Monat: Juli 2022

Schwachsein ist stark

Die Stärke schwacher politischer Systeme wie der Demokratie ist ihre größere Freiheit. Die Stärke offener Theorien wie der Phänomenologie ist ihre Wirklichkeitsnähe. Die Stärke einer Religion der Ohnmacht wie des Christentums ist ihre Kraft zur Versöhnung.

Ruhe, bitte

In einer Welt, die ihre Betriebsamkeit gleichsetzt mit Lebendigkeit, wird das gelegentliche Ruhebedürfnis als Überempfindlichkeit diagnostiziert, auf die Rücksicht zu nehmen allenfalls widerwillig und missbilligend selbst dort geschieht, wo eigens eingerichtete quiet zones als letzte Asyle vor Lärm ausgewiesen sind. Der Schläfrige gilt als Spielverderber, der stille Arbeiter als tragische Figur unter all den lustigen Teamworkern.

Meinungsvielfalt

Die Struktur, wie heute ein Streit verhindert wird: „Du hast deine Meinung. Er hat seine Meinung. Was soll‘s?!“ Weil nur noch Sichten auf die Dinge relevant sind und nichts mehr zwingt, die Wahrheitsfrage zu stellen, lässt sich einer Auseinandersetzung, die mit Argumenten zu führen wäre, elegant (nein: feige) aus dem Wege gehen. Der Titel „ Meinung“ verniedlicht eine sachliche Perspektive, die um Richtigkeit ringt, zur letztlich gleichgültigen und vor allem grundlosen Einstellung. Man muss sie nicht ernstnehmen. Denn: „Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten.“* Wen interessiert‘s?

* Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 851

Denken heißt Überschreiten

Das Denken erkennt, anders als die Phantasie, im ganzen genommen, seine Grenzen (an). Indem es allenthalben die Schranken der Gegenwart, des Körperlichen, des Handelns und der Geschichte, der Kräfte, nicht zuletzt der vorhandenen Wirklichkeit überwindet, schärft es das Bewusstsein für sein Leistungsvermögen. „Denken heißt Überschreiten“*, notiert Ernst Bloch mannigfach. Aber immer so, dass es, wenn es mit dem arbeitet, was nicht da ist, zuletzt zielt auf die Veränderung dessen, was da ist.

* Bsp. Das Prinzip Hoffnung, 2

Wann wird es endlich wieder Winter?

Unter allen Kennzeichen, die dem Sommer zugeschrieben sind – dass er zu heiß sei, ins Wasser gefallen, übergangslos früh eingesetzt habe oder sich farbenprächtig zeige, ragt eines heraus: Er ist laut. Männer am Grill, die sich mit Bierflaschen fröhlich zuprosten, vor Glück kreischende Kinder an der Wasserrutsche, Hobbygärtner mit Laubbläsern, bevorzugt am Sonntagmittag, Motorräder, die aus der Ferne dröhnen, der Motorsegler über dem Tal, Bauarbeiter, die zuverlässig morgens um sieben das Gerüst abbauen, grölende Passanten in den nächtlichen Straßenschluchten, allüberall Krach. Eine vergessene Definition in der Anthropologie: Der Mensch ist das lärmende Tier.

Pünktlich zur Sommerpause

Auf die Frage, wie es dem anderen gehe, hört man immer öfter die knappe Antwort: „geschafft“ oder „erledigt“. Die beiden finalen Wörter bezeichnen, statt sich auf Aufgaben zu beziehen, die zu Ende gebracht wurden, den Zustand, der kein Ende sieht, aber herbeisehnt: Ich bin geschafft, aber habe es noch nicht erledigt. Erschöpfung tritt ein, wenn Person und Sache meinen, sich so duellieren zu müssen, dass jene regelmäßig den Kürzeren zieht. Seltsam zu sagen, das Gegenteil ist – ein Mensch, der sich findet, weil er sich in seinem Tun verlieren kann.

Das Kalkül des Autokraten

Der Autokrat hält die Demokratien für dekadent. Man muss sie, so sein Kalkül, nur lang genug mit Konflikten beschäftigen, bis sie sich, uneinig, selber schwächen, oder, kompromisslos, in Autokratien verwandeln.