Kategorie: Allgemein

Kulinarische Moral

Es mögen feinnervige Zungen gewesen sein, die dem Nach- und Beigeschmack über das Kulinarische hinaus ins Sprachbildnerische geholfen haben. Jeder exzellente Wein und etliche Gerichte zeichnen sich ja aus durch den würzigen Abgang oder das Aroma, das sie wohltuend im Gaumen hinterlassen. Die metaphorische Karriere dieser Begleiter des vollkommenen Genusses hat allerdings rasch ihre lukullischen Wurzeln vergessen: Wer heute an den Nachgeschmack denkt, meint meist den schlechten; wer den Beigeschmack einer Sache erwähnt, kennt nur den faden. Auf diese Art reden Menschen, die in ihrem moralischen Urteil so schnell sind, wie sie die Speisen vom Teller schlingen. Da kann sich der Nachgeschmack anders gar nicht entfalten.

Unterschwellige Übermacht

Verblüffend oft leitet sich weibliche Schüchternheit unmittelbar ab von einem sehr genauen Wirkungsbewusstsein ihrer Macht über den Mann.

Völkerverständigung

Deutsch-russische Annäherung zwischen Udo Lindenberg und Alla Pugatschowa: Wozu sind Kriege da? 1987. Geschrieben für unsere Zeit.

Umgekehrt wird ein Schuh draus

Allen Consultants, Coaches, Kursleitern in Erinnerung gerufen: Nicht wer ihn gibt, aber „wer auf Rat hört, der ist weise“. (Aus den Sprüchen des König Salomon Kap. 12, 15)

Filet vom Filou

Dem kellnernden Filou sieht man schon bei der Vorstellung des Tagesgerichts an, dass nicht nur die aktuelle Küchenempfehlung in der Karte nicht zu finden ist, sondern auch der Preis des Gerichts jenseits dessen liegen wird, was sonst im Angebot steht.

Halsabschneider

Schon morgens die Erinnerung, dass die Krawatte zur selben Zeit in Mode gekommen ist wie die Guillotine.

Diskrete Indiskretion

Die vornehmste Art, Privates öffentlich zu machen, ist die Gastfreundschaft.

Unverhältnis, mäßig

Seit jeher hat sich die Sprache diskret zurückgehalten, wo die Verwandtenverhältnisse komplex werden. Wie heißt die Beziehung des Vaters zum Schwiegervater seines Sohns? Wie nennt man in einem kurzen Begriff das Verhältnis der Frau, die in den Märchen noch als die – nicht immer böse – Stiefmutter der Kinder auftritt, zur leiblichen Mutter der Schwiegertochter? Da werden die formalen Verflechtungen (nicht zu verwechseln mit wirklichen Verstrickungen) leicht so heikel, dass es die Wortschöpfer schon aus Gründen der Konfliktvereinfachung vermieden haben, erfinderisch zu sein. Man überlässt es dem natürlichen Gang der Dinge, ob sich daraus Freundschaften entwickeln, großelterliche Hilfsgemeinschaften, oder allenfalls die kleine Mühe erwächst, sich den Namen des anderen wenigstens für den Abend der Hochzeit zu merken.

Im Westen nichts Neues

Wenn der Unterschied zwischen Wahrem und Falschem nicht mehr beachtet wird, bleibt immer noch die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge zunächst erhalten. Die Lüge ist die gesteigerte Missachtung von Wirklichkeit als Abkehr von ihr wider besseren Wissens. Es ist wichtig zu verstehen, wo etwas nur schlecht gedacht ist, anderes hingegen böswillig gesagt. Im Reich der Worte kämpfen Philosophie und Rhetorik, zuletzt deren Abart in unverhohlener Propaganda um eine angemessene Sicht auf die Welt. Erst wenn auch die matte, zweckentfremdete Redekunst an ihr Ende gekommen ist, den wohlinszenierten Beteuerungen kein Glauben mehr geschenkt wirkt, droht Gewalt. Die ist der rohe Versuch, die Perspektive des Gegners auf die Sache zu verschieben, indem man dessen Standpunkt real (körperlich, geographisch) verrückt, wo zuvor nicht gelungen war, die Sicht ideal zu verändern. Jede Lüge ist ein Test auf die Gewaltbereitschaft des anderen. Als Erich Maria Remarque in seinem Roman über den Wahnsinn des Ersten Weltkriegs die Grenze der Sprache markiert, bevor sie an der Brutalität des Weltgeschehens zu scheitern droht, formuliert er einen Satz, der in seiner Hilflosigkeit zugleich das ganze Vermögen zeigt, zu dem unsere Fähigkeit zu reden und zu schreiben sich immer wieder aufzuschwingen in der Lage ist: „Worte, Worte, aber sie umfassen das Grauen der Welt.“*

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, 96

Lehrstück der politischen Klugheit

Der erste Hauptsatz der Strategie lautet: Frechheit siegt. Was man dabei an Sympathien zunächst riskiert, gewinnt man über die heimliche Bewunderung der Besonnenen mit der Zeit zurück.

Nach allen Regeln der Kunst

Worauf es ankommt beim Autofahren in der Schweiz:
1. Unbedingter Gehorsam gegenüber der straßenpolizeilichen Obrigkeit. Hacken zusammenschlagen schadet nicht, wenn man erwischt wird beim Falschparkieren – „Jawoll!“
(Merke: Auch der Kommandant einer Schweizer Gemeindepolizei ist davon nicht befreit. Das Oberste Gericht bestätigte seine fristlose Entlassung aus dem Dienst, weil er die Regeln des „kommunalen Parkregimes“ hartnäckig nicht beachtet hatte. – Zürcher Tagesanzeiger vom 22. Juli.)
2. Wenn alles schief geht: Anrufung der vierzehn Nothelfer (das sind Heilige aus dem frühen Tagen der Christenheit, unter ihnen die Muttergottes.) Im Kurs wird vor allem das Stoßgebet im Stoßverkehr geübt.
3. Man sollte im Verkehr kundig sein, bevor man aus ihm gezogen wird. Wenn das passiert, allerdings nicht den Fehler begehen und auf die Regeln pochen (siehe 1.).

Fahrschule in Basel

Fahrschule in Basel

Anachronismus

„Man kann seiner eigenen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen“, sagt Robert Musil.* Hoffen wir auf die Wahrheit dieses Satzes für all jene, die das frühe Mittelalter oder den Zarismus im einundzwanzigsten Jahrhundert und mit dessen Mitteln wieder erstehen lassen wollen.

* Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 59

Mimesis und Nemesis

Der Prozess der Emanzipation von den Eltern, der früh in der Jugend einsetzt, endet im schamhaften Erschrecken des Älteren, sich bei Gesten und Redewendungen zu ertappen, die an jenes Verhalten der Vorfahren genau erinnern, das man unbedingt hatte vermeiden wollen.

Drunter und drüber

Ein Hoch auf die Bahn, auch wenn es in ihr manchmal unterirdisch zugeht.

Berufsorientierung: Jede Arbeit hat ihre Höhen und Tiefen. Hamburg wirbt für seine Schnellbahn

Berufsorientierung: Jede Arbeit hat ihre Höhen und Tiefen. Hamburg wirbt für seine Schnellbahn

Was mache ich hier eigentlich?

„Ach was“, sagt die Pastorin, „auf Religion kommt es doch heute wirklich nicht mehr an.“ – Andere Berufe in der Identitätskrise: der Politiker, der meint, es gelinge nicht mehr die durchaus richtigen Inhalte den Menschen zu vermitteln; der Künstler, der sein Schaffen als Handwerk demokratisiert; der Professor, der Forschung und Lehre den übermäßig gewachsenen Verwaltungsaufgaben opfert; der Manager, der sein Unternehmen nur noch über Kennzahlen lenkt; der Bäcker, der sein Sortiment über fertige Backmischungen bestückt …

Hochzeitsvorbereitungen

Eines der größten Talente der Liebe ist, dass ihr gelingt, vergessen zu lassen, was gegen sie sprechen könnte. Der Freund heiratet, abermals. Alle reden vom zweiten Versuch und betonen das neue Glück, die nächste Chance. Wie wahr sie plappern, entgeht ihnen in dem Maße, wie untergeht, dass es auch jetzt nur ein Versuch ist. Zum kurzen Gedächtnis der Liebe, das ihr die Gelegenheit zum wiederholten Beginn schenkt, gehört auch, dass frühere Erfahrungen keinen Gewinn darstellen. Auch hier wirkt die Erinnerungsschwindsucht der Liebe zuverlässig. Sie scheinen in Momenten, da man sie unbedingt gebrauchen könnte, wie ausgelöscht zu sein.

Nietzsche à la carte

„Kaffee verdüstert.“*

Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Warum ich so klug bin, Kap. 1

Illustration Dave Mottram

Illustration Dave Mottram

Momentum

Schwer ist es für den Gastgeber einer munteren Abendgesellschaft, in rechter Weise anzudeuten, dass die Gespräche ein Ende finden müssen. Das ist umso gewaltsamer, je heiterer die Runde sich unterhält, und leicht peinlich, wenn das Signal zur Auflösung merklich wahrgenommen wird als Erlösung aus der zähen Gefangenschaft des Sitznachbarn. Der Freund, kundig und stilgewandt im gehobenen Parlieren, hat es sich zur Angewohnheit gemacht, bei guter Gelegenheit mit dem Satz einzufallen: „Hier muss mehr Bewegung in die Gespräche.“  Spricht’s, steht auf und veranlasst so alle, es ihm gleichzutun.

Hundeklavier

Wenig bekannt ist, dass die Seerechtsexpertin und Meereskundige Elisabeth Mann Borgese, das jüngste Kind des Schriftstellers Thomas Mann, auch ein Diplom als Konzertpianistin besaß. Noch als Jugendliche ist sie die siebzig Kilometer zwischen Zürich und Basel mit dem Fahrrad gefahren, um Unterricht zu nehmen bei Rudolf Serkin, der wie so viele Künstler in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die Nordschweiz emigriert war. Die Begeisterung für die Musik, vor allem von Wagner, konnte sich jedoch nie zu einem professionellen Tun auswachsen. Da gab es später anderes wie die weltumspannenden Ozeane, was ihre Leidenschaft in Anspruch nahm. Oder die Haushunde. Denen erteilte sie Unterricht, auch im Pianospiel. Ja, sie ließ eigens für die Vierbeiner ein Instrument bauen, das tiefergelegt war und große Tasten besaß. Auf dem kehrte die Lust am Vortrag wieder und die Liebe zum Komponisten vom Grünen Hügel in Bayreuth. Mit dem talentiertesten ihrer Hunde spielte Elisabeth Mann Borgese Passagen aus Wagner-Opern, sie mit der linken Hand, das Tier mit der Schnauze.

Fundamentalismus

Die beiden großen Konflikte, die die westliche Welt derzeit in starken Bann ziehen, der unverhohlene Expansionswille Putins und der brutale Versuch, ein Kalifat zwischen Euphrat und Tigris zu errichten, dem alten Zweistromland, haben bei aller drängenden Gegenwärtigkeit einen ahistorischen Aspekt. Man unterschätze die symbolischen Anleihen nicht, die in der Verklärung eines überkommenen Reichsgedankens liegen. Hier wie dort nehmen sie ihre imperiale Kraft nicht zuletzt aus Religionsformen, die kein Interesse an ihrer eigenen Geschichtlichkeit entwickelt haben. Weder das orthodoxe Christentum in Russland noch der radikale Islam kennen eine Entwicklung ihrer Theologie. Sie halten sich traditionell für die letzte, unüberbotene und unüberbietbare Weise, die Welt zu denken, abgebildet im filioque-freien Glaubensbekenntnis* und den originalen Geboten des Koran. Deren Fortschritt besteht allein in der Errichtung eines rückwärtsgewandten politischen Zustands, der alle zur Anerkennung ihrer jeweiligen Dogmatik zwingt. Auf dem Weg dahin muss man nicht einmal einen Unterschied machen zwischen dem Zynismus eines kalt kalkulierenden Despoten und der heiligen Doktrin von Wahnsinnigen. Wer auch immer unter denen, die sich entsetzt fragen, wie solche Ideologien heute noch möglich sind, bei anderer Gelegenheit wieder den Relativismus einer sich selbst überfordernden Gesellschaft zu geißeln geneigt ist, der sollte vielleicht zunächst dankbar zur Kenntnis nehmen, dass es offensichtlich weitgehend noch nicht gelungen ist, dass einzelne Gruppen für alle das letzte Wort zu sprechen in Anspruch nehmen.

* Das Filioque ist die lateinische Formel aus dem Glaubensbekenntnis der römischen Kirche, in der die Geschichtlichkeit Gottes ihren Grund hat. Der Geist hat, so die trinitarische Wendung, seinen Ursprung in Vater und Sohn, also auch in dem, der für die Weltnähe des Ewigen steht. Bis heute ist dieses kleine Wort, das im elften Jahrhundert zur Abspaltung der orthodoxen Kirche führte, der entscheidende Trennungsgrund. 

Haltbarkeitsdatum

Tausende Jahre Glückssuche haben ergeben: Die einzige Gewissheit, die das Glück schenkt, ist seine leichte Zerbrechlichkeit.

Schwein gehabt: Glückssymbol aus Glas

Schwein gehabt: Glückssymbol aus Glas

Ferienfalle

Zur klassischen Urlaubsalternative befragt – Berge oder Meer – erwidern viele ausweichend: im Winter Skifahren, im Sommer Schwimmen. Beiden Gegenden gemeinsam ist die Chance auf Blickweite mit dem einen, allerdings merklichen Unterschied, dass im Hochgebirge nur der Gipfelkletterer nach einem schweißtreibenden Anstieg den ersehnten Horizont zu sehen bekommt, wohingegen diese ferne, unbestimmte Grenze vom Strand aus als die schönste Gratiszugabe erscheint. Man darf mit Fug annehmen, dass es diese Perspektive gefühlter Unendlichkeit ist, um derentwillen etliche die eigenen vier Wände verlassen. Die wirkliche Entscheidung für den Ferienort lautet: faulenzen oder sich ertüchtigen.

Gipfelselbstgespräch

Die Spitze der Arroganz: Sich einsam fühlen angesichts der Dummheit aller anderen.

Drumherum ist mittendrin

Diplomatie ist das Wort, das so gesagt wird, dass man später sagen kann, man habe es nie gesagt, damit jene hören, die anders nicht hören wollen, dass man nichts anderes mehr will als ihren Gehorsam.