Monat: Juni 2023

Verspielte Religion

Zum Zustand der Kirchen heute, ein hundertsiebzig Jahre alter Text:

„Wahrlich, es gibt etwas, was dem Christentum heftiger zuwider ist als jegliche Ketzerei, jegliche Spaltung, heftiger zuwider als alle Ketzereien und Spaltungen zusammen, und das ist: Christentum zu spielen. Folgendes aber heißt … Christentum spielen: dass man die Gefahren wegnimmt … und stattdessen die Macht anbringt, die Güter, die Vorteile, einen üppigen Genuss selbst der ausgesuchtesten Feinschmeckereien – und dann das Spiel spielt, … und das so fürchterlich ernsthaft spielt, dass man mit dem Spiel überhaupt nicht aufhören kann.“*

* Sören Kierkegaard, War Bischof Mynster ein „Wahrheitszeuge“, einer von den „echten Wahrheitszeugen“, ist das Wahrheit?, in: Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits, Gesammelte Werke, 34. Abteilung, 6f. 

Der Schlaf der Selbstgerechten

Nichts irritiert eine Gesellschaft, die sich im Rhythmus der Erfordernisse bewegt, mehr, als eine Regierung, die sie beruhigt. Wenn die Zeiten aufgeregt sind, verstärkt der sedierende Satz, es sei alles halb so wild, nur die Erregung. Das politisch-kommunikative Instrument des zähen Kompromisses eignet sich kaum, wo Entschiedenheit im Denken und Entschlossenheit im Handeln zum Signum werden dafür, dass man verstanden hat. Deutschland schläft seit langem schon den Schlaf der Selbstgerechten. Wenn es Wachheit nicht denen überlassen will, die in Wahrheit bloß dumpf sind, muss es ihn alsbald beenden.

Folge dem Trend

Typologie des Börsianers: opportunistischer Optimist.

Die Langeweile absolutistischer Herrscher

In dem Maße, wie die beiden Herrschaftsformen Macht und Geld einen Menschen in die Lage versetzen, ohne Widerstände durchzukommen, wächst auch dessen Langeweile. Dem Leben zu trotzen oder ihm etwas abzutrotzen, was als Ausdruck gilt dafür, dass es erlebt wird, diese Anstrengung ist zugleich auch Faszination. Der Absolutist kennt den Kampf nur als Spiel, als prickelnde Unterhaltung, die ihn die eigene Ödnis spüren zu müssen für Momente vergessen lässt. Er nimmt nicht ernst, was anderen tödlichen Ernst bescheren kann. Warum sollte der Aufstand, in dem vier Despoten eine Rolle einnahmen (Prigoschin, Putin, Kadyrow, Lukaschenko), nicht das inszenierte Schmierentheater von Diktatoren gewesen sein, die sich selbst überdrüssig geworden sind?

Wie ein Miteinander glückt

Unter den vielen Voraussetzungen geglückten Miteinanders ist die Diskretion die wichtigste. Was der andere nicht sagt, wenn er es gesehen hat, und nicht sehen will, obwohl es offen zutage tritt, schafft den Freiraum, der ein Zusammenleben oder Zusammenwirken erst erträglich und am Ende gedeihlich sein lässt.

Künstliche Dummheit

Auch wenn in unserer Zeit die Intelligenz zunehmend künstlich ist – die Dummheit bleibt doch echt.

Minus mal Minus

Zur Unberechenbarkeit der Unmenschlichkeit zählt auch die Erkenntnis, dass Böses, das gegen Böses sich richtet und kämpft, eine Sache noch lange nicht gut werden lässt. So wie Gegensätze sich wider die Volksmeinung nicht zwangsläufig anziehen, so kennt die Mathematik der niederen Instinkte die Rechenregel nicht, nach der Minus mit sich selbst multipliziert ein positives Resultat ergibt.

Entschieden

In einer Welt, deren Hauptofferte ihre ungemessen große Angebotsvielfalt ist, wirkt Entschiedenheit zunächst anachronistisch. Sie verlangt einen Ernst, der angesichts des probehalber geführten Lebens mit vielen offenen Enden nur als unnötiger Verzicht auf Möglichkeiten erscheinen mag. Und doch fasziniert die Souveränität eines einmal eingeschlagenen, geradlinigen Pfads, weil in ihr jene Freiheit sichtbar wird, die gewählt hat, nicht dauernd wählen zu müssen. Es ist das überlegene Gefühl, das sich vor einem überladenen Hotelbüffet einstellt, sofern man genau weiß, was man will, und sei es aus purer Gewohnheit: Man verlässt den Ort ohne die Frustration, nicht auch noch dieses und jenes gekostet zu haben.

Zu gut ist schlecht

Kein größeres Missverständnis, als den Wunsch nach Selbsterhaltung in der Besitzstandswahrung erfüllt zu sehen. Nichts kostet so viel Zukunft wie das lächerliche Bemühen, die eigene Zukunft zu garantieren, indem man krampfhaft festhält, was man erreicht hat. Das Urteil, es ginge uns zu gut, bezeichnet ein Versagen, das aus der Versuchung erwachsen ist, sich selbst zu retten, ohne sich zu riskieren.

Wen ich erreichen will

Marketingleute fragen nach der Zielgruppe, sobald etwas zur Veröffentlichung ansteht. Aber wer weiß schon wirklich, wen er erreicht, gar erreichen will. Man sollte nur schreiben und reden, wenn eine Sache gar nicht anders kann, als nach außen zu drängen. Dann ist gleichgültig, wer sie freundlich aufnimmt, ignoriert oder ablehnt. Das Zielen auf ein Publikum korrumpiert den Gedanken immer. Er bleibt nicht derselbe, der sich einmal diskret angekündigt hatte.

Angst vor dem Anderen

Nicht zuletzt entstammt die Angst vor Veränderung der Veränderung der Angst, die mit dieser einhergeht.

Liebe in ihren ungezählten Varianten

Auf dem Steg, der geradewegs in den Stadtpark führt, schlendert versonnen ein Mann, dessen Hawaiihemd ungezählte Varianten eines Frauengesichts zieren, flächendeckend gedruckt auf dem luftigen Stoff. Der Passant, der ihn mit schnellen Schritten erreicht hat, dreht sich im Vorbeigehen kurz um: „Die Freundin?“ „Die Ex“, antwortet der Spaziergänger so prompt, wie die Frage aus der Neugier geplatzt war. „Und dann ziehen Sie das Teil noch an?“ Es entspinnt sich ein unverbindlicher Wortwechsel. „Besser, als beim Blick in den Kleiderschrank jeden Morgen angelächelt zu werden.“ „Da haben Sie auch wieder recht“, erwidert der Eiligere belanglos. „Das war ein Geschenk zum Jahrestag. Jetzt trage ich es lieber, als es zu ertragen. Die Qualität ist gut. Den Rest sehe ich nicht, allenfalls wenn so Leute wie Sie mich darauf ansprechen, weil es halt auffällig ist. Und abends verschwindet das Stück in der Schmutzwäsche. Mit jedem Waschgang verblasst die Erinnerung immer mehr. Das ist meine Art, die einstige Liebe loszuwerden: sie möglichst nah an sich heranzulassen.“

Das Talent zur Moral

Die Konzentration sittlicher Pflichten auf das Handeln – Tu dies und lass jenes! – ist in Wahrheit das Ende eines langen Prozesses seelischer Verarmung. Vor aller Aktion steht der Affekt. Und vor dem Affekt die Affiziertheit. Moralisches Talent hängt immer zusammen mit einem hohen Maß an Empfindsamkeit. Unter dem Titel „Über das Unbewusste“ schreibt Paul Valéry: „Sei gefühlsbewegt. Es gibt mithin Pflichten für die Sensibilität, so wie es Pflichten für das Handeln gibt.“*

* Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 5, 342

Geschmolzenes Eis

Aus einer Lektüre an einem heißen Samstagnachmittag

„Eis als physische Substanz nennt man nicht reizvoll, weil es schmilzt; aber wenn ,Schmelzen‘ selbst eine Metapher für die ästhetische Betrachtung von Neuheit ist, dann gerät ein Paradox in den Fokus. Neuheiten sind, definitionsgemäß, kurzlebig. Wenn Eis-Lust zumindest in gewissem Grad in Neuartigkeit besteht, dann muss das Eis schmelzen, um begehrenswert zu sein. Während wir dem Eis also beim Schmelzen zuschauen, wird unsere Besorgnis von einer anderen Art Sorge abgelenkt. Das Eis verliert vielleicht schon an Gunst, bevor es seinen Zustand verändert. Sein ,Vergnügen‘ hört vielleicht auf, ,ganz neu‘ zu sein, und damit auch ein Vergnügen zu sein. Plötzlich werden hier die Naturgesetze, die für Dinge wie schmelzendes Eis zuständig sind, durch gewisse unbestimmtere psychologische Gesetze durchkreuzt, die unsere menschliche Versklavung durch Neuigkeiten in Stimmungen und Moden beherrschen.“*

* Anne Carson, Der bittersüße Eros, 119. – Die Autorin interpretiert Sophokles‘ Fragment „Der Liebhaber des Achilles“ über das Begehren:
„Diese Krankheit ist ein Übel, gebunden an den Tag.
Hier ist ein Vergleich – gar nicht so schlecht, denke ich:
Wenn Eis im Freien schimmert, packen Kinder danach.
Eis-Kristall in der Hand ist
Am Anfang ein ganz neues Vergnügen.
Aber dann kommt ein Punkt –
Da kannst du die schmelzende Masse nicht weglegen,
du kannst sie nicht weiter festhalten.
Begehren ist so.
Es zerrt den Liebenden zum Handeln und zum Nicht-Handeln, wieder und wieder, zerrend“

 

Altersfrage

Gefragt, wie alt er sei, antwortete er, jung genug, um immer noch mehr Freundschaften zu schließen, als sie zu beenden.

Die Ansprüche der Anspruchslosen

Viele Ansprüche zu haben, aber keinen Anspruch, das macht jene aus, die empfänglich sind für die Versprechen der Populisten.

Zu viel Betrieb in der Wirtschaft

Die Beliebtheit der Betriebswirtschaftslehre hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie auf einen Beruf vorbereitet, in dem die Ungebildeten ungestraft das Sagen haben.

Gefällt’s?

Das Gefällige ist die Schönheit, die den Mut zu sich selbst verloren hat.

Die andere Seite der Arroganz

Es gäbe weniger Arroganz in der Welt, verstünde man sie bei vielen als eine sehr effektive Methode des Selbstschutzes. Ähnlich der Bescheidenheit wirkt die Arroganz wie ein Abstandshalter, vor allem gegenüber fremden Ansprüchen, nur dass die zur Tugend verklärte Genügsamkeit reagiert auf den Hang, sich mit anderen zu vergleichen, wohingegen das, was als Selbstgefälligkeit gelegentlich missverstanden wird, Grenzen setzt wider allzu starke und ungerechtfertigte Forderungen durch Mitwelt und Nebenmenschen.

Selbsttäuschung

Oft meint der Satz, man habe sich in einem anderen getäuscht, dass man sich in sich selbst getäuscht hat. Das ist das größere Ärgernis, Erwartungen dort vergeblich zu hegen, wo sie doch nur unkundig hineingelegt worden und ganz und gar unerfüllbar geblieben sind.

Der Sinn im Leben

Das, was etwas großspurig Lebenssinn heißt, hat sehr viel zu tun mit dem Talent, die Zeit, die einem geschenkt ist, sich nicht vertreiben zu müssen.

Gelegenheitsgünstlinge

So mancher stolze Pragmatismus entpuppt sich bei näherem Hinsehen als schlichter Opportunismus. Wer die Gunst der Stunde für sich nutzen will, darf sich den Gelegenheiten, die sie bietet, nicht prinzipiell widersetzen.

Im Augenblick

Das Beste, was sich von einem Menschen sagen lässt, den die Vergangenheit nicht kümmert und die Zukunft nur so weit interessiert, als er sie für einen verlängerten Modus der Gegenwart hält, ist: dass er unbesorgt sei. Sorglosigkeit, nicht Sorgenfreiheit, als der andere Name für Leichtsinn lässt einen verdeckten Zusammenhang aufscheinen, den zwischen der Stärke einer Erwartung und dem Maß der Bedeutsamkeit, das mit diesem kommenden Ereignis verbunden ist. Sie lässt sich verstehen als eine auf das Zeitbewusstsein übertragene Form der Dummheit. Sinn und Sorge bedingen einander. Worum ich mich nicht bemühe, muss mich nicht beunruhigen.

Zu abstrakt

Die leichthin vorgehaltene Kritik, ein Gedanke sei zu abstrakt, in Ermangelung von Lebensnähe oder Praktikabilität, verkennt den Sinn von allgemeinen Aussagen. Sie handeln stets von Gesetzen, Mustern, Formen der Verbindlichkeit und geben neben der präzisen Verortung einer Idee zur besseren Orientierung in einer Art Koordinatensystem des Denkens Sätzen das ihnen entsprechende Gewicht. Es ist einfacher, dem Allgemeinen das Besondere zuzuordnen, was im oft sehr abstrakten Unternehmensdeutsch „Umsetzung“ heißt, als umgekehrt die richtige Regel zu finden für ein „konkretes“ Handeln. Nicht selten zielt der Vorwurf der Abstraktheit weniger auf das Fehlen von Anschaulichkeit, als dass er versucht, den hohlen Raum zwischen Denkfaulheit und Denkunfähigkeit zu kaschieren. In einem kleinen, polemischen und hintersinnigen Text schreibt Hegel, „abstrakt und beinahe auch Denken, ist das Wort, vor dem jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft“*.

* Hegel, Wer denkt abstrakt?, Werke 2. Jenaer Schriften 1801 – 1807, 575. Die Pointe dieser Schrift ist die Antwort: „Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete.“ (577)