Kürzlich aus einer Schweizer Zeitung den Satz laut vorgelesen: „Und dann entscheidet der Souverän.“ Die Reaktion kam prompt: „Das kann ja dauern, wenn die Sache erst einmal auf der langen Regierungsbank landet.“ Es hat ein wenig gebraucht, bis der deutsche Gesprächspartner seinen politischen Fauxpas bemerkte und erschrocken korrigierte: „Der Souverän, das sind doch wir, das Volk.“
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Ermüdungserscheinungen
„Ich rufe noch einmal an, bevor ich schlafen gehe“, sagte sie am frühen Abend eines anstrengenden Tags. „Ich hoffe, ich bin dann noch wach.“ „Au wei. Werde dich wecken“, versicherte er. Aber da hatte sich schon die Traumlogik ihrer Worte bemächtigt, die möglich macht, was im wirklichen Leben sinnfrei ist, und er wartete vergeblich auf eine Antwort.
Möglichkeitssinn
Noch immer werden Manager daran gemessen, ob sie die gesteckten Ziele erfolgreich realisieren. Das allerdings können kybernetische Systeme in der Steuerung eines Unternehmens dauerhaft effizienter und effektiver. Die Zukunft des Managers liegt nicht im Verwirklichen. Seine Aufgabe erfüllt er, wenn er ermöglicht.
Sie lieben mich, sie lieben mich nicht …
„Ich kenne eigentlich nur zwei Orte“, sagt der vielgereiste Künstler, der auf seinen Tourneen schon die halbe Welt gesehen hat. „Den, in dem man mich mag. Und jenen anderen, wo ich um den Applaus zu kämpfen habe.“ In der Liebe wird die Wirklichkeit sehr einfach, auch wenn die wirkliche Liebe oft kompliziert ist: Sie ist reduziert auf die schlichte Alternative von Zustimmung oder Ablehnung.
Politische Ohnmacht
Der Staatssekretär klagt über die schnell wachsende Segmentierung der Politik. Immer mehr Interessengruppen setzten sich durch mit neuen ungezählten Gesetzen. Hier der Umweltschutz, dort das Baurecht, andernorts Verkehrsregeln, Mietpreisbremsen, Sondersteuern. Und keiner frage danach, ob alles noch zusammenpasst. Da erzählt sein Parteigenosse, dass man in einem Berliner Forst den tonnenschweren Kopf des alten Lenin-Denkmals wiedergefunden habe, der vor Jahren im märkischen Sand illegal verbuddelt worden war. Und dass nun vorgeschlagen worden sei, die Büste zu heben, um sie auszustellen in einem Skulpturenpark. Das Problem sei, dass ausgerechnet dort eine Zauneidechse haust, die unter der besonderen Obhut der Naturfreunde steht. Ein Bagger dürfe also nicht vorfahren. Er könnte das seltene Tier ja versehentlich töten. Die Bergung werde also sündhaft teuer; es gehe nur mit dem Helikopter. Zum Glück sprudelten die Steuerquellen derzeit wie nach der Schneeschmelze, so dass der Sache nichts im Wege steht. Da platzt dem bisher staunenden Zuhörer politischer Funktionärslogik der bürgerliche Kragen, und er zitiert laut, was Lenin vor mehr als hundert Jahren in einem Thesenpapier verbreitet hat: „Der Anarchismus ist ein Produkt der Verzweiflung.“
Ihre Papiere, bitte
Der gewöhnliche Gestus, sich beim Geschäftspartner mit der Visitenkarte vorzustellen, bezeichnet die Schwelle, auf der eine Begegnung nicht nur als reine Transaktion verstanden werden will, sondern eine Beziehung beschreibt. Mit der stilvoll gestalteten Karte übermittelt einer stillschweigend seinen Wunsch, der andere möge ihn im Gedächtnis behalten auch dann, wenn es nichts mehr zu besprechen gibt.
Nichts Neues
Beseelt von der Vorstellung, die Originalität von Menschen, ihre Neugier, ihre Lust am Tüfteln und Fabulieren methodisch in den Griff zu bekommen, übersehen die Technokraten des gefälligen Fortschritts, die Innovationsmanager, meist die zweite Bedeutung von novare. Es heißt nicht nur: erneuern. Sondern auch: zu einer Sache eine neue Einstellung finden. Da kommt der Mensch ins Spiel, seine Perspektive, seine Haltung, sein Wille, sein Mut. Also letztlich all das, was eine notwendige Voraussetzung ist, damit Veränderung gelingt.
Erster Satz
Der Anfang eines noch ungeschriebenen Romans:
Noch bevor er an diesem Morgen aufstand, beschloss er, sich fortan für alt zu halten. Sollten die anderen doch denken, was sie wollen. Er hatte sich entschieden. Gewöhnlich brauchte er unangemessen lang für den nächsten Schritt, vor allem bei wichtigen Anlässen. Und manchmal brachte er es überhaupt nicht fertig, sich durchzuringen. Er war ein talentierter Zauderer, vor allem in den Lebensfragen, auch wenn er das gut zu verbergen wusste. Den hartnäckigen Heiratswünschen der Freundin wich er jedes Mal beredt aus; Kinder hatte er keine. Das verstand er bestens, eine Sache jahrelang in der Schwebe zu halten. Er war ein virtuoser Jongleur von drängenden Fragen und angedeuteten Sehnsüchten. Doch diesmal kam das Urteil unvermittelt; es kam über ihn wie ein verspäteter Nachtmahr, der sich seiner von hinten bemächtigt hatte. Alt wollte er also künftig sein. Als er sich darauf festlegte, war er gerade einmal sechsunddreißig, und der Firmenchef hatte ihm gestern erst angeboten, das frisch gewonnene Architekturprojekt in San Sebastián verantwortlich zu leiten …
Was es nicht alles gibt
Varianten eines berühmten Satzes:
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.*
Aber es gibt viel falsches Leben im richtigen.
Vielleicht ist es sogar richtig, auch falsch zu leben.
Oder nur falsch, richtig zu leben. Als richtiges Leben ist das Leben falsch.
Ohne dass man wüsste, wie es geht, richtig falsch zu leben.
Wie viel Falsches ist im richtigen Leben? Wie viel Richtiges im falschen?
Nichts ist lebendig, wenn man nur richtig lebt. Nichts lebendig, wenn man nur falsch lebt.
Was ist daran falsch, zwischen richtigem und falschem Leben zu trennen?
Oder ist Leben weder richtig noch falsch, sondern nur lebendig oder nicht?
* Th. W. Adorno, Minima Moralia, 42
Schön wär’s
„Der liebe Gott ist nicht so lieb, dass er denjenigen, die keinen Inhalt haben, auch die Form schenkt. Sondern es ist so, dass Leute, die Inhalte zu gestalten vermögen, auch die stärkere Form haben. Je intelligenter die Inhaltsbewältigung, desto stärker die Form. Inhalt und Form steigern sich gegenseitig.“ So hat es sich der Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka gewünscht, wohl wissend, dass es in der Welt anders zugeht, eher wie es ein zweiter großer Wiener geschrieben hat, der bissige Karl Kraus: „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können.“ Das gelte für Journalisten, meint er. Und man könnte anfügen: für Politiker, Manager, Marketingfachleute, Werbetexter, Callcenter-Mitarbeiter, Sonntagsredner aller Art. Sie alle sind geschult darin, es auf die Sache nicht mehr ankommen lassen zu müssen. Das ist das dunkle Geheimnis der zeitgenössischen Kommunikation: dass in dem Maße, wie alles auf die Form ankommt, es dem Inhalt an allem fehlt, wenn er keine Form findet.
Wie heißt es richtig?
Schon das frühe Gleichnis vom neuen Wein, der in alte Schläuche gefüllt wird, bezeichnet das Problem. Eine revolutionäre Entdeckung findet zunächst nicht den ihr angemessenen sprachlichen Ausdruck. Sie greift auf bekannte Wörter zurück, so wie die erste voltaische Säule im Jahr 1800, die Batterie, ihren Namen aus der Militärtechnik entlehnte. Wo das Wort dort eine Zusammenstellung mehrerer Geschütze zur Erhöhung der Feuerkraft meinte, bedeutete es fortan auch die Zusammenschaltung mehrerer elektrischer Zellen, um Energie speichern und abgeben zu können. Man muss das Neue an das Alte binden, anders lässt es sich nicht als dessen Überwindung verstehen.
Mehr
In jedem Glück steckt das Verlangen, sich zu zerstören. Nicht aus destruktiver Lust, sondern weil es sich selbst überbieten will. Es gibt kein Glück, das nicht tendenziell maßlos wäre. Gerade in den Momenten, da man meinen könnte, alles zu haben, reizt die Vorstellung, noch mehr zu wollen.
Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?
Vielleicht ist das „Wo?“ das Fragewort, das am meisten unterschätzt wird. Denn jenseits geographischer Koordinaten sucht es nach der Verortung, also jenem Ort, den wir mit Bedeutung aufladen: Heimat, Herkunft, Ziel, das Vertraute, Gewohnte, Selbstverständliche, Ordnung. So manche tiefen Ungewissheiten erledigen sich, wenn ich nur angeben kann, wo ich mich befinde oder wo etwas hingehört.
Erfolgstypen
Paradoxie des Erfolgs: Entweder er ist planbar, beruht auf durchsichtigen Methoden und vorgezeichneten Wegen, dann fehlt ihm der freie Entschluss, die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, also im eigentlichen Sinn das, was einen Erfolg charakterisiert. Oder er ist das Ergebnis von Eigeninitiative, Anstrengung, Souveränität und Widerspruch gegen Abhängigkeiten, also mein Erfolg, dann ist er nicht berechenbar und kann nicht garantiert werden. Beide Formen von Erfolg finden sich in leicht identifizierbaren Typen wieder: im Karrieristen oder Opportunisten und im selbstständig denkenden wie handelnden Unternehmer. Schwierig nur, wenn jener zugleich dieses sein soll.
Wenigstens noch dies
Der derzeit übliche Ausdruck von Lebenszufriedenheit „Was will man mehr?“ klingt in seiner Saturiertheit kaum beglückt, sondern verrät unabsichtlich die stille Müdigkeit dessen, der nichts mehr erwartet. Ihm zum Trost und zum Trotz sei darauf verwiesen, dass mindestens formal eines noch aussteht: die Antwort auf diese Frage.
Kleine Typologie des Verhaltens
Nach einem tiefen Griff in die Klischeekiste: Ein recht passendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen ist die Verteilung von Unduldsamkeit und Versöhnlichkeit. Es gibt jene, die radikal in der Sache sind und geschmeidig im Persönlichen; und jene anderen, die in jeder Geschichte den Kompromiss suchen, im eigenen Leben allerdings nur zwei Farben kennen – schwarz oder weiß.
Oh Wunder
In einer kleinen Notiz in seinen „Momentbildern sub specie aeternitatis„* hält Georg Simmel fest, was er das „Wunderwerk der Banalität“ nennt: Man müsse nur einander ganz und gar entgegengesetzte Standpunkte bis zur absoluten Banalität steigern, um jenes Niveau zu erreichen, auf dem sie mit gleicher Stärke zu verteidigen seien, so dass sich die Frage, wer denn Recht hat, erübrigt. Nie wurde genauer beschrieben, was viele Formen moderner Kommunikation ausmacht: den Erfolg der Talkshows wie das wortreiche Achselzucken eines Callcenter-Mitarbeiters bei der Bearbeitung eines Widerspruchs und dazwischen so manchen Werbespot oder das Marketingsprech.
* Georg Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 17, 405
Klar Schiff
Vorsicht vor den Menschen, die mit Verve die Verhältnisse eindeutig zu machen versuchen: Sie spüren den Schmerz nicht, der sich in jeder Bestimmtheit versteckt, und überhören das Nein, aus dem die Affirmation errungen wurde. Kein Vertrag, kein Erfolg, keine Lebensentscheidung, die nicht unter dem spinozischen Verdikt stünde: determinatio negatio est.*
* Spinoza, Brief an Jarig Jelles vom 2. Juni 1674
Wow!
Nicht nur auf Partys heißt in einem Gespräch der beiläufige Einwurf „Interessant!“ so viel wie: ganz und gar uninteressant. Interesse ist die schwächste Form der Teilnahme.
Na, logo
Wenn im Leben etwas logisch ist, dann ist es nicht lebendig.
In Form bleiben
Krisenmanager: einer, der der Öffentlichkeit sehr gefasst erläutern kann, wie fassungslos er ist.
Vor-Recht
Der juristische Grundsatz culpa in contrahendo, nach dem es eine einklagbare Verpflichtung schon vor einem Vertragsabschluss gibt, berührt das Verhältnis von Recht und Moral. Zwei Verhandlungsgegner, die aushandeln und feilschen, ob sie verbindlich Partner werden wollen, können das nur, wenn es eine Art Vertrauensschutz in dieser noch fragilen, weil nicht festgeschriebenen Beziehung gibt. Zu einem Kontrakt kommt es unter der Annahme, dass es dem anderen mit seinen Absichten ernst ist. Erst dann ist einer bereit, seine Zeit einzusetzen, Kosten auf sich zu nehmen, im vorhinein zu investieren. Es gibt also Schuldrelationen, die nicht vertraglich begründet sind, sondern als Voraussetzung einer rechtlichen Übereinkunft gelten. Das Recht stärkt im Prinzip culpa in contrahendo sich selbst, in dem es dort ansetzt, wo es nicht wirklich greift. In der Behandlung der Interessenten untereinander, als ob sie Vertragspartner wären, werden allererst die Bedingungen geschaffen dafür, dass sie es werden können. Jeder Vertrag will das persönliche Vertrauen überflüssig machen, indem er formalisiert, was sich sonst auf Anstand, Haltung oder Ehre berufen müsste. Und basiert doch elementar auf ihm. Das auch gesetzlich anzuerkennen, klärt das Recht über sich selbst auf: Es ist strafbewehrt, wenn man mit dem vorsätzlich spielt, was das Recht allererst möglich macht.
Viel zu früh
Die Hoffnung stirbt zuletzt? In Liebesdingen schwindet sie oft zuerst und leitet so das Ende einer Beziehung ein.
Heldensaga
Auf die Einladung zum runden Geburtstag notiert die werte, oft liebenswerte Kollegin: „Jede Falte hart erkämpft“. Der ältere Gratulant, dessen Lebensschlachten schon etliche Spuren sichtbar hinterlassen haben, beglückwünscht sie hintersinnig zum nun anbrechenden postheroischen Jahrzehnt. In dem helfe nicht einmal mehr die Maxime: Jede Falte hart bekämpft.