Durch die Brille betrachtet

Eckermann schreibt, dass der alte Goethe kein Freund von Brillen gewesen ist. Und er berichtet es so, dass es unter den Besuchern des Dichters wohl allgemein bekannt war. Die Überempfindlichkeit gegenüber Menschen mit Sehhilfen wird in der Gesprächsnotiz aufgespreizt als breites Abneigungsspektrum: Da ist die Rede von einer unerklärlichen Verstimmung, derer Goethe nicht Herr sei, von verderbten Gedanken, dem „Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen“. Ja, auch verletzte Eitelkeit fehlt nicht: „ Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder: er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus – und das ist noch schlimmer.“ Am Ende des Gesprächs rückt der Großschriftsteller mit der Wahrheit heraus. Schlimm sei das Gesehenwerden, ohne das Sehen selber sehen zu können. Dadurch fühle man sich zum Gegenstand der Beobachtung degradiert, als wollten „gewaffnete Blicke in mein geheimstes Innere dringen“.* Das ist nicht verwerflich. Es wird allerdings zur Demütigung, wenn es umgekehrt nicht in gleicher Weise geschehen kann, weil die Augengläser spiegeln. Nicht das Sehen, aber das Einander-Sehen konstituiert das freie Subjekt.**

* Eckermann, Gespräche mit Goethe, 5. April 1930, 642.
** Sartre hat den Blick aufs Genaueste beschrieben, nicht zuletzt als „Vernichtung der Gegenständlichkeit“. – Das Sein und das Nichts, 358