hat zum Bestand der Dinge – aber die Schöpfung, das Universum der Welten und Sonnen, zahlloser Chancen für so etwas, wie er selbst ist – wenn bei dieser Gottestat es darauf jemals angelegt gewesen sein sollte – diese Macht hat er nicht. Ja er ist lächerlich weit, unendlich weit von ihr entfernt.“* Wenn Welt allerdings der bevorzugte, vielleicht ausschließliche Ort ist, an dem der Mensch sich selbst begegnet und auf dem er längst nicht mehr nur seine Konflikte mit sich selbst austrägt, was er seltsamerweise für eine Bedingung seines Lebens hält, wenn Welt auch zuwachsend der Gegner ist, den er mit sich selbst konfrontiert, dann steht freilich alles auf dem Spiel: Der Totalitätsbgeriff „Welt“, in dem er mehr denkt als nur diese Erdkugel, wird durch eine totalitäre Vorstellung des Handelns bedroht. Ein Mensch, dem es ums Ganze geht, vergisst leicht, ans Ganze zu denken.

*Rette, was wer kann! Wiederabgedruckt in: Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis, 31ff.

Versteh das einer

Zwei nach-pfingstliche Fragen, die das Denken anregen:
1. Was versteht man, wenn man nicht versteht?
2. Was versteht man nicht, wenn man versteht?

Handelsspanne

Die Grenzmarken, innerhalb derer sich unser Handeln Spielräume schafft: hier die zuweilen bedenkenlose Lust, etwas anzufangen, und dort die vollständige Lähmung durch das vermeintliche Wissen, wie eine Sache ausgeht. Was die Einfalt initiiert, macht die Erfahrung zunichte. Zwischen beiden Extremen, der Naivität und dem Zynismus, sucht sich der Wille seinen Platz, um sich über die Tat zu verwirklichen. Dabei leiht er sich von der einen Seite den Mut und von der anderen die Klugheit.

Heilige Unruhe

Die beiden Haupteigenschaften, mit denen der pfingstliche Geist im Testament bedacht wird, sind die des Trostes und der Wahrheit. In alle Wahrheit wird er die Menschen leiten, so steht es geschrieben, er, dessen Charakter ist zu trösten. Das mag stutzig machen, vor allem wenn man oft genug erlebt hat, dass untröstlich so mancher wird, wenn er erfahren hat, wie eine Sache wirklich war, und wie verlogen ein Hilfsangebot wirken kann in Momenten, da nicht mehr geholfen werden kann. Was also haben Trost und Wahrheit gemein; was verbindet sie? Die überlieferten Texte verweisen noch auf ein drittes Geistestalent: das Geschäft der Auslegung. Mit dem Geist verschwindet aus der religiösen Rede der Dogmatismus, das „Einfach so“, und es kehrt das Verlangen ein, sie zu deuten. Also, versuchen wir es mit einer hermeneutischen Variante: Nur eine Wahrheit, die um Einverständnis wirbt, vermag zu trösten; nur ein Trost, dessen wesentliches Bemühen ist zu verstehen, verdient, wahr genannt zu werden. Oder aber: Wahrheit bedeutet hier nicht die Konfrontation mit einer nackten Tatsache. Und Trost ist mehr als eine gelegentliche Fähigkeit des Menschen, über vertrackte Situationen hinwegzukommen. Beide sind Formen einer spannungsreichen, lebensstiftenden Beziehung. Ein geistvoll getrösteter Mensch muss sich selbst nicht mehr interpretieren als jenes Lebewesen, dessen Los es ist, in unauflösbaren Verhältnissen verstrickt zu sein, sobald ihm die Augen geöffnet werden. Mit dem Heiligen Geist endet das Zeitalter der griechischen Tragödie.

Alte Spielerregel

Der intelligente Spieler lernt, seine Niederlagen zu lieben, weil nur sie ihm Garant sein können für stabile Erfolge. Was vermittelt eine größere Achtung vor den eigenen Grenzen, tiefer Demut und Bescheidenheit als eine klare, nüchterne und ehrliche Analyse von Augenblicken, in denen man sich selbst überschätzte und deswegen den Kürzeren ziehen musste.

Das Mauerblümchen unter den Tugenden

Der Makel jeder ausgleichenden Gerechtigkeit: Sie ist langweilig. 

Beherzt herzlos

Verlauf einer Liebesgeschichte, kurzgefasst: Am Anfang war die Tat. Am Ende nichts als Worte.

Was ist der Unterschied?

Was die schlechte Laune eines anderen verstärkt: Heiterkeit.
Was die schlechte Laune eines anderen mildert: Freundlichkeit.

Sehen und gesehen werden

Das Gesicht ist der Körperort, an dem Ausdruck und Eindruck zusammenfallen. Nichts verrät mehr über einen Menschen als sein Antlitz, nichts lässt sich schwieriger beschreiben. Aber mit ihm stellt er sich nicht nur der Welt vor. Über die Augen nimmt er sie auf in ihrer ganzen räumlichen und zeitlichen Vielfalt. Nicht zuletzt wegen dieses Doppelsinns ist das Gesicht die Bühne, auf der sich Verbergung, Ehrlichkeit, Andeutung und Anmut, Ärgernis oder Dumpfheit ein verspieltes Stelldichein geben.

Verspielt

Das Spiel ist der Begriff von einem größeren Ganzen, das nie den Anspruch erhebt, totalitär zu sein. Wenn Violine, Klavier und Cello einen Klang ergeben, wie er nur von Virtuosen dieser Musikinstrumente erzeugt werden kann, so mögen die Künstler sich ergänzen oder harmonieren, doch das melodische Ergebnis dieses Zusammenspiels ist mehr als die dirigierte Addition dessen, was auf dem Notenblatt steht. Regeln wie die Anweisung, nach der Pause im Sechzehnteltakt fortzufahren, ermöglichen erst das Konzert, doch niemand wollte zuhören, wenn die Musiker nichts anderes im Sinn hätten, als sich an diese Ordnung streng zu halten. Zu jedem Spiel gehört eine Verspieltheit, die dafür sorgt, dass es in sich selbst nicht aufgeht.

Mobilitätsreserven

Unsere Vorstellungen von Freiheit haben viel zu tun mit Raum und Mobilität, wobei der Raum nichts anderes ist als das Versprechen, sich bewegen zu können. Was noch nicht erreicht, aber erzielbar ist, bedeutet der Freiheit alles, wohingegen die fixe Beschäftigung mit dem Aktuellen von ihr leicht als Gebundenheit erlebt wird.