Alle Artikel von jwr

Schweigen oder Verstummen

Aus einer Sonntagslektüre

„Das einzig Schwierige am Schwierigen bleibt das Reden; und zwar nicht, insofern es zu vermeiden ist, sondern insofern nötig wird, es zu vollziehen; denn ohne dieses wird das Schweigen zum Verstummen.“* – Das kann immer ein Anfang sein, und hätte für den Philosophen einer sein können: das Eingeständnis, dass gesagt werden muss, worüber zu sprechen in keiner Weise leicht ist.

* Martin Heidegger, Anmerkungen III 1946/47 (Schwarze Hefte), in: Gesamtausgabe Bd. 97, 271

Stolz aufs Steckenpferd

Oft sind es die nebenberuflichen Obsessionen, die beiläufigen Leidenschaften, das Hobby und die Liebhabereien jenseits des Fachgebiets, die viel größeren Stolz evozieren, wenn nach der Lebensleistung gefragt wird, als das, woran einer sonst sozial gemessen und eingeordnet wird. Es schadet einer Profession in der Regel nicht, wenn der, der sie Tag für Tag ausübt, noch genügend Kräfte hat, ein zweites oder gar drittes Engagement ernsthaft anzudeuten.

Versprechen

Der erste Mensch, der ein Versprechen abgegeben und es gehalten hat, ist der Erfinder von Zukunft als jener Zeit, die gestaltet werden kann.

Ein mythischer Blick auf die letzte Technik

Mit der Einführung dessen, was in der Digitalwelt spatial computing  heißt, von Brillen, die virtuelle Welten, augmented reality oder einen Mix aus beiden erlauben, schreitet die Verschmelzung von Mensch und Maschine ein nächstes großes Stück voran. Und mit ihr die wachsende Schwierigkeit, den Unterschied aufrechtzuerhalten zwischen einer Wirklichkeit, die als lebensweltlicher fester Boden anerkannt ist, die Unfraglichkeit und Gewissheit stiftet, und einer Welt aus Täuschung, Fiktion, Fake oder Lüge. Dieser Unterschied, noch moralisch beschrieben als Erkenntnis des Guten und des Bösen, war im Mythos vom Anfang der Anlass, den Menschen aus dem Paradies zu vertreiben. Nun wird die Differenz eingeebnet, das Weltwesen Mensch an eine Vorstellung gewöhnt, von der er immer mehr angezogen wird, die ihn fasziniert, ja süchtig zu machen vermag, eine künstliche Bilderexistenz, so dass er sie als Fluchtpunkt auserwählt, als Asyl vor den harten und widerständigen Anforderungen des Daseins. Es braucht nicht viel Phantasie, sich Individuen zu denken, die diese abgeleitete, zweite Welt als wahre Heimat empfinden und den Bezug zu den Tatsachen verlieren. Schon Platon hatte sie im Höhlengleichnis ausgeführt. Solche Geschöpfe werden in der Täuschung lieber leben wollen, mit der Fiktion paktieren wider Wahrheit und Präsenz, sich an den Betrug halten und ihn für die eigentliche Wirklichkeit erklären. Das alles ist schon geschehen. Noch lässt sich das eine oder andere Kriterium allerdings angeben, durch das ein solches abgeleitetes Leben entlarvt werden kann als Schein. Noch. Die Tendenz der Technik zielt auf deren Gleichgültigkeit. Der Unterschied zwischen Original und Fälschung, Wahrheit und Irrtum, Echtheit und Lüge, Welt und Scheinwelt wird keine entscheidende Rolle mehr spielen. In dem Augenblick, in dem sie eins zu sein scheinen, geschieht mehr als nur die Einebnung einer jahrtausendealten Differenz. Es geht um Alles oder Nichts: die Fähigkeit, noch vertrauen zu können, das Talent zu glauben. Eine Welt, in der Vertrauen und Glauben verschwunden sind, kennt nur noch Einsame. Sie freiwillig zu suchen und in ihr unbegrenzt Zeit zu verbringen, das kennt der Mythos als Hölle.

Verlustangst

Wann Tiere gefährlich werden: wenn sie etwas zu verlieren haben.
Wann Menschen am gefährlichsten sind: wenn sie nichts zu verlieren haben.

Das Privileg, ja zu sagen

Der Mensch entdeckt sich selbst als freies Lebewesen in dem Augenblick, in dem er die Fähigkeit, nein zu sagen, als Privileg begreift. Und er vollendet dieses Selbstverständnis, frei zu sein, wenn er diesen Vorzug zu negieren als Voraussetzung ansieht, entschieden ja sagen zu können.

Vor dem Urteil

Zwischen dem, was eine alte philosophische Überlieferung Urteilskraft nennt und dem unbedachten Gebrauch von Vorurteilen besteht ein Zusammenhang. Je stärker jene ausgebildet ist, desto geringer ist der Umgang mit diesen. Es war einmal der Adel der Aufklärung, sich den Formen unserer Intoleranz zu widmen, Vorbehalte, Verblendungen oder Voreingenommenheiten zu entlarven und scharf zu kritisieren. Von dieser Kritik scheinen inzwischen nur atemlose Reflexe übrig zu sein, die selber klischeehaft vieles unnötig und übersensibilisiert unter Verdacht stellen und canceln, was den eigenen Vorurteilen zuwider ist. Da herrscht nicht mehr Vernunft, sondern ein neuer ganz und gar dogmatischer Aberglaube, der zwischen Meinen und Wahrheit keinen Unterschied sieht und Lautstärke für deren Kriterium hält.

Die gute Ordnung

Aus einer Sonntagslektüre:

Ich gebe gern zu, dass die öffentliche Ruhe ein großes Gut ist. Indessen will ich nicht übersehen, dass alle Völker auf dem Wege über die gute Ordnung der Gewaltherrschaft verfallen sind … Ein Volk, das von seiner Regierung nichts fordert als das Wahren der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits Sklave.“*

* Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika II, 208

Generation der Gewissenlosen

Unter denen, die gerade erwachsen geworden sind, gibt es etliche, die nicht ihre Unschuld verloren haben, sondern ihre Schuld. Verlorene Schuld, das meint immer eine unbelastete Erinnerung. Die Gewissenlosigkeit hat keine Geschichte.

Entscheidungsangst

Nirgendwo wird so deutlich wie in einer Entscheidung, dass Freiheit und Angst zwei Seiten ein und desselben Phänomens sind.

Mäßigung durch Mord

„Russland ist eine absolute Monarchie, die durch Mord gemäßigt wird.“*

* Astolphe de Custine, La Russie en 1839

Gut gemacht

Die drei Minimaleigenschaften dessen, was qualitativ gut genannt zu werden verdient: Es ist kurz, genau und leicht.

Widerschein, der nicht strahlt

Die schamlose Rücksichtslosigkeit, mit der Mitglieder des Kabinetts übereinander herfallen, ist der blasse Widerschein der Hoffnungslosigkeit, mit der sie auf den nächsten Wahltermin blicken.

Narzisstische Mythenbildung

Die meisten Geschichten, die wir erfinden, stammen aus dem heimlichen Wunsch, in einer Welt, die für das eigene Heldentum oft keinen Platz vorhält, dennoch unbehelligt und strahlend zu erscheinen. Es ist der Alltagsnarzissmus, der in den eigenen Erzählungen die Schuld den anderen zuschiebt und mindestens mit der kleinsten Form der Überlegenheit triumphiert: von dem, was quält und schmerzt, leidet oder Empfindsamkeit verlangt, nicht berührt worden zu sein.

Denken

Was heißt: denken? Es ist die Fähigkeit, nicht nur zu verstehen, was Wörter und Sätze bedeuten, indem sie beschrieben werden in ihrem Sprachgebrauch. Sondern zu jedem Begriff eine Anschauung zu finden, die ihn erklärt. Und wenn das nicht möglich ist, die Gründe plastisch werden zu lassen, warum es bei einer Abstraktion bleiben muss.

Welt ohne Kontrolle

Der Mythos vom Paradies, heute erzählt, ist die Geschichte von einer Welt vor der Bürokratie.

Die Neuen Medien

Medien – das waren schon immer kulturelle Institutionen, die letztlich eine Frage zu beantworten verlangen: Stimmt das, was ich da höre, sehe, lese? Nichts fordern sie so heraus wie das Vertrauen, dessen Belastbarkeit sie an der Verlässlichkeit erproben, die seit jeher „Wirklichkeit“ genannt wird. Was aber, wenn dieser Test nicht mehr gelingt, weil die Kriterien für das, was Realität zu heißen verdient, abhanden gekommen sind durch deep fakes? Dann haben wir es mit Neuen Medien zu tun, die nicht mehr durchsichtig sind hin zur Welt, sondern diese zu ersetzen suchen.

Legislaturperiode

Das Los der Regierung in einer Legislaturperiode: Meist beginnt Politik mit der ehrlichen Absicht zu gestalten. Und oft endet sie als Reparaturbetrieb. Angetreten als prägende Bildner und Modellierer, müssen die vom Volk entsandten Agenten ernüchtert als Erneuerung kaschieren, dass sie in vielen Fällen nicht mehr erreichen, als Löcher zu stopfen, ja nicht einmal dies. Was als Instandhaltungsprojekt Unsummen verschlingt, war einst eine stolze Idee.

Entfernung, nicht pauschal

Die meisten Gefühle sind entfernungsabhängig. Nur dass sie sich unterscheiden in der Art, wie Abstand und Nähe wirken: ob sie eher gestärkt werden oder geschwächt. Liebe, um gleich ins hohe Regal zu greifen, bleibt stabil oder wächst sogar, trotz einer Distanz. Das Mitleid hingegen bleibt nicht, je ausgedehhter der Zwischenraum ist, auch zeitlich. Trauer oder Wut zeigen ähnliche Effekte; sie verfliegen oder wandeln sich. Am stärksten ist die Freude von unmittelbarer Präsenz beeinflusst. Sie sucht die Nähe, ein Ereignis, das direkt bevorsteht. Da ist sie fast schon distanzlos. Aber so ganz verschmilzt sie, die so viel erwartet, dann doch nicht mit dem, was sie erhoffte, wenn es schließlich eingetreten ist. Das ist der Augenblick, von dem an sie unmerklich wieder nachlässt.

Logik der Gewalt

Es ist das Paradox politischer Macht, dass man manchmal Gewalt anwenden muss, um die Gewalt zu ächten.

Früher

Aus dem noch ungeschriebenen Roman

„Früher, als ich noch älter war, …“, diese logische Unform eines Satzanfangs schoss ihm in den Kopf, als er seine ersten Texte wieder las, die er zur Veröffentlichung freigegeben hatte. Da passte, was sonst kaum Sinn ergibt: dass ein Rückschritt in der Zeit einen Zuwachs an Erwachsensein und Reife bedeutet. „Früher“ gehörte eigentlich zu den verbotenen Wörtern, wie „eigentlich“ auch. Aber der Überraschung über die Frische, Klarheit, ja Abgeklärtheit von Stil und Inhalt längst entrückter Publikationen schien ihm diese Wendung einzig angemessen zu sein. Er führte eine recht passable Liste mit solchen unredlichen Ausdrücken, die er tapfer verabscheute – tapfer, weil er sich so nicht selten gegen den Zeitgeist stellte, den er für sprachschlampig hielt. Da fanden sich amtliche Ungetüme wie „nichtsdestotrotz“ oder „desweiteren“, Anbiederungssuperlative wie die „herzlichsten“ oder „liebsten Grüße“, der Opportunistengruß „gerne“, bei dem schon das angehängte und gern gedehnte -e störte. Ja, er war empfindlich, wenn es ums Reden und Schreiben ging …

Die Prominenz der Pointe

Es kommt gar nicht so selten vor, dass sinnreiche Pointen sich einen Prominenten als Urheber suchen, damit sie zu berühmten Zitat werden. Wie viele Sätze, deren Autorschaft nicht geklärt ist, sind wohl Zuschreibungen, die sie allererst bekannt gemacht haben. Die Aufmerksamkeitsökonomie funktionierte schon bestens, bevor das Medienzeitalter dieses Phänomen zu einem seiner entscheidenden Merkmale erklärte.

Die Wenigen und die Vielen

Aus einer Samstagslektüre:

„Nichts erscheint denen, welche die menschlichen Angelegenheiten mit einem philosophischen Blick betrachten, erstaunlicher als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von den Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der die Menschen auf ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften zugunsten derjenigen ihrer Herren verzichten. Fragt man sich, mithilfe welcher Mittel dieses Wunder bewirkt wird, so stellt man fest, daß die Kraft immer auf Seiten der Regierten ist, die Regierenden sich auf nichts anderes stützen können als auf die Meinung. Nur auf Meinung ist also die Regierung gegründet; und diese Maxime gilt für die despotischsten und kriegerischsten Regierungen ebenso wie für die freiesten und populärsten.“*

* David Hume, Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung, Politische und ökonomische Essays 1, 25

Interpretationsfähig, interpretationsbedürftig

Was Würde ist? Warum sie als unantastbar deklariert wird? Beides hat zumindest eine zwingende Konsequenz: Alles, was Menschen sagen und tun, ist interpretationsfähig und interpretationsbedürftig.