Tag: 1. August 2022

Gewissen ohne Biss

Das Entsetzen, wozu Menschen fähig sind, wenn Hemmungen fallen, verdeckt die Frage, welche Fähigkeiten fehlen, damit nicht geschieht, was Schreckenstat genannt zu werden verdient, weil sie das provoziert, das sie hätte verhindern sollen: ein umfassendes Unbehagen. Das Gewissen, auch wenn es mehr ist als das restriktive „Über-Ich“ und als Orientierungsinstanz der Bildung bedarf, gerät in einer Welt, die Schuldfragen und mit ihr die Verantwortung ins Abstrakte zu delegieren gelernt hat, die die Instrumentalisierung von Menschen systemisch belohnt, nicht zuletzt Gewalt als medialen Aufmerksamkeitsanreiz verniedlicht, zu einem belächelten Minderheitenhandicap, dessen Bisse durch Gewöhnung stumpf zu schleifen sind. Wer nicht versteht, dass ein Gewissen geradezu an der Spitze kultureller Höchstleistungen steht, muss sich nicht wundern, dass sein verbreiteter Mangel auch die Barbarei wachsen lässt.