Das Vorurteil vieler Psychotherapien ist, dass sie ein vorschnelles Verständnis für sinnvoller halten als das Ausharren in dem Geheimnis, das wir Seele nennen. Als ob das Leben sich ereignete nach dem Muster von Problem und Lösung, und nicht vielmehr in der Anerkenntnis, wie gering Zugriff und Eingriff sich auf das auswirken, was man im besten Fall versteht im Lassen. Die Psychologen haben die Seele verbannt und durch ein Konstrukt ersetzt, das sich denken und behandeln lässt.
Monat: Juli 2022
Lebendiger Brauch
Was für ein schöner Samstagsbrauch: Pünktlich um zwölf, wenn die sengende Sonne im Zenit steht und die Schatten am schärfsten sind, breitet sich Glockengeläut vom Kirchturm aus übers Tal und wird von den Felswänden durch ein sanftes Echo diskret verstärkt. Die Dorfläden verabschieden den letzten Kunden; die Kreissäge in der fernen Schreinerei fährt ihr Kreischen müde herunter; Stille legt sich übers Land, die bis zum Wochenanfang garantiert nicht mehr unterbrochen wird. Ab und zu kräht irgendwo ein heiserer Hahn oder bellt ein aufgeschreckter Hund. Aber kein elektrischer Rasenmäher, kein Laubbläser im Nachbargarten, kein Handwerker, der sich was dazuverdient, kein aufgedrehtes Autoradio stören den Frieden. Von nun an gestalten die Glocken die Zeit: abends um sechs, am Sonntagmorgen, zur Hochzeit am Nachmittag. Solange Rituale fest bleiben, ist der Brauch, den sie repräsentieren, lebendig, bezeugt selbst von denen, die nicht mehr die Lebenswelt teilen, aus der er stammt.
Paarbeziehung
Nichts hält eine Paarbeziehung so stark zusammen wie eine große Übereinstimmung in dem, was man lächerlich findet.
Die Zweckentfremdung der Moral
Es gibt kein besseres Marketing, als eine Sache zu verbieten. Moralische Entrüstung bringt nicht zum Verschwinden, worüber sich aufzuregen angemessen erscheint, sondern verschafft dem Skandalisierten erst die Aufmerksamkeit, die sie zu vermeiden sich anschickte, und garantiert dem Erzürnten mindestens Publizität.* Noch immer ist die vornehmste Form der Kritik Ignoranz.
* Der Sommerhit des Jahres ist das Ballermann-Lied „Layla“
Stöbern
In alten Texten gestöbert und eine Fülle neuer Gedanken gewonnen. Was die Wiederholung aushält, ohne dass es langweilig wird, verdient klassisch genannt zu werden.
Lügengebäude
Preisfrage: In welcher Gesellschaft wird mehr gelogen? In der, die eine Misstrauenskultur etabliert hat, weil sie mit Betrug, Verschleierung und Unterschlagung schon von vornherein rechnet, und die zu deren Vermeidung ein dichtes Netz der Kontrolle ausgelegt hat, ja den prinzipiellen Verdacht pflegt? Oder in der anderen Lebensform, die dem Vertrauen einen höheren Stellenwert einräumt als dem Argwohn? Die Lüge, die hier zwar technisch leichter funktioniert, wiegt gleichwohl moralisch schwerer. Bei denen, die das Misstrauen mit dem menschlichen Hang zu Täuschung und Selbsttäuschung rechtfertigen, wird über den Hang des Misstrauens geschwiegen, sich selbst zu „belohnen“, indem es List und Heuchelei geradezu provoziert.
Lass mal sein
Ferien, das ist die schöne kurze Frist, in der vertraglich geregelt und gesellschaftlich legitimiert einem von Tag zu Tag mehr egal sein darf. Diese bemessene Gleichgültigkeit ist die wichtigste Voraussetzung für jegliches Interesse.
Die Krankheit der Welt
Carlo Schmid, im Herbst 1979 kurz vor seinem Tod, schreibt einen langen Brief an den damaligen Bundeskanzler und Mitgenossen Helmut Schmidt, der ihn um Rat und Stichworte für eine Rede ersucht hatte, die er auf dem anstehenden Parteitag der SPD halten wollte:
„Die Jugend erleidet den Staat als ein kaltes Ungeheuer, das statt lebendiger Kontakte Fragebogen produziert, sie will auch im öffentlichen Leben Wärme spüren, sie will ,natürlich‘ sein können, sie will weniger Staatsräson und mehr Brüderlichkeit erleben … Bei dieser Jugend, auch bei dem durch diese Ängste nicht betroffenen Teil, herrscht der Impuls vor: die Krankheit der Welt kann geheilt werden, wenn man den Virus, der sie krank macht und der in uns selber steckt, ausrottet: den Virus der Macht … Wo (unter dem Wort ,Demokratie‘) nicht mehr verstanden wird als eine politische Technik zur Ermittlung des Mehrheitswillens im Volke, wird seine Anrufung kaum seelische Kräfte in uns wachrufen; anders, wenn wir darunter den Ausdruck des Willens eines Volkes zur Achtung der Würde eines jeden Menschen und damit seines Rechtes auf Gestaltung der Formen und Inhalte der politischen und gesellschaftlichen Existenz des Ganzen begreifen.“*
* Brief vom 24. Oktober 1979, abgedruckt in: Die Zeit 52 / 1979
Die Verbindlichkeit der Ungewissheit
Ein fast schon vorsätzliches Missverständnis des Denkens ist, Ungewisses zugleich auch für unverbindlich zu halten. Diese Fehleinschätzung erklärt die verblüffend späten Reaktionen auf entdeckte Gefahren. Antizipieren kann nur, wer dem Künftigen das Potential zumisst, schon in seinen Anfängen das Volumen seiner späteren Kraft zu besitzen, so dass Eingriffe, die rechtzeitig genannt zu werden verdienten, nur frühzeitig erfolgen können. Entscheidungsgrundlage für solche Interventionen ist immer das wissenschaftlich anrüchige Vorrecht des Plausiblen vor der Empirie, der Urteilskraft vor dem Beweis.
Gott fehlt
Man könnte die reduzierte gesellschaftliche Funktion der Religion in die Aufgabe legen, dass sie – wenn sie schon nicht mehr scham- und verlegenheitsfrei von seiner Gegenwart zu reden sich traut – uns erinnert, wo und wie sehr uns Gott fehlt. Auch das wäre im besten Fall eine Predigt aus dem Geiste negativer Theologie, die zwar nicht tröstet, aber Sehnsüchte zu erwecken vermag. Gott fehlt, das ist ein Satz jenseits von Ignoranz und Gleichgültigkeit, der zudem offen ist für die größte aller Irritationen: dass er eine Beschreibung darstellt für sein Gegenteil, Gott ist da.
Die letzte Generation
Es ist noch nicht lang her, da galt es als Vorrecht der Jugend zu glauben, dass mit ihr die Welt erst anfange. Heute befürchtet sie demonstrativ, dass mit ihr die Welt ende. Auch das ist eine Zeitenwende: dass der Optimismus sofort im Verdacht steht, nur die fröhliche Tarnung des Egoismus von gewissen- und gedankenlosen Besitzstandswahrern zu sein.
Die zwei Namen der Unvernunft
Die Herrschaft der Unvernunft hat zwei Namen: Anarchie und Bürokratie. Die eine kennt kein Gesetz, die andere kennt nichts als das Gesetz.
Maß halten!
Wir leben in einer Welt, deren oberstes Gebot zwar lautet: Maß halten, aber deren größte Zweifel sich auf das richten, was verbindliche Einschränkung erlaubt: allgemeine Maßstäbe.
Liebe zum Leben
Das Leben zu lieben bedeutet, mehr zu lieben als nur das Leben.
Wenig Tröstliches
Was Kultur zu leisten vermag, lässt sich vollständig erst erkennen, wenn das Maß der Trostbedürftigkeit des Menschen ein solches Niveau erreicht hat, dass er die Ablenkung durch Musik, Film, Theater, Literatur, Sport braucht, um eine Welt aushalten zu können, deren Alltag weniger von leichter Routine geprägt ist als von den bissigen Zumutungen eines Überlebenswillen. Dass Lachen gesund sei, diese Volksmundregel, die aus den reichen Eigenschaften der Heiterkeit eine therapeutische herausstreicht, konnte nur auffällig werden in Zeiten, die krank sind und krank machen.
Schwieriges Verhältnis
Man kann nur aushalten, was man liebt, wenn man ihm auch vorhalten kann, was man an ihm nicht liebt.
Urlaubsgefühl
Niemand hat so viel Urlaub wie der, den die eigene Arbeit erfüllt mit Freude und Sinn.
Krisengerede
Schlimmer als die schwierigste Krise ist die Furcht vor ihr. Die zur Trivialformel verkommene Wahrheit, dass in jeder Krise Gelegenheiten verborgen seien, verdeckt die vielleicht wichtigste Erkenntnis: In ernsten Entscheidungsphasen zu stehen bedeutet aufgefordert zu sein, den Überlebenswillen vergessen zu machen durch starke Lebensformen, und dabei jene Hoffnung zu entdecken, die der Frage, wozu das alles, gewachsen ist, weil sie Wirklichkeit in Möglichkeiten, Sein in Sinn zu verwandeln vermag. Sich zu fürchten meint, dieser latenten Überforderung auszuweichen.
Glücklich geschieden
Das große Leid in vielen Beziehungen rührt daher, dass sie allzu lang nach ihrem Ende erst enden.
Mehr als nur Manager
Führen kann, nicht nur managen, wer versteht, dass man verantwortlich sein kann für das, wofür man zuständig ist, und dass Zuständigkeit nicht Verantwortung zu ersetzen vermag.
Storytelling
Nicht nur wie sie darzulegen, sondern vor allem wann die Pointe anschaulich zu setzen ist, das zu wissen unterscheidet den, der eine Geschichte zu erzählen vermag, vom Märchenonkel.
Missverständnis Kirche
Sonntag für Sonntag strengen sich die Prediger auf den Kanzeln an, die Texte, die sie mitgebracht haben, so auszulegen, dass Gottes Wort als säkulare Rede verstanden wird: statt um den Glauben an den Weltenerlöser geht es um Gläubigkeit; statt die Hoffnung als radikale Zeitenwende zu interpretieren, beschwören sie den Rest an Zuversicht; statt von der Liebe in ihrer hartnäckigen Unbedingtheit zu sprechen, empfehlen sie Freundlichkeit und Geduld. Sonntag für Sonntag kommen immer weniger Zuhörer in die Kirchen, um ihr Leben, das sie mitgebracht haben, so gedeutet zu sehen, dass an jede seiner Alltäglichkeiten Gottes Zuspruch und Anspruch gerichtet ist.
Nicht nein sagen können
Im Ideal der Nachhaltigkeit hat der depressive Charakter sein gutes Gewissen gefunden. Er muss nicht wegwerfen, wovon er sich nicht trennen kann.
Geburtstagsgrüße
Es ist einer der stärksten Antriebe des Lebens, aus dem noch nicht gelebten kein ungelebtes werden zu lassen.