Was das Land wirklich veränderte: wenn das Misstrauen nicht mehr regierte.
Monat: Januar 2025
Wir sind geschafft
Nie darf es ein demokratischer Rechtsstaat so weit kommen lassen, dass Radikalität das einzige ist, was eine Problemlösung zu sein verspricht. Das geschieht immer dann, wenn Verfahren nicht mehr helfen, weil eine Situation derart verfahren ist, dass anders als über Rechts- und Tabubrüche aus ihr herauszukommen unmöglich zu sein scheint. Nicht Besonnenheit als wahltaktischer Gestus, sondern Besinnung auf den Ernst der Lage ist gefordert, der vor allem einen Namen hat: Überforderung.
Richtig falsch
Auch wenn eine richtige Sache nicht falsch wird, nur weil die Falschen ihr zustimmen, kann es richtig falsch sein, den Falschen an einer richtigen Sache die Gelegenheit zu geben, vor allen sich wie die Richtigen zu präsentieren. Es ist genauso falsch, das Richtige den Falschen zu überlassen, wie es nicht richtig ist, den Richtigen Falschheit zu unterstellen. Im falschen Licht können sogar richtige Sachen, und die, die im Recht sind, ganz und gar falsch erscheinen, ohne falsch sein zu müssen.
Zerrissen
Es ist eine vertrackte Situation: Dasselbe Maß, das ich an Naivität nötig habe, um überzeugt zu sein, dass sich die Welt noch zum Guten verändern lässt, brauche ich an Zynismus, um jene zu bekämpfen, die das verhindern wollen.
Staat und Gesellschaft
Ein Staat, dessen Politik auch dann nur reagiert, wenn sie meint voranzugehen, hat die Gesellschaft verloren, die in ihrer Entwicklung für ihn immer einen Moment zu schnell zu sein scheint. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben der Regierung, die Zeiten, die Handlungs- und Denkgeschwindigkeiten zu synchronisieren zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten. Ist sie zu schnell, endet das in Überforderung; agiert sie zu langsam, nimmt sie keiner mehr ernst.
So nah, so fern
Aus dem noch ungeschriebenen Groschenroman
„Und ihr, wollt ihr noch sitzenbleiben? Oder darf ich mal die Rechnung bringen?“ Die Frage des Patrons hatte einen leicht ungeduldigen Unterton. Gewiss, vor einer guten Stunde hatten die Kellner mit dem Aufräumen begonnen. Die Tische waren gewischt, das unbenutzte Gedeck wieder in den Schrank sortiert. Alle anderen Stühle hingen kopfüber mit ihren Lehnen an der Kante wie leblose Hasen nach der Jagd zum Ausbluten am Haken. Schon zweimal war das Licht kurzzeitig ausgeschaltet worden; ein diskretes Zeichen zum Aufbruch. Dann war das Personal gegangen. Aber die beiden hatte es nicht gekümmert. Vielleicht hatten sie es nicht einmal bemerkt. Die Teller auf dem Tisch, längst abgetragen; die Gläser, fast leer; Besteck, beiseite geschoben. Er schaute den Patron an, fast vorwurfsvoll, dass er die Intimität des Gesprächs mit einem so gewöhnlichen Thema gestört hatte. Sie flüsterte: „Ja, lass uns zahlen. Wir finden schon noch was, wo wir uns hinsetzen können.“
Doch dann kam der Restauranteigner nicht mit der Rechnung, nicht mit dem Kartenleser. In der rechten Hand hielt er einen Schlüssel. „Schließt ab, wenn ihr aufbrecht. Im Regal steht noch genügend Wein. Wasser findet ihr im Kühlschrank hinter der Theke. Wir sehen uns morgen.“ Sprach’s, legte den Schlüssel auf die noch unbenutzte Serviette und verschwand.
Damit hatten sie nicht gerechnet. Das Gespräch, das stundenlang wie von selbst sich fortgezeugt hatte, stockte fortan. Inzwischen war es halb zwei geworden. Alles um sie herum schien viel präsenter zu sein, weil kein Klappern, kein Gebrabbel, kein Schimpfen aus der Küche mehr zu hören war. Nur das Eisfach und der Kühlschrank brummten in leichtem Vibrato. Er spürte plötzlich den Raum, ließ sich ablenken von einem entfernten Martinshorn draußen in einer der Straßenschluchten, spielte verlegen mit dem Schlüsselbund. „Entschuldige, aber was hattest du gesagt, bevor wir unterbrochen wurden?“
Sie schaute ihn an, erst erstaunt, dann allerdings legte sich ein feines Lächeln über ihren großen Mund, den er so gern küssen wollte, sich aber nie zu berühren von sich aus trauen würde. „Keine Ahnung.“ Natürlich wusste sie noch genau, was seine letzten Sätze gewesen waren, bevor der Hauspatron sich einschaltete in ihre Unterhaltung. Aber so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Beziehungsstatus, darum war es die ganze Zeit gegangen. Nicht ihren, nicht seinen. Sondern um die Art der Beziehung, die sie beide, nun schon etliche Jahre, führten. Was das eigentlich sei? Sicher keine Bekanntschaft. Aber Freundschaft? Zwischen ihm und ihr? Vielleicht. Freundschaft Plus, das Berliner Modell aus Vertrautheit und lockerem, unverbindlichem Sex? Niemals. Dazu eigneten sie sich nicht. Sie hatten beide ein Talent für den Ernst, gelegentlich zur Schwere, in Liebesfragen zur Endgültigkeit, auch wenn jeder darin auf seine eigene Weise schon gescheitert war. In der Liebe hat das Absolute, das war ihre psychologisch geschulte Überzeugung, einen Hang zum Wiederholungszwang. Am besten und schönsten waren die Tage über die lange Zeit, die sie sich kannten, in denen das alles kein Thema war.
Gab es die überhaupt? Hatte er nicht stets das Gefühl, dass zwischen ihnen hügelweise Unausgesprochenes stand? Und sie, die besser war im An- und Aussprechen, den Eindruck, dass Unaussprechliches immer seltener die Form fand, in der es bei sich bleiben konnte wie in den Momenten, da sie Musik hörten, vorzugsweise skandinavischen Jazz, weniger Blues, mehr Romantik, wie das Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson.
„Wie: Keine Ahnung? Du weißt doch genau, worüber wir gesprochen hatten. Und ich weiß es auch. Ich wollte endlich wissen, ob du einen Namen hast für die Weise, wie wir uns …“
„Sprich nicht weiter“, beschwor sie ihn und hielt ihm den Zeigefinger auf den Mund. „Das ist nicht gut, ein Geheimnis einzufangen, indem man ihm einen Begriff gibt.“ Er schwieg. Sie schwieg. Beide sagten minutenlang nichts. Dann flüsterte sie, kaum vernehmlich: „Es ist Liebe.“ Und erschrak im selben Moment, weil dieses Wort allergrößter Nähe zugleich der Ausdruck einer Ferne war, von der sie wusste, dass sie sich nie überbrücken ließe.
Plötzlich hörten sie ein Klopfen …
Abgehustet
Vor fünf Jahren ist das COVID-Virus ausgebrochen. Der Philosoph Bernhard Waldenfels hatte dazu im Jahr 2020 einen Essay geschrieben, den er beschloss mit drei Konklusionen zur Sache. Aus einer Samstagnachmittagslektüre
„1. Antworten besagt wenig, wenn man lediglich zur Antwort gibt, was man selbst oder ein anderer schon weiß. Tritt Neuartiges auf, so fehlt es an fertigen Antworten, Antworten sind zu erfinden. Dabei erfinden wir nicht, worauf wir antworten, wohl aber das, was wir zur Antwort geben. In diesem Sinn sind Antworten auf je spezifische Weise kreativ und innovativ.
2. In Goethes Tasso heißt es: ».. gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide«. Was besagt dieser schlichte Satz? Eine pathologische Betrachtung, wie sie von Jacob Burckhardt empfohlen wird, bedeutet nicht, daß man bloß über das Leiden redet oder gar dem Leidenden sein Leiden ausredet, sie besagt vielmehr, daß man als Zeuge vom Leiden her redet, indem man ihm sein Ohr leiht und eine Stimme verleiht, sei es im Beiwort der Anteilnahme oder im im Nachwort der Erinnerung.
3. Wir kennen das alte Sprichwort: πάθει μάθος, durch Leiden lernen. Die Erwartung, die sich darin ausspricht, wird oft genug enttäuscht oder mißverstanden. Wenn wir durch Leiden lernen, so besagt dies nicht, daß wir das Leiden erlernen wie eine Lektion: Lernen ist kein Allheilmittel, Erfahrung kein unaufhaltsamer Lernprozeß, Leiden und Mitleiden kann man so wenig lernen wie Erstaunen und Erschrecken. Auf Fremdes, das uns als Pathos widerfährt, kann man nur antworten, man kann es nicht endgültig beantworten und nicht lösen wie ein verwickeltes Problem.“*
* Globalität, Lokalität, Digitalität, 209
Gefühlsecht
Es gibt Lebenssituationen, die von der Sprache eine Tiefe verlangen, die sie nicht erreicht, ohne religiös zu werden. Wenn professionelle Trauerredner, Meister der Spiritualität oder bigotte Pastoren auf der Klaviatur der Gefühle spielen, so verschleiert dieses inszenierte Beschwören von Emotionen nicht selten den Mangel an Geist, der allein der Sache angemessen wäre.
Bindungskräfte
Nichts im Leben bindet so stark wie das Unausgesprochene, das sich nicht mehr zurücknehmen lässt.
Wege der Freiheit
Wirtschaftliche Abhängigkeit, die nicht wechselseitig ist, wird schnell zur politischen. Die politische Abhängigkeit, die nicht machtbalanciert ist, wird leicht militärisch. Militärische Abhängigkeit, die nicht partnerschaftlich ist, endet in ideologischer.
Ehegattensplitting
Deutsche Vorstellung von Gerechtigkeit: Man trifft sich im Restaurant als Paar zum trauten Abendessen, beim Bezahlen aber rechnet jeder den Anteil des anderen exakt heraus.
An der Schwelle zum Goldenen Zeitalter
Das ist das Versprechen und die Verlegenheit der Demokratie gleichermaßen: dass der Superlativ keine politische Funktion hat.
Der Philosoph
Aus einer Sonntagnachmittagslektüre
„Der Philosoph ist der Freund des Begriffs, er erliegt der Macht des Begriffs. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht eine bloße Kunst der Bildung, Erfindung oder Herstellung der Begriffe ist, denn die Begriffe sind nicht notwendig Formen, Fundstücke oder Produkte. Im strengeren Sinn ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht. Der Freund wäre der Freund seiner eigenen Schöpfungen? Oder ist es der Akt des Begriffs, der auf die Macht des Freundes verweist, und zwar in der Einheit des Schöpfers mit seinem Doppelgänger? Stets neue Begriffe erschaffen ist der Gegenstand der Philosophie … Was wäre ein Philosoph wert, von dem man sagen könnte: Er hat keinen Begriff erschaffen, er hat seine Begriffe nicht erschaffen?“*
* Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 9.10
Gespielter Ernst
Es steht ernst um die Welt, je mehr die Mächtigen ihre Ämter als Spielfeld nutzen.
Ich und Welt
Im Museum: der eine Künstler lässt die Welt entdecken durch seinen subjektiven Blick auf sie; der andere offenbart vor allem sich in der Wahl der Objekte, die er darstellt.
Gewichtig
Beobachtungen in der Bahn: Die Menschen sind so dick, weil sie sich langweilen. Sie wissen nicht, wie sie sich sinnvoll beschäftigen sollen. Also fangen sie an zu essen.
Die Falle der Witzbolde
Humor ohne Demut ist Süffisanz. Das ist die Falle, in die so mancher hineintappt, der sich den Abstand zur Welt übers Lachen erarbeitet, dass er ihn zugleich als Arroganz artikuliert, als lächelnde Geste der Herablassung gegenüber denen, die vermeintlich nicht verstanden haben, wann eine Sache ernstzunehmen nicht lohnt. Der Humor hingegen weiß genau, wo es geboten ist, sich selbst nicht für so wichtig zu halten, dass nicht jederzeit aus dieser Distanz zum Eigenen ein spannungsreicher Kontrast auch zu den Wirklichkeiten abgeleitet werden könnte, die uns umgeben, ohne sich gleich eitel auszunehmen.
Ein gelungener Tag
Noch darf jeder Tag als gelungen angesehen werden, der Zeit genug schenkt, sich in einem Buch zu verlieren, was so viel bedeutet wie: mit fremden Worten zu denken, weil man vergessen hat, dass man liest; sich in unbekannten Situationen vorfinden, weil die Erzählung in den Text hineingezogen hat; die Leere spüren, die plötzlich einsetzt, sobald die letzte Seite umgeschlagen ist. Alle Lektüre zielt auf die Selbstvergessenheit des Rezipienten.
Politikbetrieb
Das Problem des Politikbetriebs: zu viel Betrieb, zu wenig Politik. Die Routinierten der Macht haben vergessen, wie groß die Macht ist, die im Unroutinierten liegt.
Verkaufsinitiative
Es ist ein Fehler zu meinen, dass ein Unternehmen, das aufhört, etwas zu verkaufen, weil die Märkte sich wandeln, wieder erfolgreich wird, wenn es sich an die Märkte so anpasst, dass es beginnt, sich zu verkaufen.
Absolut glücklich
Der Absolutheitsanspruch des Glücks artikuliert sich in einer Alternative: entweder du verlierst dich, oder du verlierst mich.
Lückenfüller
Dass die, die das Sagen haben, nicht immer was zu sagen haben, ist der Anlass zu Beratung.
Vorteil Vorurteil
Das ist der Vorteil des Vorurteils: Man weiß schon vorher, warum einer das sagt, was er dann sagt.
Wach im Geist
Ein geistig wacher Mensch kennt seine Zukunft, noch bevor er ihr begegnet.