Monat: Februar 2022

Die Unvernunft unter Waffen

„Es trifft einfach nicht zu, daß der Krieg nur ein Mittel zum Zweck ist, noch daß die Menschen unbedingt für dieses oder jenes Ziel kämpfen. Tatsächlich ist das Gegenteil wahr: Menschen machen sich oft dieses oder jenes Ziel zu eigen, damit sie kämpfen können. Während der Nutzen des Krieges als Mittel zur Verwirklichung praktischer Ziele durchaus in Frage gestellt werden kann, stand seine Fähigkeit, zu unterhalten, zu inspirieren und zu fesseln nie in Zweifel. Krieg ist, ganz offensichtlich, Leben.“*

* Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, 330f.

Der Ausweg

Man darf sich aus Enttäuschung die eigene Naivität nicht so weit zerstören lassen, dass nicht einmal mehr der letzte Ausweg gedacht werden kann, der tödliche Exzesse eines dynamischen Gewaltkreislaufes jenseits von Erschöpfung oder Vernichtung zu beenden vermag: der Akt, der die Schuld, die einer auf sich geladen hat, ihm nicht anrechnet.

Und dann?

Viel schwerer, als etwas zu bekommen, was man unbedingt haben will, ist, ein Verhältnis dazu zu bekommen, wenn man es hat. Da geht es um Rechtmäßigkeit, Sinn und Feinsinn, Gestaltungswillen. Die Aufgabe beginnt mit der Inbesitznahme; sie endet da nicht. Machthaber und Rechthaber täuschen sich elementar, wenn sie meinen, von diesem Gesetz des Eigentums, das nicht nur Sachen umfasst, sich suspendieren zu können.

Der Krieg des einen, der Krieg aller

Auf die Personalisierung des Konflikts durch die Verantwortungszuweisung an den einen, der ihn auslöst und treibt, kann es sinnvoll und lösungsgerecht nur die Reaktion geben, dass der eine zur Rechenschaft gezogen wird und nicht alle, die er ins Unglück stürzt. Es mag in der Kennzeichnung des Überfalls auf die Ukraine als „Krieg Putins“ die leise Hoffnung liegen, dass die Weltgemeinschaft die Zerstörungswut eines Wahnsinnigen hindert, ohne die Methode Putins (zwei „Touristen“ reisen mit tödlichem Gift nach England, um eine Kathedrale zu besuchen) anwenden zu müssen.

Wahrheit wider Gewalt

„Es gibt einen langen und seltsamen Kampf, wenn die Gewalt die Wahrheit zu unterdrücken sucht.“ So weit die Beschreibung, mit der einer der schärfsten Denker des siebzehnten Jahrhunderts, Blaise Pascal, die Logik der Auseinandersetzung zu fassen versucht. Der Rest ist durchsetzt von apokalyptischer Hoffnung und eschatologischem Glauben: „Doch alle Anstrengungen der Gewalt können die Wahrheit nicht schwächen und dienen nur dazu, ihren Glanz zu erhöhen. Alles Licht der Wahrheit vermag der Gewalt keinen Einhalt zu tun; es reizt nur noch mehr ihren Zorn. Wenn Macht gegen Macht kämpft, dann vernichtet die stärkere die schwächere; wenn Rede gegen Rede steht, dann wird die wahrheitsgetreue und überzeugende die zuschanden machen, die nur Eitelkeit und Lüge ist. Jedoch ist daraus nicht zu folgern, sie seien einander ebenbürtig. Es besteht zwischen ihnen vielmehr die große Verschiedenheit, dass die Gewalt nur begrenzte Dauer hat, da Gottes Ordnung ihre Wirkungen zum Ruhme der angegriffenen Wahrheit lenkt, während die Wahrheit ewig währt und schließlich den Sieg über ihre Feinde davonträgt, weil sie wie Gott selber ewig und allmächtig ist.“*

* Briefe in die Provinz. 12. Brief, Werke 3, 249

Toleranz und Verantwortung

Toleranz ist Freiheit, gesellschaftlich gedacht. Verantwortung ist Freiheit, individuell verstanden. Verzeihung ist Freiheit, vergangenheitsorientiert. Gestaltung ist Freiheit, in die Zukunft gerichtet. Es gibt keine Toleranz ohne Verzeihung. Es gelingt keine Gestaltung ohne Verantwortung.

Großes Kino

Größer als der Gewinn, den die eigene Überlegenheit ummünzt in territoriale Grenzverschiebungen, Besetzung von Kommunikationskanälen, in Deutungshoheit oder wirtschaftliche Erfolge, größer als diese Formen des Herrschaftswillens ist allemal das Vergnügen, das sich ergibt, wenn alle anderen die Hilflosigkeit und Ohnmacht des Gegners und seiner Verbündeten vorgeführt bekommen. Man unterschätze nicht den Spieltrieb der Mächtigen. Die Freude, die aus der Dominanz erwächst, ist Schadenfreude.

Ich stehe nicht zur Verfügung

Man kann jede vernünftige Ethik auf den zentralen Begriff der Unverfügbarkeit zurückführen. Würde, Achtung, Respekt, das sind alles Distanzhaltungen, welche die ehedem vielleicht große Enttäuschung, nicht genauer sehen und tiefer eindringen zu können in das, was Menschen auszeichnet, in eine Geste der Gelassenheit umgewandelt hat: nicht anzurühren, was sich nur unangemessen berühren ließe. „Dies also ist das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, das es selbst nicht denken kann“, notiert der Kopenhagener Philosoph Sören Kierkegaard.*

* Philosophische Brocken, Gesammelte Werke 6, 34

 

Soll ich?

Ein alter, kluger Vorsatz rät, die größte Wachsamkeit und Vorsicht walten zu lassen bei Angeboten, die man eigentlich nicht ablehnen kann. Offerten, die einem lang gehegten Wunsch genau entsprechen, die in die Karriereplanung konsequent passen, die soziale Stufen nach oben zu überspringen helfen, die Partnerträume überzuerfüllen versprechen, scheinen auch bei näherer Betrachtung nur Vorteile zu haben. Bis auf, und das ist vielleicht der kritische Haken eines jeden Geschenks, dass sie die eigene Souveränität listig umgehen. Entschlusskraft und Urteilskraft werden von solchen reizvollen Anerbietungen geblendet, ja ausgeblendet. Es hilft, nicht spontan zu reagieren. Und sich zu dem noch einmal klar zu entscheiden, das sich für einen schon entschieden hat. Distanz ist die zentrale Kategorie, die am Ende Näheverhältnisse belastbar macht.

Aus: ZEIT-Magazin 24 / 2017, als Buch erschienen: Janosch, Wondrak für alle Lebenslagen, Stuttgart 2021, 15

 

Endgültig

Es gibt viele Gründe, warum es so attraktiv ist, das letzte Wort für sich in Anspruch zu nehmen: die Angst, in einer Diskussion den Kürzeren zu ziehen, das Gefühl, im Recht zu sein, Starrsinn oder die Lust an der Dominanz, die Frustration über endlose, ergebnislose, nutzlose Gespräche, die Ungeduld überlegener Intelligenz, Desinteresse an der Überzeugung anderer … Es gibt vornehmlich einen Grund, darauf zu verzichten: die latente Unmenschlichkeit von Urteilen, die als definitive einem Satz die Möglichkeit seiner Interpretation rauben. Freiheit lebt von der Anerkenntnis, dass ein letztes Urteil in wesentlichen Angelegenheiten anmaßend ist. Fördert das Unverbindlichkeit? Nein, es ist die Bedingung stabiler Bindungen.

Machtversagen

Diktaturen gefährden sich selbst, wenn ihre Machthaber in ihrem Streben nach Größe und Kontrolle die Kontrolle über ihren eigenen Größenwahn verlieren. Zu viel Macht beendet die Herrschaft genauso wie zu wenig Macht.

Der Sachverständige

Eine Sache zu verstehen setzt mehr voraus als Sachverstand. Die fachliche Qualifikation qualifiziert einen Menschen noch nicht für das Fach. Das muss vertreten werden und jene eingeordnet in ein größeres Ganzes, wozu solche unscheinbaren, aber wichtigen Eigenschaften gehören wie Urteilsfähigkeit, Entschlusskraft, Handlungssicherheit, Kommunikationsgespür, Lebensklugheit. Wer zum Berater taugt? Das ist einer, der mit sich zu Rate zu gehen weiß, bevor er sich zur Sache äußert.

Person und Persönlichkeit

Eine Persönlichkeit ist weniger beschrieben durch ihre Fähigkeiten oder Charaktermerkmale als viel mehr durch das Verhältnis, das sie zu diesen Talenten entwickelt hat. Dieses „Mit sich“ – mit sich zu Rate gehen, mit sich im Reinen sein, mit sich rechnen – , diese Selbstbeziehung ist der Ort, an dem sich entscheidet, wie reif, wie klar und bestimmt, wie identisch, gar authentisch ein Mensch ist. Von einer Persönlichkeit zu reden heißt, über das Auskunft zu geben, was zwischen Ich und Mir geschieht.

Das kannst du dir doch denken

Eine Beziehung, aus der der Konjunktiv verschwunden ist, verarmt. Wo nur noch zählt, was ist, wo Wunschform wie Vergeblichkeitsrede nicht anerkannt sind als Modi einer umfassenden Kommunikation, da finden Sehnsüchte und das ungelebte Leben, Träume oder Enttäuschungen keinen sprachlichen Ort. Auf sie aber kommt es an. Sie bereichern und beglücken, ja stärken den Realitätssinn von menschlichen Verhältnissen. Nicht Möglichkeiten oder Versäumtes bedrohen die Wirklichkeit, nicht die Fiktion das Faktische, sondern der strikte Verzicht auf sie, der eine Welt trostlos macht, weil er ihr jegliche Perspektive raubt.

Unmögliche Liebe

Es kann der Liebe nicht schaden, wenn zum Kriterium in der Partnerwahl nicht nur das phantasiereiche Talent Achtung erfährt, schönste Versprechen zu geben, sondern vor allem auch die mindestens so wichtige Fähigkeit zu verzeihen. Denn die Stabilität einer Beziehung hängt an dem, was sie zugleich gefährdet: an der festen Zusage, die emphatisch Treue heißt, und mehr noch am Willen, sie zu erneuern, wenn darauf kein Verlass war. Niemand beherrscht auch nur einen Bruchteil seiner Zeit so, dass sich eine Versicherung fürs gemeinsame Leben ableiten ließe; umso entscheidender sind Enttäuschungsfestigkeit und das Geschenk des Freispruchs.

Entschlossenheit

Im Vorfeld einer Handlung erreicht man jenen intensiven Kippmoment, an dem der Wille zu ihr seine maximale Kraft entfaltet hat, ohne sich schon in der Tat selber zu beweisen. Dieser Punkt konsequenten Nachdrucks kann sie manchmal folgenreich ersetzen. Nie ist die Klarheit einer Absicht stärker mit ihrer Ausführung verbunden als in diesem Augenblick, kurz bevor die Aktion die Regie übernimmt und damit auch eine Eigendynamik in Gang setzt, die sie von den ursprünglichen Beweggründen entfernen könnte. In Verhandlungen gilt die Regel: Souverän ist, wer über seine eigene Entschlossenheit bestimmt.

Explosive Atmosphäre

Entrüstung ist selten ein Mittel, mit dem ein Gegner zur Abrüstung gezwungen wird.

Jenseits der Logik

Es gibt ein Maß für Wahrheit, das jenseits der Logik regelt, was anerkennenswert heißt und Geltung für sich in Anspruch nehmen kann: die Erträglichkeit von Sätzen. Je weniger Zumutungen eine Gesellschaft als akzeptabel ansieht, desto geringer die Chance, dass gehört wird, wenn einer sagt, was ist. Empfindlichkeit ist der Feind der Empfindsamkeit. Die Verlegenheit zu sprechen sucht sich ihren Ausweg in der Verlogenheit, nur das zu erzählen, worüber von vornherein befunden ist, dass es ausgedrückt werden darf. Stärker noch als die Fiktion bedroht der moralische Rigorismus das Reden über Realität.

Herrschaftszeiten

Eine Sprache zu beherrschen heißt, dem Wort zu dienen. Die entlarvende Ausrede derer, die die Grammatik beugen, ist, sie wollten die Sprache nicht beherrschen. Man möchte ihnen fast recht geben.

Zu viel Gestern

Wie man sich von der Vergangenheit befreit? Durch möglichst viel Zukunft. Was nicht bedeutet, sich die lästigen Erinnerungen und Empfindungen durch eine Unzahl an Alltagsaufgaben von der Seele zu halten; das bereitete nur die ungeregelte Wiederkehr von Verdrängtem vor. Aber das Maß an schönen Perspektiven, die Kräfte, die aus der Hoffnung kommen, lebendige Zuversicht und starke Erwartungen lehren das, was man sonst nicht lernen kann: zu vergessen, ohne das Gedächtnis auslöschen zu müssen.

Voll oder leer

Eine der wichtigsten Lernaufgaben des Lebens ist, den Unterschied zwischen den beiden Formen der Langeweile zu beherrschen: der leeren, die Kräfte maßlos absorbiert, und jener anderen vollen, die Ideen und Phantasie überreich schenkt. Kultur bedeutet, genau differenzieren zu können zwischen Ödnis und Muße.

Aus prinzipiellen Gründen

Man glaubt den hehren Handlungsprinzipien nicht mehr, wenn zu viele niedere Interessen schon erklären, warum hier etwas getan und dort eine Sache unterlassen wird. Die trivialen Motive haben immer größere Überzeugungskraft als die edlen Gründe.

Seelentröster

Schaut man auf die heilende Wirkung, fallen viele psychologische Richtungen, die diagnostisch brillant oder theoretisch tief gegründet sind wie die Psychoanalyse oder die systemische Therapie, ab. Die Erklärung, warum eine Seele leidet oder nach welchen Muster sie sich organisiert, ist nicht identisch mit der Einsicht, dass es so stimmt wie beschrieben, und bewirkt noch lang nicht jene Entscheidungen, die nötige Veränderungen in den Lebensformen zur Folge haben.

Samstagmorgen

Woran man erkennt, dass das Wochenende begonnen hat: die Zahl der nicht nur schlecht, sondern auch schlampig gekleideten Männer in den Innenstädten hat deutlich zugenommen. Der unmittelbare Übergang vom business look in den shabby chic (was auch immer an abgetragener Kleidung so heißen mag) legt nahe, dass die deutsche Form von Bequemlichkeit nicht lässig, sondern nur ausgebeult ist.