Monat: Juli 2023

Die stille Rache

Nachbarn: ständige Vertretung des anderen Ich, das man nie hatte sein wollen, im eigenen Leben.

Die Stunde Null

Das ist die Kunst der Kreativität: dass sie immer wieder bei null anfängt, als hätte sie mit sich selbst nie Erfahrungen gemacht. Man mag es Ignoranz nennen. Dabei ist es vielmehr jene Inspiration, die der Begeisterung zu eigen ist. Sie vergisst ja nicht. Ihre Zauberformel lautet indes: als ob … alles so zu betrachten, als ob es das erste Mal sei. Was sie so entdeckt: vor allem jene Kräfte und Kraft, die in allem steckt, was gerade erst entdeckt worden ist. Um die geht es dem schöpferischen Tun.

Die andere Sinnlichkeit

Das, was wir das Geistige nennen, ist in Wahrheit nur die Sinnlichkeit des Inneren. Auch Worte berühren, rühren an, schmeicheln oder schmerzen, hinterlassen ein aufgekratztes Gemüt und sind Balsam für die Seele – die Metaphern stammen alle aus der Empfindungswelt der Körperlichkeit. In seinen glücklichsten Varianten ist das Sprechen und Denken nichts als ein Liebesspiel.

Schön reden, schönreden

Der wahre Konstruktivismus ist kein erkenntnistheoretischer, nach dem es dem Menschen unmöglich sei, eine objektive Realität wahrzunehmen, jeder sich also seine Wirklichkeit im eigenen Kopf zurechtbaut. Sondern er ist sprachlicher Natur und hat unmittelbar Effekte auf das Selbstvertrauen, die Tatkraft, das Ansehen. Mit den richtigen Worten wird liebenswert, was schon geliebt ist. Durch Lob wird jene Leistung überhaupt erst provoziert, die es bereits voraussetzt. Und nicht zuletzt lässt sich schönreden, was sonst unauffällig geblieben wäre. Die eigentliche Macht der Sprache ist ihre schöpferische.

Hierarchie der Zuneigung

Freunde, deren Lebenseinstellungen den eigenen so ähnlich sind, dass sie verstehen, ohne dass man groß reden muss, steigen in der Hierarchie der Zuneigung auf in den Rang eines Komplizen. Dieser spiegelt die wahre Form des Miteinanders, das von der Mitwisserschaft über die Mittäterschaft reicht bis zur Mitverantwortung.

Die Schwäche der anderen

Das eine ist, Macht zu erhalten; das andere, diese Macht zu erhalten. Macht erhält, wer die Schwäche der anderen zuerst erkennt. An der Macht hält sich, wer die eigenen Schwächen zu verbergen weiß.

Routinen als Ruinen des Alltags

So mancher gewohnte Ablauf im Alltagsbetrieb, über den nie einer ernsthaft nachgedacht hat, bekommt erst seinen Sinn, wenn er seinen Sinn verloren hat, weil sich Entscheidendes ändert. Dann wird er zur Fluchtroutine, zum funktionsleeren Tun, das einfach weiterbesteht, obwohl sich drumherum alles gewandelt hat. Das aber seine Bedeutung erhält, wenn der Schock des Neuen zu tief sitzt, so dass, im Vertrauten Asyl zu suchen, vor der Nötigung umzudenken und sich weiterzuentwickeln fürs erste schützt. Zu beobachten ist diese Reaktion bei manchen Todesfällen, wo einfach weiter ein zweites Tischgedeck aufgetragen oder das Bett des Hingeschiedenen regelmäßig aufgeschüttelt wird, was unfreiwillig komisch wirkte, wenn der Anlass kein trauriger wäre. Welches sind die Rituale des gesellschaftlichen Alltags, in die hinein wir uns wegstehlen, weil die Brüche unserer Zeit zu radikal geworden sind?

Konsequente Kritik

Jede Kritik, die sich ihrer impliziten Konsequenzen nicht bewusst ist, verliert die Legitimation. Das gilt aufs Offensichtlichste im reinen Denken, das durch Missachtung der logischen Folgen sich schnell als falsch entlarvt. Nicht minder aber verliert ein Urteil seinen Ernst unmittelbar, wenn es im Gestus empörter Radikalität vorgetragen zugleich offenbart, dass sein Autor persönliche Veränderungen kaum fürchten muss. Schon die Kapitalismusverachtung der Frankfurter Schule konnte sich des Vorwurfs nicht erwehren, von Leuten vorgetragen worden zu sein, die die Vorzüge bürgerlicher Existenz ausgiebig genossen und sich so das Etikett einhandelten, „Salonkommunisten“ zu sein. Gleiche Muster zeigen sich bei Klimaaktivisten, die mit dem veralteten Diesel zur Protestkundgebung anreisen. Das alles ist inkonsequent. Gleichwohl keine Widerlegung der Kritik. Denn es gibt ein beredtes Zeugnis für das gebotene Niveau gesellschaftlich relevanter Einsprüche: Sie müssen jenseits von Gut und Böse, Wahrhaftigkeit und Verlogenheit, Authentizität und Heuchelei positioniert werden. Es bedarf einer Kritik ohne Moral.

Unwirtliche Wirklichkeit

Die unter Pragmatikern populäre Verachtung der Theorie verkennt, dass sie, psychologisch gesehen, vor allem ein Barmherzigkeitsquell ist fürs Leben, das dank ihrer überhaupt erst in den Vorzug kommt, alle unwirtlichen Aspekte der Wirklichkeit ausblenden zu können. Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in dem Maße tauglich sind, wie in ihnen aufgeht, was in Wahrheit nicht aufgeht.

Geltungsansprüche

Toleranz heißt jene Duldsamkeit, die die Probe bestanden hat, auf die sie gestellt worden ist. Sonst, ohne die Anfechtung von Geltungsansprüchen, ist sie nichts als billige und billigende Gleichgültigkeit.

Sprachkurs

Pausengespräch mit dem Handwerker, der sein Land verlassen musste, weil ein anderes ein kriegslüsternes Verbrechen begeht, über die Schwierigkeit, eine neue Sprache zu lernen. Der deutsche Schlauberger fängt gleich an zu erklären: „Ich schreibe, du schraubst“. So ein Doppelvokal setzt nicht selten einen beruflichen Unterschied. „Ich verstehe“, erwidert der Gesprächspartner, während er zum Werkzeug greift: „Ich denke, du: Danke! Ich erst überlege und dann schraube, du kannst schreiben.“ Wer mit den Wörtern spielen kann, hat die Sprache begriffen.

Sprunghaft

Ich bin auf dem Sprung – das ist die reinste Form der Gegenwart in einem Satz formuliert: noch nicht fort, schon nicht mehr da. Jeder, der das einmal zu hören bekommen hat, weiß, dass in solchen Augenblicken eine Begegnung unmöglich ist. Im besten Fall verabredet man sich kurz für eine passendere, spätere Gelegenheit. Ist das nicht sinnbildlich fürs Leben im ganzen: das Sprunghafte, Flüchtige, Transitorische? Und was bedeutet es für ein Miteinander? Nichts lässt sich festhalten, nie ist alles erreicht.

Schlau werden

In den Archiven finden sich viele Notizen, aus denen der Autor dieser Zeilen auch Jahre später nicht schlau wird. Sie wegzuwerfen, zu löschen, wagt er nicht, obwohl er sich ihre Bedeutung nicht erschließen kann. Und hofft schlicht darauf, dass sie einfach noch nicht an der Zeit sind. Es gibt Texte, die zu früh geschrieben, vielleicht auch publiziert sind. Lang lassen sie sich nicht unterscheiden von jenen Stücken, die nur schlecht und unsinnig genannt zu werden verdienen.

Deutsche Politik

Die Intention, sich für das Richtige zu entscheiden, ist verkümmert zum Ideal, es allen recht zu machen. Deutsche Politik, das ist die Degeneration des Parlaments zum Sammelbecken für die Moralisten des Landes. Der Staat ist zum wärmsten aller warmen Ungeheuer geworden.*

* Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Vom neuen Götzen: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ,Ich, der Staat, bin das Volk‘.“

Die Vernunft in der Nacht

Es gibt Abende unter Freunden, die sich heiter einschwingen auf ein seltenes Niveau klugen Austausches. Und dennoch jäh abgebrochen werden, weil eine letzte vernünftige Eingebung die Reue des nächsten Tags antizipiert, dessen nachkartende Dumpfheit stets schwerer wog als die Zunge nach dem Genuss des Rotweins. Es ist ein finales Aufbäumen, bevor die Kraft nicht mehr ausreicht, sich dem Sog der späten Stunde zu erwehren, der für einen kurzen Augenblick die Gedanken noch einmal tief sein lässt, dann die Gesprächsqualität stetig herabzieht und schließlich dafür sorgt, dass man sich nicht einmal mehr aufraffen kann zu gehen.

Vorgekaut

Im pragmatisch sich tarnenden Wunsch, einen Gedanken gebrauchsfertig präsentiert zu bekommen, verbirgt sich nicht selten dessen Entwertung. Wo das Niveau einer Idee ausschließlich an deren Umsetzbarkeit gemessen wird, bleibt ausgeblendet, dass eine der vornehmsten Aufgaben des Denkens ist, das allzu hastige Handeln heilsam zu unterbrechen. Und die Frage nach dem Zweck zurückzustellen zugunsten der Suche nach dem Sinn.

Der Name des Schicksals

Die antike mythische Vorstellung, dass ein Schicksal über die Welt verhängt ist, hat einen neuen Namen bekommen: Gegenwärtig heißt es, je nach Dimension, Wetter, Witterung oder Klima. Anders als in den frühen Tagen des Denkens, die das Los oder Omen von fremden Mächten bestimmt sein ließ, ist das moderne Fatum allerdings weitgehend menschenbeeinflusst. Nur das Gefühl, ihm ausgeliefert zu sein, ist geblieben.

Die Paradoxie der Disziplin

Disziplin heißt die Freiheit, die sich zwingt: Ich muss, weil ich will. Und will, weil ich nicht anders kann.

Warum nur?

Warum Veränderung nicht leicht ist? Weil wir zu viel Warum fragen. Das Denken in Kausalitäten hindert die Suche nach den Zwecken und Zielen. Was interessieren die Gründe, weshalb die Bahn mal wieder zu spät gekommen ist, solange nicht klar ist, wohin die Reise geht und wann sie angetreten werden kann. So logisch, dass das eine dem anderen zwangsläufig folgt, ist die Welt nicht. Ursachen dienen der Vermeidung beim nächsten Mal, und erst dann der Erklärung.

Der Zyklus des Antizyklischen

Unternehmer ist, wem gelingt, seine Angst zu disziplinieren. Das ist die psychologische Bestimmung wirtschaftlichen Handelns. Aber keine Erfolgsgarantie. Zu kaufen, wenn keiner die Sache haben will, und zu verkaufen, wenn niemand sie loswerden mag, kann vernünftig sein oder nicht. Der Rest ist die nachgängige Erklärung, einer habe früher die Chancen gesehen als andere, die unter dem Namen „Geschäftsglück“ deutlich ehrlicher ist.

Der Tanz

Nirgendwo wird so unmittelbar deutlich, was das Selbstvertrauen eines Menschen erlaubt, wie im Tanz. Sich so frei zu bewegen, dass das Maß der Körperphantasie nur von Rhythmus und Takt der Musik bestimmt ist, je genauer, desto lebendiger, das gelingt, sobald die Reflexion von der Selbstvergessenheit für einen langen, ausgelassenen Augenblick absorbiert wird. Kehrt sie zurück, kommt sie nicht allein, sondern in Begleitung der Scham, die sofort prüft, was vor aller Augen zu sehen war und sonst nur den intimen Situationen vorbehalten ist.

Routine, die sich selbst aufhebt

Sein Vortrag ist dicht zusammengesetzt aus lauter Sätzen, die er samt eingespieltem Witz gewiss schon so oft gesagt hat, wie der Zugbegleiter seine Begrüßung den Zugestiegenen routiniert tonlos vorgelesen. Wie soll da ein neuer Gedanke durchdringen?

Du kannst es nicht lassen

Lassen, das ist jene enttäuschungssensible Einsicht, die verstanden hat, dass nicht zu fassen ist, von dem man gerade noch geglaubt hat, es sei zum Greifen nah. Man könnte es auch die Idealform einer Beziehung nennen.

Stell dich nicht so an

Immer öfter hört man in dieser Republik, sobald es zu erreichen gilt, was nicht regelkonform, ungewöhnlich oder gar ein Bruch der Usancen ist, unausgesprochen und in ungezählten Wendungen den Satz des Achselzuckens, der gelegentlich erwidert wird auf leicht anspruchsvolle Ansinnen: „Da sind mir die Hände gebunden. Ich bin hier auch nur angestellt.“