Kategorie: Allgemein

Weltformel

Die Frage aller Fragen endlich gelöst: Was war zuerst, die Henne oder das Ei?
Weder noch: Es war der Hahn.

Der japanische  Künstler Kentaro Nagai hat nicht nur den Hahn, sondern alle zwölf Elemente des chinesischen Tierkreises durch Kontinente arrangiert

Der japanische Künstler Kentaro Nagai hat nicht nur den Hahn, sondern alle zwölf Elemente des chinesischen Tierkreises durch Kontinente arrangiert

Lautmalereien

Jeder Lärmempfindliche, der sich über das unausgesetzte Getöse in seiner Umgebung beklagt, möge seine Sehnsucht nach Stille prüfen an der gegenteiligen Vorstellung, wie eine Welt wäre, in der das Schweigen herrschte: Nichts kracht mehr, wenn Gegenstände aufeinander treffen, die sich nie berühren sollten; keine Warnsignale, keine Musik, kein vernehmbares Lachen; und, am schlimmsten, keine Antworten, selbst auf das flehentliche Bitten um Erwiderung. Ohne das Knacken einer Treppenstufe, auf die wir treten, ohne das Echo eines Rufs, den wir ausstoßen, ohne den Widerstand einer Realität, die sich Gehör verschafft, ist ein selbstbewusstes Handeln nur schwer zu denken. Der Laut ist das, was uns versichert, wirklich zu sein; und die Stummheit am Ende doch unheimlich.

Die Zeit heilt

Bei den meisten unersetzlichen Verlusten verschwindet mit dem Dahingehen wenig später auch deren Unersetzlichkeit.

Umkehrschluss

Der Berater ist oft das Problem, für dessen Lösung er sich hält.*

*Karl Kraus hat über die Psychoanalyse gesagt, sie sei „jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält“. Aphorismen, Nachts, III. Zeit

Pustekuchen

Der Finanzplatz Zürich entwickelt für sich ein neues Image. Da Schwarzgeld nicht mehr attraktiv ist, setzt er nun leicht aufgeblasen auf den Erholungswert der Stadt am See. Ob es klug ist, sich als Lungen-Kurort etablieren zu wollen? Da ist viel heiße Luft in der Sache. Die könnte allzu schnell platzen.IMG_3632

Das Mehrzweckmittel

Was das Sein dem Philosophen bedeutet – ein Begriff, der zu allem taugt –, übernimmt das Geld in der Wirtschaft: Es kann jeden Wert repräsentieren, weil es für sich wertlos ist. Aber auch in anderen Gewerben kommen solche Allerweltsstellvertreter vor. Unter den Handwerkern erfreut sich der Bauschaum größter Beliebtheit. Mit ihm lässt sich jede Lücke füllen.

Superlativistisch

Neigte früher die Grußformel unter den Briefen zur förmlichen Devotion – „Hochachtungsvoll. Ihr sehr ergebener…“ –, so platzt sie heute mit übersteigerter Vertraulichkeit ins Haus. Im Superlativ zwischen „Herzlichst“ und „liebsten Grüßen“ wirft sich der Absender auch dem fremdesten (sic!) Mail-Adressaten an den Hals, wie sich ehedem seine Vorfahren einander im Unterwerfen überboten hatten. Vom größtmöglichen Gefälle sind beide Weisen nicht weit entfernt. Da macht es nichts, dass dort der Abstand betont ist, wo hier die Nähe beschworen wird. Aber kann man sich Aufmerksamkeit beim Abschied nur mit einer gehörigen Portion Übertreibung erkaufen?

Partitur der routinierten Freundlichkeit

Es müsste eine eigene Musikkunde geschaffen werden für jenen nur auf Dienstleistungen beschränkten Singsang, der überschwenglich dankt, danach fragt, ob das Essen geschmeckt habe, man eine Rechnung brauche. Wo die Freundlichkeit sich in der Routine verliert, wird sie melodisch.

Überzeugungsarbeit

Verlogenheit: die Lüge, die man so oft wiederholt hat, dass man ihr selber glaubt.

Zahlenfüchsen ins Stammbuch geschrieben

Dieselbe Strecke, in Metern gemessen, ist als Hinweg zuweilen kürzer denn als Rückweg. Und umgekehrt. Was sie verändert? Sehnsucht, Hunger, Abschiedsschmerz, Vorfreude, Befürchtung, Gewissheit, Erleichterung. Eine Welt, durch Quantität erschlossen, ist eben nicht mehr als eine quantitativ erschlossene Welt.

Moin

Über die Herkunft der friesischen Grußformel „Moin“, die zu jeder Tages- und Nachtzeit brauchbar ist, gibt es verschiedene Auskünfte. Vor allem zwei wetteifern um die größere Plausibilität: die Verkürzung des „Guten Morgen“ zu einem maulfaulen Doppellaut, was allerdings nicht die Gängigkeit zu später Stunde erklärt, und die Ableitung aus dem plattdeutschen moi, das so viel bedeutet wie angenehm, gut und schön. Vielleicht könnte eine dritte kleine Etymogelei den Streit über die Wortherkunft befrieden. „Moin“ meint: heute nicht. Das käme der norddeutschen Unlust zum gepflegten Gespräch entgegen, reflektierte die ohnehin oft erlebte Vergeblichkeit, gegen den kräftigen Wind irgendetwas Verständliches zu äußern, und heißt einfach, dass man besser alles, was es zu sagen gäbe, auf einen anderen Tag schiebt.

Nun sei doch vernünftig

Das Dilemma jedes Gebots ist, dass es an die Vernunft des Unvernünftigen appelliert. Wäre die Uneinsichtigkeit absolut, hülfe auch keine strafbewehrte Aufforderung. Denn diese wirkt nur in dem Maße, wie ein Minimum an Einsicht geblieben ist: wenigstens die Erkenntnis, dass es besser wäre, dem Verbot zu folgen.

Dünenweg Amrum

Dünenweg Amrum

Jahreswechsel

„Es ist völlig wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden müsse. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss. Dieser Satz – je mehr er durchdacht wird – endet gerade damit, dass das Leben in der Zeitlichkeit niemals richtig verständlich wird, eben weil ich keinen Augenblick die vollkommene Ruhe bekommen kann, um die Stellung ,rückwärts’ einzunehmen.“

Sören Kierkegaard, Die Tagebücher. Erster Band, 3182014

Hinterm Horizont geht’s weiter

Ausblick in ein neues Jahr

Ausblick in ein neues Jahr

Sinnesstrapazen

Zum Jahreswechsel in den Wochenzeitungen Listen. Aufstellungen über die besten Bücher der zurückliegenden Saison, die schönsten Kinofilme, die beliebtesten Restaurants, die frechsten Sprüche.

Hier eine Hierarchie der gequälten Sinne in der Bahn:
1. olfaktorisch (wochenalter Teppichmuff im Gang, das Burger-Menü, frisch ausgepackt kurz nach dem Zustieg, das schwere Parfum auf dem Pelz der schweren Dame eine Reihe weiter)
2. akustisch (nicht endende Trennungsgespräche am Telefon, inklusive aller Gefühlsausbrüche vom zärtlichen Säuseln, dem tränenerstickten Flehen bis zum Höhepunkt im Gebrüll)
3. taktil (der diskrete, aber verbissene Kampf um die Armlehne, die Kofferecke am Schienbein, die drängelnde, dampfende Bluse im Rücken kurz vor dem Ausstieg)
4. visuell (neben den verschmierten Tischen und verstopften Mülleimern besonders eklig: verätzte Türklinken am WC)
5. gustativ (testhalber zu empfehlen das warme Schinken-Käse-Baguette, der gastronomische Service der Bahn empfiehlt es auch)

Nur keinen Ärger

Zu den schöneren Talenten der Aggression gehört, dass sie Befreiung sucht.

Was gewesen wäre

Das Mögliche im Vergangenheitsmodus ist das Versäumte.

Zwischen den Zeiten

Nichts kostet mehr Zeit, als die Zeit auskosten zu wollen. Wer immer nur darauf bedacht ist, aus einer Situation das Optimum herauszuholen, wer sich stets selbst zur Eile antreibt, bei allem nach dem Zweck fragt, die Bedeutung von Stunden misst an dem, was sie gebracht haben, verliert sich – nicht in der Zeit, aber – an die Zeit. Wo diese sich im Handeln präzise als das in Erinnerung ruft, worum es vornehmlich gehen soll, hat Zeitloses keinen Ort. Es mag eine Illusion sein, sich über die Zeit erheben zu können, gleichwohl leistet sich das Leben diese Vorstellung in seinen schönsten Momenten, indem es seine zentrale Bedingung einfach vergisst: im Glück, im Abenteuer, im Spiel, als Inbegriff des Klassischen.

Bauzaun vor einem „Klassiker“ der City

Bauzaun vor einem „Klassiker“ der City

Falscher Hase

Aber Ostern kommt bestimmt.

Guerillastrickware in Frankfurt, Merianplatz

Guerillastrickware in Frankfurt, Merianplatz

Autsch!

Im Kopf hatte sich die Kollision bereits ereignet. Fußgänger und Kleinwagen bewegten sich so, dass es zum Aufprall kommen musste. Der eine auf dem Weg zur gegenüberliegenden Straßenseite über den Zebrastreifen, der andere deutlich zu schnell in Richtung Innenstadt. Im letzten Moment erkannte der Fahrer die riskante Situation und reagierte mit einer Vollbremsung. Die Reifen quietschten und qualmten. Sekunden später stand das Auto, die Motorhaube ragte weit in die Gefährdungszone. Ehe der Passant sich vom Schreck erholen konnte, schaute auch schon ein grinsendes Gesicht cool aus dem Fenster. „Das ist mein Weihnachtsgeschenk für Dich, Alter“, sagte der Mann am Steuer. Und gab wieder Gas.

Begriffe in Geschichten

Weihnachtskrippe von Manufactum

Weihnachtskrippe von Manufactum

Mythen sind Geschichten, die mehr sein wollen als nur eine Geschichte. Als erzähltes System erklären sie die Welt. Sie schaffen Ordnungen und Zuordnungen, liefern Vorstellungen, wo die Angst vor Naturgewalten sich der Phantasie wild bemächtigt hatte, beruhigen Erwartungen, regeln Einstellungen, ermöglichen Anschlussberichte. In all dem setzen sie sich zwischen Mensch und Wirklichkeit, stellen sich gegen deren scheinbar willkürliche Eingriffe ins Leben, indem sie Einblicke zulassen in Entscheidungsmechanismen und Motivstrukturen. Das ist ihre Funktion, bis heute. Der Mythos erledigt sich nie. Sein Widerpart ist nicht das aufklärende Wissen, sondern die verabsolutierte Welt. In ihr sehen wir immer Anlass, weiterzumachen mit den erfundenen Sinngebungen des Ganzen, und seien diese noch so verkleidet als Theorien oder Utopien, Eschatologien oder Geschichtsphilosophien. Wir brauchen das Zwischenstadium des Erzählten, um sie auszuhalten. Nichts ist aktueller als der Mythos von gestern. Und jeder Versuch, ihn zu ersetzen durch Begriffe, scheitert schon daran, dass diese nicht enthalten, was in den Geschichten bilderreich berichtet wird. So auch jene eine, die an Weihnachten, wieder und wieder gelesen, die größte Entlastung vorstellt, die denkbar ist: In der Geburt des Weltenerlösers ist für den Menschen alles getan, ohne dass er etwas hinzufügen müsste. Nichts tun zu können, nennt man Glauben. Es ist die angemessenste Form von Leistungsverweigerung angesichts einer liebevollen Zuwendung, der zu entsprechen bedeutet, sich erfreut zu wundern. Die Geschichte geht so (Lukas 2, 1-20, in der Übersetzung von Martin Luther):

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war,  auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die ward schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

 

Das größte Geschenk

Nicht einmal geschenkt nähme er das, so lehnt der Nachbar an der Ladentheke das wohlmeinende Angebot des Verkäufers missgelaunt ab. Der vorweihnachtliche Gang durch die überfüllte Stadt offenbart unwillkürlich manche Wahrheit über das, was wir für wert erachten. Immer seltener ist es die Tatsache, dass wir etwas unverdient erhalten. Was „umsonst“, also jenseits des Üblichen gegeben wird, hat leicht den Ruch, nicht nur nicht bezahlt zu sein, sondern auch vergeblich offeriert. Der Wert eines Geschenks liegt kaum noch darin, dass es sich um eine Geste der Freiwilligkeit handelt, sondern wird gemessen am geschätzten Preis. „Geschenkt!“ heißt es oft abschätzig in Situationen, da der eine dem anderen schuldet, was dieser nicht weiter besprechen will. Wie aus einer anderen Zeit erscheint da die Frage, ob das Etikett entfernt werden solle, bevor man die Sache ins buntbedruckte Papier einwickelt. Marcel Mauss beschreibt in seinen Studien über die Formen des Austauschs in archaischen Gesellschaften das, was er „Institutionen der totalen Leistung“ nennt*: die Pflicht zur Annahme und Erwiderung von Geschenken. In diesen Systemen von Übergabe und Rückgabe, die sich bis heute finden lassen in frühen Kulturen, stabilisieren sich Gesellschaften durch feste Regeln zwischen den Stämmen, die über den Gabenritus einander mitteilen, dass alles kommt und geht. Weihnachten, so alt dieses Fest schon ist, durchbricht den obligaten Geschenkekreislauf. Es gibt nichts, was wir als Leistung entgegensetzen können. Das Geschenk ist zu groß, die Geste überreich: Gott kommt, ohne dass er wieder gehen muss.

*Marcel Mauss, Die Gabe, 36

Großer Bahnhof

Zum vierten Advent ein Kultur-Flashmob …

… im Kölner Hauptbahnhof

 

Allein mir fehlt der Glaube

Ludwig Feuerbach, der wohl gefährlichste unter den Religionskritikern des neunzehnten Jahrhunderts, hat die Weihnachtsbotschaft durch zwei Wörter ergänzt und meinte, dadurch die Theologie in die Anthropologie wenden zu können: nichts als. Gott ist – nichts als – Mensch. „In der Inkarnation gesteht die Religion nur ein, was sie in der Reflexion über sich selbst, als Theologie, nicht Wort haben will, dass Gott ein durchaus menschliches Wesen ist.“* „Durchaus“ meint hier: durch und durch. Gerade weil Sätze dieser Art eben auch in den großen Lehrbüchern der theologischen Dogmatik stehen, zeugen sie, kritisch gewendet, nicht nur von einem tiefen Verständnis von Religion, sondern treffen diese im Kern. Erst eine Theologie, die sich solchen Anwürfen stellt und sich an ihnen entwickelt, findet zur Meisterschaft. Doch Verabsolutierungen – nichts als, nur, durch und durch – fordern den eigenen Gedanken selten, noch schärfer und klarer zu werden. Gewöhnlich nutzt sich die Provokation rasch ab zur Banalität und endet etwa als fade Werbebotschaft eines Weltgetränks: Der Weihnachtsmann glaubt an den Menschen. Wer hätte gedacht, dass Santa Claus in Wahrheit ein Renegat ist?

Hauptbahnhof Zürich

Hauptbahnhof Zürich

*Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1. Teil, Kap. 5