Tag: 7. Juni 2023

Zu abstrakt

Die leichthin vorgehaltene Kritik, ein Gedanke sei zu abstrakt, in Ermangelung von Lebensnähe oder Praktikabilität, verkennt den Sinn von allgemeinen Aussagen. Sie handeln stets von Gesetzen, Mustern, Formen der Verbindlichkeit und geben neben der präzisen Verortung einer Idee zur besseren Orientierung in einer Art Koordinatensystem des Denkens Sätzen das ihnen entsprechende Gewicht. Es ist einfacher, dem Allgemeinen das Besondere zuzuordnen, was im oft sehr abstrakten Unternehmensdeutsch „Umsetzung“ heißt, als umgekehrt die richtige Regel zu finden für ein „konkretes“ Handeln. Nicht selten zielt der Vorwurf der Abstraktheit weniger auf das Fehlen von Anschaulichkeit, als dass er versucht, den hohlen Raum zwischen Denkfaulheit und Denkunfähigkeit zu kaschieren. In einem kleinen, polemischen und hintersinnigen Text schreibt Hegel, „abstrakt und beinahe auch Denken, ist das Wort, vor dem jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft“*.

* Hegel, Wer denkt abstrakt?, Werke 2. Jenaer Schriften 1801 – 1807, 575. Die Pointe dieser Schrift ist die Antwort: „Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete.“ (577)