Tag: 17. Juni 2023

Geschmolzenes Eis

Aus einer Lektüre an einem heißen Samstagnachmittag

„Eis als physische Substanz nennt man nicht reizvoll, weil es schmilzt; aber wenn ,Schmelzen‘ selbst eine Metapher für die ästhetische Betrachtung von Neuheit ist, dann gerät ein Paradox in den Fokus. Neuheiten sind, definitionsgemäß, kurzlebig. Wenn Eis-Lust zumindest in gewissem Grad in Neuartigkeit besteht, dann muss das Eis schmelzen, um begehrenswert zu sein. Während wir dem Eis also beim Schmelzen zuschauen, wird unsere Besorgnis von einer anderen Art Sorge abgelenkt. Das Eis verliert vielleicht schon an Gunst, bevor es seinen Zustand verändert. Sein ,Vergnügen‘ hört vielleicht auf, ,ganz neu‘ zu sein, und damit auch ein Vergnügen zu sein. Plötzlich werden hier die Naturgesetze, die für Dinge wie schmelzendes Eis zuständig sind, durch gewisse unbestimmtere psychologische Gesetze durchkreuzt, die unsere menschliche Versklavung durch Neuigkeiten in Stimmungen und Moden beherrschen.“*

* Anne Carson, Der bittersüße Eros, 119. – Die Autorin interpretiert Sophokles‘ Fragment „Der Liebhaber des Achilles“ über das Begehren:
„Diese Krankheit ist ein Übel, gebunden an den Tag.
Hier ist ein Vergleich – gar nicht so schlecht, denke ich:
Wenn Eis im Freien schimmert, packen Kinder danach.
Eis-Kristall in der Hand ist
Am Anfang ein ganz neues Vergnügen.
Aber dann kommt ein Punkt –
Da kannst du die schmelzende Masse nicht weglegen,
du kannst sie nicht weiter festhalten.
Begehren ist so.
Es zerrt den Liebenden zum Handeln und zum Nicht-Handeln, wieder und wieder, zerrend“