Ein Prüfgang mit dem Winzer durch die Weinberge: In der nächsten Woche beginnt die Vorlese. Die Trauben für den Fasswein werden aus den Rebstöcken geschnitten, damit das, was noch hängen bleibt, in den verbleibenden Spätsommerwochen zu hoher Qualität reifen kann. Es ist ein Spiel mit dem Wetter, dem Wingert, das kein Jetzt oder Nie, kein eindeutiges Ja oder Nein kennt. Um das Beste zu gewinnen, muss sich Erfahrung mit dem Glück verbinden. Dieses Niveau ist nicht mehr berechenbar.
Monat: August 2023
Im Abendlicht
Mitten im Feld, dort, wo die Kräuter geerntet werden, der Kohl wächst und die Kartoffeln, ist der Blick auf die Skyline spektakulär. Die Dämmerung rückt die fernen Bürotürme der Stadt in gleißendes Licht; die Fenster spiegeln die letzten Sonnenstrahlen des Tags. Zwei Autos stehen auf dem Weg, das eine ein rotes Oldtimer-Cabrio, tadellos geputzt und blank gewienert. „Super Karre“, kommentiert der Passant. Die Männer, die sich um den Wagen geschart haben wie die Schafe um die Tränke, grinsen. Der Spaziergänger ist schon ein paar Meter weitergegangen, als einer laut genug flüstert: „Super Take“. Kurz wendet der Abendausflügler seinen Kopf. Er nimmt wahr, wie zwei Nackte aus dem Fahrzeugheck krabbeln, umhüllt von Badetüchern. Er sieht, wie Kameras abgestellt werden auf dem Frontflügel. Er registriert die ausgelassene Stimmung in der Gruppe. Das Licht ist magisch. Die Tagestemperatur noch sommerwarm. Das Ambiente mit dem Hochhaushintergrund gewiss reizvoll für einen schnellen Dreh. Der Ort abgelegen genug. „Super Porno“, murmelt er. Und geht seines Wegs.
Spaltmaße im Zwischenmenschlichen
Die Unterschiede zwischen Verbindlichkeit, Genauigkeit und Kleinlichkeit gehen im Zwischenmenschlichen nicht über ein paar Nuancen hinaus. Sie zu ermessen lässt den Umgang taktvoll, korrekt oder, im schlechtesten Fall, pedantisch und kläglich erscheinen. Es ist eine Frage der Herzensbildung, das Niveau zu beherrschen.
Im Gegenteil
Das Gegenteil von „verliebt“ ist nicht „entliebt“, sondern „verletzt“.
Schöpfung und Vernichtung
Die größte Leistung der Sprache ist, dass wir von Gegenständen reden können, die nicht da sind. Sie stellt vor Augen, was vielleicht anders nie existieren könnte als in der Phantasie. Nicht ohne Grund gerät das Wort so in die Nähe der Vorstellung von dem, was wir mythisch Schöpfung nennen. Was das höchste Vermögen der Sprache ist, stellt aber auch deren stärkste Versuchung dar: sich Unnötiges einfallen zu lassen, sich mit Fragen zu quälen, die sinnlos sind, bis hin zur boshaften und bösen Lust, das Offensichtliche zu leugnen.
Das Heilige und die Nüchternheit
Religion ist eine Frage der Nüchternheit, wie die Spiritualität das Rauschhafte und Romantische braucht.
Nichts stimmt
Wer als verlogen gilt, dem glaubt man nicht mal mehr die Lüge.
Wohlgefühl
Auf den Satz „Ich habe mich wohlgefühlt“ ist die einzige sinnvolle Erwiderung die Frage: Wo? Er ist immer mit einem Ort verbunden. Da war einer ganz bei sich, weil er woanders war als nur bei sich. Dass er für jemanden einen solchen Ort darstelle, ist wahrscheinlich das Schönste, was sich über einen Menschen sagen lässt.
Ohne Erinnerung
Es gibt Gedächtnislücken, die das Ich nicht fragmentieren, sondern geradezu notwendig sind für den Erhalt seiner Identität.
Klangwelten
Die Orgel, der Allrounder unter den Instrumenten, kann sich, wie Generalisten sonst auch, nicht entscheiden, was sie sein will: Schlagzeug, Streicher oder Bläser, ein Einpersonenorchester, dessen Klänge überwältigen, sobald alle Register gezogen sind. Wenn sie hingegen sich reduzieren muss, auf eines festgelegt durch die Komposition, wirkt sie tönern und hohl, blass oder fiepsig. Das ist die Beschränktheit des Generalisten, dass in ihm nicht viele Spezialisten sich vereinen, sondern er entstanden ist aus der Vermeidung, einer zu sein.
Ideenklau
„Ich habe mir die Gedanken dieses Autors zu eigen gemacht.“
„Wie respektlos von Ihnen. Und ohne Sinn und Verstand.“
„Aber ich finde, dass er genau ausdrückt, was ich empfinde.“
„Das mag sogar sein, aber Sie haben es eben nicht ausgedrückt. Und das macht einen Unterschied in der ganzen Sache.“
„Und was daran ist jetzt respektlos?“
„Na, dass Sie Fremdes nicht fremd sein lassen.“
„Und warum ohne Sinn und Verstand?“
„Weil dieser Autor nur eines will: dass Sie selber denken. Und eines nicht will: dass er für Sie denkt.“
„Aber das merkt er doch gar nicht.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Sicher aber ist, dass Sie es merken. Denn Sie verraten nicht nur ihn, sondern auch sich.“
Lieder, die Worte machen
Eher als das Wort ist es die Musik, welche die kirchlichen Rituale am Leben erhält. Je schöner die Lieder, desto stärker stiften sie Gemeinschaft für die Augenblicke von Klang und Nachklang. Gerade wo die Kunst nur sich selbst feiert, weil sie einem Wort zu entsprechen versucht, das nichts ist für sich sich selbst, aber alles für andere, sind alle, die ganz von ihr ergriffen sind, mehr als nur bei sich selbst.
Grenzen setzen
Die wahren Grenzen einer Beziehung werden nicht gesetzt, sondern sind schon definiert, dort nämlich, worüber man gerade noch sich gemeinsam erheitern kann. Lachen und Weinen geben eine genaue Auskunft über das, was mit einem anderen Menschen zu leben möglich ist.
Das Geheimnis des Unternehmers
Jede Art unternehmerischen Handelns zieht seine Kraft aus einem täglichen Wettbewerb mit sich selbst. Erst dadurch bekommt es die Qualität, in der Konkurrenz mit anderen zu obsiegen.
Asozial
Unversöhnlich ist der psychologische Name für das, was soziologisch „asozial“ heißt. Nur wer verzeihen kann, ist auch gesellschaftsfähig.
Wählerwille
Das ist das Missverständnis der politischen Parteien: dass sie ihr Programm ausrichten an einer Vorstellung von dem, was der Wähler will, anstatt ein Programm vorzustellen, an dem der Wähler sich ausrichten will. Populismus ist stets die Versuchung derer, die sich vom Volk so weit entfernt haben, dass sie meinen, sie erreichten es, indem sie ihm nachlaufen. Es gibt kein klareres Merkmal der Entfremdung zwischen Menschen als die gedankenlose Anbiederung.
Weltkrisen
Angesichts der Krisen in der Welt mag es schon optimistisch stimmen, wenn man nur auf Pessimisten trifft, die nicht auf deren Untergang wetten.
Unter der Bedingung, dass …
In seiner Struktur ist ein Anreizsystem nichts anderes als jene üble Erziehungsmethode, die das schlechte Gewissen instrumentalisiert: Es soll als Antrieb für geforderte Leistungen funktionieren und im Versagensfall ausschließen, dass sich ein Scheitern wiederholt. Beide Formen der Motivation arbeiten mit Bedingungsverhältnissen; sie setzen nicht auf Einsicht. Wenn nur dies geschieht, folgt jenes zwangsläufig. Solche konditionalen Lockungen oder Drohungen unterlaufen regelmäßig das Niveau, dem sie selber entstammen: dem Talent des Menschen, sich zugunsten selbstgesetzter Ziele der Notwendigkeit von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen entziehen zu können.
Die Wegschau-Gesellschaft
Die Angst der Bequemen hat einen Namen: Sie heißt Feigheit.
Tugend als Tarnung
In der Moral haben sich Egozentrik und Rechthaberei ein gutes Gewissen verschafft.
Verlassen
Wer verlassen wurde, spürt den größten Schmerz gleich am Anfang der Trennung. Wer verlassen hat, entdeckt seine Einsamkeit oft erst viel später.
Im Zwischen
Die größte intellektuelle Herausforderung in diesen Zeiten ist, trittsicher jenen schmalen Grat zu gehen, der zwischen Relativismus und Dogmatismus verläuft. Dort allein bleibt vieles möglich, weil weder alles mögliche möglich ist, noch nur eines als möglich notwendig gedacht werden darf. Zwischen den vielen Wahrheiten und der einen, die den Anspruch erhebt, absolut zu sein, vermag Geltung nichts zu sein als das Ergebnis eines sinnvollen Streits, dem es um mehr geht, als es allen recht zu machen, oder das Richtige für sich zu reklamieren. Geltung ist stets das Resultat eines Risikos, das eine Position eingegangen ist, die selbstbewusst und erfolgreich zu vermeiden versucht hat, sich zu verlieren.
Verzweifelt hoffen
Gelegentlich ist Hoffnung nichts anderes als eine Verzweiflung ohne Alternative.
Weltmisstrauen
Die Welt wird kleiner, je größer das Misstrauen wächst, das sie weckt. Wo fake sich vor die Fakten stellt, verlieren wir das Interesse an den Dingen. Wer im Leben nur spielt, mit dem will irgendwann niemand mehr spielen.