Tag: 9. Februar 2025

Geschichtsfälschung

Aus einer Sonntagslektüre

„Mit dem Marxismus hat der Hitlerismus wenigstens eines gemein: den Anspruch, die gesamte Weltgeschichte aus einem Punkt zu erklären: ,Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen‘, heißt es im Kommunistischen Manifest, und ganz entsprechend bei Hitler: ,Alles weltgeschichtliche Geschehen ist nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen.‘ Solche Sätze haben eine große Suggestionskraft. Wer sie liest, hat das Gefühl, daß ihm plötzlich ein Licht aufgeht: Das Verworrene wird einfach, das Schwierige leicht. Sie geben dem, der sie willig akzeptiert, ein angenehmes Gefühl von Aufgeklärtheit und Bescheidwissen, und sie erregen außerdem eine gewisse wütende Ungeduld mit denen, die sie nicht akzeptieren, denn als Oberton schwingt in solchen Machtworten immer mit: ,… und alles andere ist Schwindel.‘ Man findet diese Mischung von Überlegenheitsdünkel und Unduldsamkeit gleichermaßen bei überzeugten Marxisten und bei überzeugten Hitleristen. Aber natürlich ist es ein Irrtum, daß ,alle Geschichte‘ dies oder das sei. Die Geschichte ist ein Urwald, und keine Schneise, die man hineinschlägt, erschließt den ganzen Wald. In der Geschichte hat es Klassenkämpfe gegeben und Rassenkämpfe, überdies Kämpfe (und das häufiger) zwischen Staaten, Völkern, Religionen, Ideologien, Dynastien, Parteien und so weiter und so fort. Es gibt überhaupt keine denkbare Menschengemeinschaft, die nicht unter Umständen mit einer anderen in eine Konfliktsituation geraten kann – und irgendwann, irgendwo in der Geschichte auch geraten ist. Aber die Geschichte – das ist der zweite Irrtum in solchen diktatorischen Sätzen – besteht nicht nur aus Kämpfen. Sowohl Völker wie Klassen, um nur von diesen zu reden, haben weit mehr geschichtliche Zeit im Frieden als im Kriege miteinander verbracht, und die Mittel, mit denen sie das geschafft haben, sind mindestens ebenso interessant und historisch erforschenswert wie die Ursachen, die sie immer wieder einmal kriegerisch haben zusammenstoßen lassen.“*

* Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 109f.