Kategorie: Allgemein

Mehr Abstand

Erwachsensein ist die Emanzipation der Kinder von den Eltern und die der Eltern von den Kindern.

Das falsche Versprechen der Macht

Mehr gestalten zu können, ist das Versprechen, mit dem die institutionelle Macht verführt. Mehr verwalten zu müssen, ist die Erfahrung derer, die sich auf ihre Verlockungen eingelassen haben.

Osterlachen

Der alte Brauch, die Hörer in der Osternachtspredigt zum Lachen zu bringen, ist mehr als ein rhetorischer Kniff, der gegen die Müdigkeit der frühen Morgenstunden angeht. In jedem Lachen steckt ein Protest gegen die Eindeutigkeit, mit der eine Situation ausgelegt wird, ein Widerspruch gegen deren Ernst. Denn Ernst heißt nichts anderes, als dass es keinen Interpretationsspielraum gibt. „Eindeutigkeit, Einsinnigkeit wird nicht nur von Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit begrenzt, sondern auch von Sinn- und Bedeutungsfreiheit.“* So erläutert es Helmuth Plessner in seiner Studie über „Lachen und Weinen“. Das Ostergelächter richtet sich gegen jene Realität, die keine Gelegenheiten mehr erlauben will: den Tod. Und bettet ihn so ein in ein Weltverständnis, das nichts duldet, was sich nicht jenseits des unmittelbar Einsichtigen auch anders sehen lässt. Die Auferstehungsgeschichten erzählen von einer Wirklichkeit, die sich dagegen wehrt, verabsolutiert zu werden, indem man ihr den Möglichkeitsinn raubt und damit die Lebendigkeit des Lebens.

* Gesammelte Schriften VII, 381

Was passiert, wenn nichts passiert?

Wo immer in einer Erzählung sich Lücken finden, regen sie die Phantasie an. Auslassungen sind ein probates Stilmittel. Sie erzeugen, indem sie Zeitsprünge anzeigen, nachfassende Neugier, hinterlassen als Szenenwechsel die Frage, wie es weitergeht. Was geschah in der Zwischenzeit? So wollen wir es erfahren, möglichst genau. Auch in der Geschichte vom Los des Weltenerlösers, die dieser Tage allerorten gelesen wird, gibt es eine entscheidende Fehlstelle, der Tag nach seinem Tod bis zum Zeichen von dessen Überbietung in der Auferstehung. Warum diese Überbrückungsfrist? In der theologischen Tradition wird der liturgiefreie Karsamstag gefüllt mit allerlei Heldentaten in der Unterwelt, vornehmlich der Befreiung der gestorbenen Seelen aus der Höllenpein. Die überlieferten Texte kennen allerdings keine Dramen dieser Art. In den Zeugnissen herrscht Stille, die Ausdrucksform des Ernstes. Denn um den geht es letztlich als der alles bestimmenden Frage, was noch Realität genannt zu werden verdient angesichts eines Todes, der als überwunden beschrieben wird: Ist die Endlichkeit des Menschen und seiner Welt ernstzunehmen, wenn sie nicht mehr die letzte Wirklichkeit sein soll? Das zu bedenken, wird als Aufgabe an all jene gestellt, die schon auf morgen schauen.

Passion

Da sprach Pilatus zu ihm:
Hörst du nicht, wie hart sie dich verklagen?
Und er antwortete ihm nicht auf ein Wort.
Matthäus 27, 13.14

Ein Nein zum Handeln, zu einem bestimmten Tun, adelt das Lassen als souveränen Akt. Bevor das gelingt, gilt es all jene Schwierigkeiten zu bewältigen, die der Negation gegen sich selbst innewohnen: die Identitätsbildung durch Identitätsverlust, die Selbstfindung durch Selbstzerstörung, die Sprachformung durch Sprachlosigkeit, die Problemdefinition durch Protest. Das Lassen als negatives Verhalten gewinnt seinen Sinn erst, wenn aus dem Verweigern von Gelegenheiten sich stärkere Möglichkeiten erkennbar ergeben. Die zu ergreifen ist ein Akt überlegener Freiheit, um dessentwillen allein schon das Lassen niemals Unterlassen sein darf.

Feierabend, Feiertag, Feiermorgen

Eine der klügsten Alltagsordnungen findet sich in der Regel des Benedikt von Nursia, des Gründers des modernen Mönchtums. Bekannt ist das ihm zugeschriebene, aber so von ihm nie formulierte ora et labora, die Aufforderung zu beten und zu arbeiten. Doch die Pointe liegt woanders, nicht allein im Wechselspiel von zwei zentralen Lebensformen, sondern in der Einsicht, dass wiewohl alles sein eigenes Maß hat, es schwierig sei, eine Sache von innen her zu begrenzen. Deswegen findet Benedikt einen Rhythmus von drei – nicht zwei – Tätigkeiten: dem Beten, dem Arbeiten und dem Lesen. Das jeweils Andere soll das Aktuelle beschränken. Damit einer sich nicht überarbeitet, soll er nach festgelegter Zeit lesen; damit er sich nicht überliest, beten; und damit er sich nicht überbetet, arbeiten. Erst diese präzise Abwechslung verschafft einem Dasein im ganzen das, was es lebendig hält: Maß.

Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen: Nicht nur die Arbeitswütigen holt nach den Feierzeiten der Alltagsrhythmus wieder ein

Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen: Nicht nur die Arbeitswütigen holt nach den Feierzeiten der Alltagsrhythmus wieder ein

Wortewandel

Andreas Platthaus beschreibt in der F.A.Z. von heute seine Lektüre der „Tagesrationen“ und legt die religiöse Grundierung so mancher Texte des Buchs frei. „Man spürt den Zauber, der … Begriffen wie Souveränität, Liebe, Gespräch oder Anfang innewohnt. In gewisser Weise gleicht das von den ‚Tagesrationen’ vermittelte Lebensgefühl dem einer Heidegger-Lektüre, nur dass Werners Buch nicht in Abgründe (metaphysischer wie geistesgeschichtlicher Art), sondern hinaufschaut.“

Wiederholungszwang

Schon beim allerersten Mal steht der Geburtstag unter einer Frage, die er fortan nicht mehr verliert: Wem gehört der Tag? So wie das Kind, das das Weltlicht gerade erblickt hat, in den Mittelpunkt wohlmeinender Wünsche gerückt ist, aber von der Bedeutung dieser Stunde noch nichts mitbekommt, wird auch der Ältere vor die beklemmende Alternative gestellt, den Tag, seinen Tag entweder still in dessen Sonderheit zu genießen oder aber Tür und Telefonleitungen zu öffnen für die nicht abreißende Folge all der Glückwünsche der Lieben um den Preis, für sich keine Zeit zu haben. Doch im Ernst: Wer will an diesem Tag seine Ruhe?

Jetzt nur nicht sentimental werden

Man mag es nicht entscheiden müssen, ob es ein Vorteil zu nennen ist, wenn mit zunehmendem Alter auch die Erfahrung wächst. Ein zweifelhaftes Bild gibt sie jedenfalls dort ab, wo ihr nicht in gleichem Maße sich Lebensklugheit beigesellt hat. Denn nur erfahren, wird der Mensch leicht sentimental. So wie er vielleicht einst die Zukunft verklärt hat, redet er sich dann mit fortgeschrittenen Lebensjahren die Vergangenheit schön – es sei denn, ein geläuterter Verstand gebietet ihm Einhalt, indem er ihn mit einer Überfülle an Gegenwart beschäftigt. Man sollte älteren Geburtstagskindern nicht so viel Zukunft wünschen oder die Erinnerungen heraufbeschwören, als sie vielmehr mit ihrer eigenen Zeitgenossenschaft und deren Aufgaben konfrontieren. In dem Maße, wie die Einsicht vorherrscht, dass früher nicht alles besser war, bleiben die Kräfte lebendig, es hinfort besser zu machen. Der weltweise Thomas Carlyle schrieb schon: „Ach, der unfruchtbarste von allen Sterblichen ist der sentimentale … Liegt er nicht hier als eine immerwährende Lektion der Verzweiflung und ein Musterbild siecher, kränklicher Impotenz?“*

*Thomas Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln, 151

Der schmale Grat

„Sie können uns ruhig ein Stück weit herausfordern“, sagt der Vorstand dem Gast, der eingeladen ist, vor dem engsten Führungskreis des Unternehmens vorzutragen. „Aber vielleicht provozieren Sie die Leute dabei nicht zu stark. Wir sind mitten in einem anstrengenden Veränderungsprozess.“ Unter allen Befürchtungen ist die Angst vor der Wahrheit in vielen Firmen die größte. Und nichts wird unter den leitenden Mitarbeitern so wenig gepflegt wie die deutliche und direkte Rede.

Vom Leben her

Es ist ein gut bestätigtes Vorurteil, dass nirgendwo abstrakter und theoretischer gedacht wird als in der praktischen Philosophie.

Taktloser Ausklang

Noch ist der letzte Takt des Schlaflieds nicht verhallt, mit dem Bachs „Matthäuspassion“ endet – „wir setzen uns mit Tränen nieder“ –, da springt die letzte Reihe im Konzertsaal erleichtert auf und eilt fröhlich in die nächste Bar. Sie sucht den Ausklang des Abends und verpasst den des Oratoriums. – Ein musikalisches Meisterwerk erkennt man daran, dass es im nachwirkenden Hören gegenwärtiger ist als während der Aufführung.

Auf dem Posten

Unter allen Politikern scheinen jene die entspanntesten zu sein, die sich um die sozialen Fragen kümmern. Ob das nur an der Aufgabe liegt? Allemal reizvoller als die gerechte Verteilung der Mittel ist doch die Verteilung der Ämter und Pfründe, die sich um den Ausgleich solcher staatlicher Zuwendungen kümmern. Es ist gewiss sinnvoll, Wohngeldanträge zu bewilligen und gegen Mietwucher vorzugehen. Schöner indes ist es, mit den Vertretern der Mieterlobby opulent zu speisen. Es ist wichtig, den Mindestlohn einzuführen. Was allerdings noch mehr befriedigt: dem Koalitionspartner die handwerklichen Fehler im Gesetzeswerk öffentlich anlasten zu können.

Höflicher heucheln

„Danke, dass Sie so lange gewartet haben“, sagt die Service-Mitarbeiterin im Callcenter zur Begrüßung in neu gelernter Marketingroutine. Der Anrufer, der dieses Mal nicht in der Endlosschleife gelandet, sondern sofort durchgestellt worden ist, zeigt sich verblüfft. „Woher wissen Sie das? “ fragt er zurück. Doch mit dieser Erwiderung vermag die beflissene Kundenbetreuerin nichts anzufangen. „Wenn Sie mir Ihr Problem nicht nennen, kann ich Ihnen nicht helfen.“ „Mein Problem ist, dass ich mich von Ihnen und Ihrem Unternehmen nicht ernstgenommen fühle“, murmelt er nur und legt auf.

Nimm es persönlich

Stil: die Weise, wie eine Persönlichkeit sich sachlich ausdrückt.
Stilkritik: die Sache, die stets persönlich genommen wird.

Hast du Töne?

Seit den Anfängen der Zwölftontechnik fremdelt das Publikum mit dieser Art musikalischer Komposition. Auch diesmal finden sich etliche im Konzertsaal, die noch während der Aufführung ihren Platz verlassen und murmelnd zum Ausgang streben, empört das Haupt erhoben, als hätte sie der Tonsetzer mit seinem Werk persönlich beleidigt. Unvermittelt flüstert die Nachbarin mitten in eine folgenreiche Verschiebung von Oberton-Akkorden: „Von welchem Instrument stammt dieses Geräusch?“ Schon will man in Gedanken den Begriff korrigieren und statt vom technischen „Geräusch“ über den „Ton“ oder über „Klänge“ reden, da merkt man, dass nicht nur die Hörgewohnheiten herausgefordert werden durch die neue Musik. Was anders klingt, muss anders benannt und gedacht werden: Das „Geräusch“ ist der hohen analytischen Kompositionskunst wohl näher, als es jeder andere Ausdruck sein könnte, der dem gewohnten melodiösen Arrangement gewissenhaft entsprechen will.

Schöner langweilen

Vieles, das als einfache und klare Form in die Mode Eingang findet, ist in seiner Spärlichkeit nur fade. Ein gutes Design treibt immer einen spitzen Keil zwischen Schlichtheit und Langeweile, auf dass das eine mit dem anderen nicht mehr zu verwechseln ist. Schnörkellose Linien zu finden, ohne eintönig zu wirken, ist die Kunst.

Alles, was Recht ist

Nie fürchtet das Recht den Gesetzesbruch in dem Maße, wie es die Verachtung seiner Selbstverständlichkeit unbedingt ahndet, die mit diesem einhergeht. Dass eine Regel verletzt wird, nimmt es lang in Kauf, wenn nicht das Regelwerk dadurch im ganzen in Frage gestellt wird. Einem Reglement, dem sich mit jedem Einzelfall gleich das Grundsatzproblem stellt, fehlt die Souveränität.

Manchmal muss man die Regel brechen, um sie zu setzen: Der performative Widerspruch, dass einer ein Plakat anklebt, um zu sagen, dass es verboten sei, Plakate anzukleben, hebt die Vorschrift nicht auf

Manchmal muss man das Verbot ignorieren, um es zu setzen: Der performative Widerspruch, dass einer ein Plakat anklebt, um zu sagen, dass es untersagt sei, Plakate anzukleben, hebt die Vorschrift nicht auf

Feste Größe

Seit Jahren schon redet der Manager von Wandel, beschwört unausgesetzt die Veränderung, fordert ungeduldig Neuregelungen, betreibt Reorganisation und Innovation, so lange inzwischen, dass sich der Eindruck festsetzt, er könnte in seiner angestrengten Dauerbewegung erstarrt sein.

Man sieht sich zweimal

Der erste Hauptsatz der ökologischen Vernunft: Nie ist entscheidend, was eine Sache wert ist, sondern immer erst, wie sie verwertbar ist.

Manches wirkt verdreht, wenn man es wiederholt: Eine Zeit, die nichts mehr vergisst, verliert trotzdem nicht das Recht, sich von Vergangenem zu befreien

Manches wirkt verdreht, wenn man es wieder aufbereitet: Stets findet sich mehr Schrott unter dem, was sich als Kunst ausgibt, als dass Kunst entsteht aus dem, was einst Schrott gewesen ist. – Wertstoffhof im Offenbacher Hafen

Der Verlust am Gewinn

Jedes Mal, wenn eine Frage beantwortet wurde, geht mit ihr auch etwas Wertvolles verloren. Stets verdeckt die Erleichterung darüber, dass ein Problem gelöst ist, jene andere Eigenschaft, die nur danach verlangt, dass man es aushält. Wo immer Bedürfnisse befriedigt sind, kehrt neben der Ruhe auch Leere ein. Der Sinn des Offenen erschöpft sich nicht darin, dass es gefüllt werden will.

Ich bin dann mal weg

Nichts verrät zuverlässiger, wie es um die Macht über das Volk bestellt ist, als die überraschende Abwesenheit seines Lenkers. Wenn dessen Absenz ihn in der Öffentlichkeit noch präsenter werden lässt, durch Gerüchte, Rätselraten oder Sorge, kann er beruhigt und bestens gelaunt zurückkehren in der Gewissheit, dass alles seine Ordnung hat. Kluge Herrscher sind wie erfahrene Liebende: Sie lassen von Zeit zu Zeit durchblicken, dass man sich auf ihre Zuneigung und Zugewandtheit nicht blind verlassen sollte.

Kreative Zerstörung, destruktive Schöpfung

Größte Hingabe bei vollkommener Gleichgültigkeit, das macht den Künstler radikal. Nicht minder als die Liebe zu dem, was er zerstört, gehört zu ihm der Hass auf das, was er schafft. Picasso notiert: „Ich verwende in meinen Bildern alle Dinge, die ich gern habe. Wie es den Dingen dabei ergeht, ist mir einerlei – sie müssen sich eben damit abfinden.“

Fastenzauber

„Eigentlich habe ich gar keinen Hunger“, flüstert sie. Das Pärchen hat sich gerade erst zu Tisch gesetzt. Der Patron des Hauses ist mit der Speisekarte gekommen und listet die Tagesempfehlungen auf: gebratenes Milchzicklein, die obligatorische Seezunge, die in keiner Restaurantküche fehlt, weil dieser Fisch seine Beliebtheit der Tatsache verdankt, dass er nicht wie Fisch schmeckt, ein schön marmoriertes Stück vom Black Angus – „schade, wenn ich es unter zweihundert Gramm abschneiden müsste“. Mit diesem Überblick und Ausblick werden die beiden für einen Moment der Entscheidung allein gelassen.
„Ich muss dir was erzählen“, sagt sie, um die Wahl hinauszuzögern. Sie kann sich Weiterlesen