Monat: August 2022

Mut und Macht

Es wäre mehr Mut in dieser Welt, und weniger Macht, wenn die, die meinen, das letzte Wort unbedingt haben zu müssen, eher darauf bedacht wären, das Wort zuerst zu ergreifen.

Liebe, unvollendet

Trauer, das ist immer unvollendete Liebe …

Hast du das gesehen?

Einen Menschen sehen heißt vor allem: ihm zuhören.

Wissen ohne Beweis

In nicht seltenen Fällen handelt das philosophische Denken von jenem Wissen, das sich nicht stützen kann auf einen klaren Beweis – dennoch mehr zu sein beansprucht als zweifelnde Ungewissheit und deutlich weniger sein will als selbstzufriedene Weisheit. Seit alters beginnt es mit dem Staunen, aber womit endet es? Viel spricht dafür, es für den Ausweis einer glücklichen Vernunft zu halten, wenn es auch mit dem Staunen aufhört. Und so Anfang nach Anfang setzt.

Angstfrei handeln

Der große Erfolg der Wirtschaftslehren in der Gesellschaft rührt daher, dass sie mit dem, wenn auch falschen, Versprechen unangestrengter Angstfreiheit still werben. Was sich berechnen lässt, so die unterschwellige Überzeugung, verliert seine Unfasslichkeit. Qualität, die dargestellt ist als Erfolgsquote, Leistung, die den Vergleich sucht über Gehaltsboni, Seniorität, Präsenz und all die anderen kommunikativen Arbeitskompetenzen, die sich in einem Punktesystem wiederfinden, das über Beförderung entscheidet, Performancesterne bis hin zur zuverlässig kalkulierten Übereinstimmung bei der digital unterstützten Partnerwahl, sie alle ordnen die Welt nach einfachsten Kriterien. Wie so oft, ist aber auch hier der Preis für die Sicherheit ein hohes Maß an Reduktion, die als Komplexitätsverzicht die Bedeutung des Weltverlusts maskiert. Wörter, zu Geschichten gefügt, die sich interpretieren lassen, repräsentieren eine Realität genauer als Zahlen, über die zu diskutieren nicht lohnt. Sich mit dem Leben anzufreunden meint, dessen Ungewissheit zu schätzen.

Gleichheitsgrundsatz

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Kampf um Gleichheit die Unterschiede setzt.

Arbeitsschutz

Gewerkschaften glauben, man müsse den Menschen vor der Arbeit schützen. Und kämpfen gegen hohe Dienstzeiten und niedrige Löhne. Gewerbetreibende glauben, man müsse die Arbeit vor den Menschen schützen. Und bauen Fabriken für Roboter und Server für automatische Systeme. Beides resultiert aus einem Übermaß an Ansprüchen: der Verabsolutierung des Menschlichen, das die Arbeit für sein Sinnbedürfnis instrumentalisiert, und der Verabsolutierung der Leistung, die den Menschen zwischen die Zwecke der Effizienz und der Perfektion einzwängt.

Über Reiz und Reaktion

Eine Lesefrucht:
„Was gibt es Naiveres, als Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem zu vergelten? Das ist die unterste Stufe. Eine Art Fortschritt besteht darin, diese Wirkungen zu kreuzen, Böses mit Gutem, Gutes mit Bösem zu vergelten, was erstens die guten und mehr als guten Wesen bestimmt; zweitens seltsame, perverse Wesen, weitaus unmenschlichere als die anderen. Diese beiden Gattungen sind seltener als die von mir zuerst erwähnte. Aber noch seltener wird wohl die Gattung jener sein, die dem ihnen Angetanen überhaupt keinerlei Folge geben, die man als Reaktion bezeichnen könnte, welche auf die Empfindungsfähigkeit oder Intelligenz desjenigen abzielt, der sie gut oder schlecht behandelt hat. Diese scheinen den Anderen für etwas absolut Fremdes, für ein Ding oder Tier zu halten, zu dem nur rein physische Beziehungen bestehen. Ohne Zweifel glauben sie, daß Lieben, Hassen, Verzeihen, Sich-Rächen, Liebkosen oder Trösten Irrtümer sind, naive, läppische Späße oder Reflexe, ebenso unnütz wie der Zornesausbruch gegen den Stein, an dem man sich den Fuß angestoßen hat.“*

* Paul Valéry, Werke 5, 462

Wir Jäger des Möglichen

Verlässlichkeit, Loyalität, Treue sind starke Haltungen, die sich nicht gut vertragen mit der üblichen Jagd nach reizvollen Opportunitäten. Wer fiebrig auf der Suche ist, für sich stets das noch Bessere zu finden, wird die vielen Möglichkeiten nie entdecken, die sich auftun, sobald man bei der Sache bleibt. Gerade weil das Leben ein groß inszeniertes Provisorium ist, verschenkt der Chancen, der jede neue Chance ergreift und diese Offerten für Fluchtangebote ins Optimale hält. So gewinnt er zwar nicht zuverlässig sich, aber er verliert garantiert alle Gelegenheiten, sich zu entgrenzen in einem Wir oder einer Aufgabe, deren Perspektiven sich erst aufschließen, wenn man sich ihr widmet, entlastet von der sprunghaften Nervosität des jederzeit vorbereiteten Aufbruchs.

Apokalypseparty

Solange die Apokalypse partyfähig ist, muss man sich um die Welt keine großen Sorgen machen. Dass auch der ernsteste Anlass noch taugt, ein Event von hoher Erregungsqualität daraus zu formen (Solidaritätskonzerte oder Straßenblockaden mit Sekundenkleber), spiegelt nur, wie umgekehrt die kleinste Lässlichkeit hochgejazzt wird zum Skandal von weltpolitischem Niveau (selbstfliegende Oppositionschefs oder tanzende Ministerpräsidentinnen). Entspanntheit im Unwesentlichen ist die Grundvoraussetzung für das, was der Ernst repräsentiert, wenn er nicht vereinsamen soll: eine realitätsdichte Erkenntnis, also nicht verlogene oder selbstbetrügerische Wahrnehmung der von allen geteilten Lebenswelt.

Ein und Alles

Das Exklusive ist der fahle Widerschein des Absoluten. Wenn es heißt, dass ein Mensch einen anderen „vergöttere“, so sehr dass ihm aus der Vorstellung geraten ist, was kühl Alternative genannt wird, dann verklärt er ihn, meist nur in sehr knapp bemessenen Lebensabschnitten, den Einen zu Allem. Nie wird die Individualität, auch die attraktivste, weniger ernstgenommen als in den Augenblicken, da sie das Allgemeine repräsentiert. Was oft als überschwänglicher Liebesbeweis gilt – du bist mein Ein und Alles – ist immer heimlich das größte Unglück einer Beziehung, weil das Alles vieles ist, was das Eine nicht sein kann.

Lebensunterhalt

Nicht nur von seinem Beruf, sondern für ihn zu leben, das macht den Profi aus.

Welche Probleme?

Der Pragmatiker verliert in dem Moment sein Interesse am Problem, in dem er eine Lösung gefunden hat. Es hat sich aufgelöst. Dem Prinzipialisten erscheint es indessen dann noch als bedenkenswert, weil jede Antwort implizit an die Frage erinnert, der sie einmal entsprochen hat, und so die Wege offenhält, auch andere, bessere Erwiderungen zu finden. Die Funktion von Schwierigkeiten ist, sich selbst in ihrer Bewältigung zu steigern.

Schatz, reichst du mir bitte das Salz

Nie blickt man öfter in ausdruckslose Gesichter als im Urlaub beim abendlichen Restaurantbesuch. Dort sitzen abgeklärt Paare an Tischen, die für vierzehn Tage unausgesetzte Zweisamkeit gebucht haben, wie einst in den Flitterwochen, obwohl sie einander lange schon nichts mehr zu sagen haben.

Leidsätze

Die Leitsätze, die zu jeder Kunst gehören, sind nicht selten zu Prinzipien verdichtete schlechte Erfahrungen. Man könnte sie mit Fug auch Leidsätze nennen. Die oberste dieser Grundeinsichten, die aus der Vergeblichkeit erwachsen sind, lautet in der Rhetorik: Du kannst reden, was du willst. Wenn es nicht das ist, was du bist, hört dir keiner zu.

Frieden stiften

So wie der Krieg das Wort durch die Gewalt ersetzt, bedeutet Frieden zu stiften, statt der Gewalt das Wort wieder einzusetzen.

Leichte Kost

Jeder Genuss hat die Form einer Episode. Das Maß seiner Vergänglichkeit bestimmt die Höhe der Intensität. Was auf Parties als Fingerfood sofort die verlegene Suche nach einer passablen Ablage auslöst, weil der Häppchenteller in der einen Hand und das Weinglas sich beim Gebrauch unfreiwillig komisch stören, das findet seine Analogie in anderen Lebensformen: in den raschen Schnittfolgen der Filme, im Musikmedley, in zitablen Kalendersprüchen aus der Welt des Geistes. Nie wird die Intention von Kultur, Langeweile zu vertreiben unmittelbarer aufgenommen, nirgendwo ist sie unbefriedigender erfüllt.

Variationen zu Descartes

Ich denke: Warum bin ich?
Niemand denkt an mich. Also muss ich Ich sein.
Denk nicht so viel. Sei lieber.
Immer, wenn ich nicht denke, bin ich.
So bin ich, denke ich.
Keiner denkt so wenig wie der, der nur an sich denkt.
Es ist unmöglich zu denken, ohne zu sein. Aber es ist möglich zu sein, ohne zu denken.
Auch wenn ich denke, nicht zu sein, bin ich trotzdem.
Ich denke, also bin ich ein Denkender.
Ich denke, aber so bin ich nicht schon ein Denker.
Denk nur nicht, schon zu denken, nur weil du bist.
Was heißt, das Sein zu denken, wenn es kein bloßes Gedankending sein soll?

Falsche Schlüsse

Die meisten falschen Schlüsse ziehen wir, weil wir nicht genau genug beobachtet haben. Denken beginnt sinnlich, weil einer mehr gesehen hat als andere.

Herrschaftsverzicht

Sich zu beherrschen, nicht die anderen, das ist die Grundvoraussetzung für eine gute Regierung.

Machtbesessen

Nichts deckt eine Charakterschwäche so gnadenlos auf wie der Besitz von Macht, besser: die Besessenheit durch Macht.

Darüber hinaus

Sehnsucht heißt der Teil des Lebens, der uns erinnert, dass es eine Frage stellt, ja darstellt, für deren Beantwortung es nicht ausreicht. Es dehnt sich immer schon über sich selbst hinaus. Die Religion hat diesem Verlangen drei Namen gegeben: Glaube, Hoffnung, Liebe.

Der Ernst des Lebens

Der Kopenhagener Philosoph Søren Kierkegaard im Garten der Königlichen Bibliothek

„In einem Schauspielhause geschah es, daß die Kulissen Feuer fingen; der Bajazzo trat vor, um das Publikum davon zu benachrichtigen. Man glaubte, es sei ein Witz, und applaudierte. Er wiederholte die Anzeige: man jubelte noch lauter. So, denke ich, wird die Welt unter allgemeinem Jubel witziger Köpfe zu Grunde gehen, die da glauben, es sei ein Witz.“*

* Søren Kierkegaard, Entweder – Oder I, Diapsalmata

Urbane Kräfte

Nicht die Zahl seiner Einwohner, sondern ob er es schaffen könnte, dich deinem Leben zu entreißen, macht einen Ort zur Großstadt. Zuhause sein in der Metropole ist ein verlegenes Widerstehen gegen Fliehkräfte, die dich dir selbst entfremden wollen, eine zwiespältige Abwehr von nimmermüden Angeboten und Attraktionen, die genau den Reiz darstellen, um dessentwillen du sie aufgesucht hast. Großstädte sind das falsche Versprechen, nichts anderes zu brauchen.