Nicht zu wissen, wer man ist oder sein möchte, wohin man gehört und was man kann, diese Form der zeitweiligen Desorientierung, unter der vor allem jüngere Generationen leiden, findet Jahre später ihre Steigerung. Da weiß einer genau, wer er ist oder sein möchte, was er vermag und wohin er gehört, aber er kann dort nicht sein. Heimat ist nicht nur der Ort, den ein Mensch für sich gefunden hat, sondern die Art, wie er bei sich sein kann.
Ungefragt
Es kann äußerst nervig sein, wenn Zeitgenossen ungefragt Auskunft geben über Inneres, über das gebildete Ensemble aus Einstellungen und Erfahrungen, und sich zu einem öffentlichen Bekenntnis gedrängt sehen. Wer will schon wirklich wissen, was als Persönlichstes ausgewiesen wird und seinen Platz im Verborgenen gut gefunden hat, aus dem herauszutreten indes meist bedeutet, dass es als Befremdlichstes daherkommt. Allerdings verlangen Extremsituationen des Lebens gelegentlich doch – nicht als Frage, aber – als Anspruch, dass diese Haltungen sichtbar werden. Dann wird die Konfession schnell zum Bekennermut, der Konsequenzen provoziert, weil er sich jenseits aller gestanzten Formeln positioniert. Im Kampf wider den Antisemitismus geht es nicht nur um eine politische Stellungnahme für … aus Verantwortung vor …, sondern ums Mitgehen, Mitleiden, Mitstreiten, Mitsein.
Zeugen der Toleranz
Die größte Zumutung, die Freiheit jenen auferlegt, die von ihr Gebrauch machen, ist, sie allen anderen auch zuzugestehen. Unterhalb dieser erreicht Freiheit nicht ihr eigenes Niveau. Man nennt sie Toleranz.
Spontan ist immer gut
In Phasen der Zeitknappheit und Arbeitsüberlastung klingt der Vorschlag, sich ungeplant zu verabreden, wie die schnelle Lösung auf die peinliche Not, einen Termin zu finden für ein Treffen. In Wahrheit aber verschärft er das Problem durch den ungeregelten Aufschub: Keiner fühlt in sich das Drängen, das den spontanen Entschluss auslöst, nimmt dem anderen aber grundübel, sich seinerseits nicht gemeldet zu haben.
Zu kompliziert
Längst hat die Welt jenes Niveau an Komplexität erreicht, auf dem nicht mehr zu verhindern ist, dass einer irgendwas behauptet, ohne dass er fürchten müsste, widerlegt zu werden, weil die Antwort so kompliziert wäre, dass sie nur wenige noch verstünden. Der ungeheure Zuwachs an Wechselwirkung und Verflochtenheit gefährdet unsere Entscheidungsfähigkeit und damit freie politische Systeme, weil sie den Entschlüssen mit der Gewissheit auch die Belastbarkeit raubt. Der Aufwand, einfach mal irgendeine Behauptung in die Welt zu setzen, steht in keinem Verhältnis mehr zu der oft vergeblichen Mühe, sie wieder aus ihr zu vertreiben.
Saatgut
Man kann Hass sähen, und weiß dennoch nicht, was man ernten wird. So wie die Liebe, die weniger gesät als geschenkt wird, nicht mit ihrer Erwiderung unbedingt kalkuliert. Als ungefragte Offerte darf sie keine Erwartungen knüpfen an ihr Gegenüber. Diese Unberechenbarkeit, die Freiheit zu nennen wohl übertrieben und die Zufall zu heißen gewiss unterbestimmt wäre, ist der geheimnisvolle Ort letzter Hoffnungen in Konflikten, die zu lösen schier aussichtslos erscheint.
Kraft
Zu den Texten, die jenem Teil der Gesellschaft noch geläufig sind, der heute nicht den Vater- oder Herrentag begeht, sondern Christi Himmelfahrt feiert, zählt die Zeugenschilderung aus der Apostelgeschichte (1, 4-11), nach der die Pointe der Erzählung weniger in deren räumlichen Sprachbildern zu suchen ist, sondern in der Überbrückung einer Frist: Um das Warten auf die endgültige Erlösung sinnvoll auszuhalten, in die der Bericht einen Vorblick gibt, ist von der Geisteskraft die Rede, die vergessen lässt, dass noch nicht definitiv geschehen ist, wovon schon jetzt das Wort zuverlässig ergeht. Diese Kraft unterscheidet alle, die auf Großes harren: in Zauderer und Verzagte, Ermüdete und Gelangweilte, Prokrastinatoren und Phantasten der Utopie hier oder, so die Begeiste(r)ten dort, in Kämpfer für Wahrheit, Versöhner und Verständige, nicht zuletzt jene, die nicht nur aufklären, sondern aufrichten und Trost spenden. Solche Kraft zu haben, bedeutet, dem Warten die latente Passivität zu nehmen und es nie als zu lang zu empfinden. Sie ist mehr als Geduld, und deswegen nicht ungeduldig.
Rollentausch
Es hat dem Handeln selten geschadet, sich in jene versuchsweise hineinzuversetzen, die es betrifft. Aus der Goldenen Regel, die seit Jahrtausenden als einfaches moralisches Kriterium in vielen Formen anerkannt ist, hat der Oxforder Philosoph R. M. Hare ein Aktionsmodell abgeleitet, das auf einer schlichten Frage ruht: „Was sagst du über diesen hypothetischen Fall, in dem du in der Position des Betroffenen bist?“* So manches Wort bliebe ungesagt, das eine oder andere Vorhaben steckte fest, achtete man wechselseitig auf die Verletzbarkeit möglicher Adressaten. So sich einschränken zu lassen, verwirklichte den Gedanken des Respekts unmittelbar, der in einem umfassenden Sinn nichts anderes bedeutet, als Rücksicht zu nehmen.
* Richard Mervyn Hare, Freedom and Reason, 107
Demokratie in der Krise
Eine Demokratie ist in der Krise, wenn die Mehrheit der Bürger nicht mehr weiß, von wem sie sich regieren lassen will, weil sie von allen Kandidaten genau weiß, dass sie sich von ihnen nicht regieren lassen will.
Die Sache der Gerechtigkeit
Das ernste Bemühen, nur der Sache gerecht zu werden, könnte sehr viel beitragen, das politische Problem der Ungerechtigkeit zu bewältigen.
Aus tiefstem Herzen
Nicht wenige Entschuldigungen, die nach einem allzu dummen Fauxpas „aus tiefstem Herzen“ öffentlich abgegeben werden, lassen das Publikum allenfalls in das sehen, was es in der Tiefe des Herzens immer schon vermutete: dunkle Abgründe. Aus denen dringt, als sei es das verzerrte Echo auf eine alltagsrassistische oder sonst moralisch unkorrekte Bemerkung, die kurz zuvor für mediale Empörung gesorgt hatte, reflexartig das hohle Sorry, das sich nicht zu schade ist, die Bitte um Vergebung routiniert zu instrumentalisieren. So entleert die Sprache sich selbst von Sinn und Bedeutung, indem sie immer mehr Wortverbindungen aus dem Verkehr zieht.*
* Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 500
Die neue Heuchelei
Wer vom (von) Außen (Äußerungen) auf das Innere, die Haltung unmittelbar schließt, fördert die Heuchelei. Die Fassade als Kriterium der Korrektheit bringt Menschen hervor, denen es nur um den Anstrich des Anstands geht.
Ich habe immer schon gesagt
Regierungspolitik der Gegenwart: Angesichts zu vieler ausgelassener Gelegenheiten ersetzt die Selbstrechtfertigung das Argument.
Wertvoll
Eine der wichtigsten Leistungen des Denkens ist, nicht nur zu erkennen, dass jede Unterscheidung auch eine Wertung einschließt. Sondern vor allem, um der Beschreibbarkeit dieser Differenzen willen, dafür zu sorgen, dass über Urteile und Vorurteile und deren Folgen immer besonnen aufgeklärt wird. Nur so lässt sich frei reden und gelöst benennen, was ist, ohne dass man den Furor der Verletzten fürchten muss und die Idiosynkrasie von Ideologen Machtansprüche erhebt. Reflexion ist, was allzu voreilige Reflexe hindert, sich zu verabsolutieren.
Moralgewalt
So anders als das, was er im Dünkel der Gesinnungsüberlegenheit zu treffen beabsichtigt, ist der moralische Reflex gar nicht. Beide, die unbedachte Beleidigung wie deren prompte gesellschaftliche Ächtung, finden sich wieder unter der Rubrik: Mit dir bin ich fertig. Das ist das Problem des allzu schnellen Anstandsurteils, dass es kein Klima des Respekts, sondern eine Atmosphäre der Angst erzeugt. Man kann die Lebendigkeit des Lebens mit Worten töten, vor allem wenn sie, hier wie dort, im Gestus eines letzten daherkommen.
Nein, und nochmals Nein
Woran sonst, wenn nicht überall dort, wo ein Mensch entschieden Nein sagt, lässt sich etwas über seinen Charakter und dessen Stärke lernen. Jede Zustimmung gewinnt an Klarheit in dem Maße, wie sie sich ihrer impliziten Verweigerungen bewusst ist. Identität heißt jene Konturenschärfe eines Ich, die sich gebildet hat aus vielfältigen Erfahrungen, in denen es seine eigenen und die Grenzen der anderen nicht immer ohne Schmerz kennengelernt hat. Dass etwas nicht oder es einem nicht passt, gehört zu den unvermeidlichen Einsichten einer Freiheit, die sich erlaubt, stets mehr zu sein als das, was sie ist, um das zu sein, was sie ist.
Nur nicht an der Hand nehmen
In einer souveränen Demokratie kann politische Führung nur bedeuten, Menschen die Freiheit zu lassen, sich als Gesellschaft so aufzustellen, dass sie sich in ihr und über sie jederzeit klar orientieren können.
Was wäre, wenn
Die Sonntagsfrage, die zwar so heißt, als verkünde sie Wahrheit direkt aus dem Unterricht der religiösen Sonntagsschulen, die aber nur den politischen Wählerwillen statistisch erkundet, indem sie jetzt zur Entscheidung stellt, was viel später wirklich beschlossen wird, veranlasst Parteien und Protagonisten, verführt durch den Irrealis in der Formulierung, zu bemerkenswerter Realitätsverweigerung. „Was wäre, wenn“ das Parlament zur Neuaufstellung stünde, dieses Gedankenspiel ruft die Schönfärber desaströser Lagen auf, wie die Warner, das aktuelle, rosarote Stimmungsbild nicht schon als den Erfolg selber zu buchen. Alles könne noch anders kommen, heißt es in Übereinstimmung mit der trivialsten Einsicht in das, was Zukunft bedeutet. Wie wahr. Verdrängt wird das Maß des Korrekturpotentials, das denen bleibt, die sich als Kandidaten haben aufstellen lassen, hier als Chance aufzuholen, dort als Drohung, noch abgestraft zu werden. Das ist oft kleiner als erhofft, manchmal befürchtet. Denn anders als der Zeithorizont vieler Politiker, der, in Wahljahren sonderlich, gerade mal zu opportunistischem Handeln im Augenblick taugt, reicht der des Wählers weit über den Moment hinaus. Dass dieser auch Monate später nicht vergisst, gehört zum Unvorstellbaren vieler, die selbst dort auf Monate hinaus nicht perspektivisch denken, wo es geboten wäre. Das Nicht-Vergessen-Können ist als Figur der langen Frist die genaue Entsprechung zu einer Strategie, nur dass diese nach vorn gerichtet ist. Deren Fehlen bleibt als Leerform im Gedächtnis. Die Erinnerung ist der Schatten des Visionären. Zu hoffen, dass am Wahltag alles sich ganz anders verhalte, mag jenseits des „Wunderwerks der Banalität“ (Georg Simmel) ein unerfüllter Wunsch bleiben von Günstlingen der Gelegenheit, die ihren eigenen Mangel an Langfristigkeit verwechseln mit der Labilität des Volks.
Kapitalverbrechen
Ob es an seiner knapp gemessenen Lebenszeit lag – John Keats, der britische Poet, wurde nur fünfundzwanzig Jahre alt; er starb 1821 –, dass er ein feines Gespür besaß für vertane Tage? An seinen Bruder George und dessen Frau Georgiana schrieb er im Mai 1819. „Was für ein Unterschied zwischen behaglichem und unbehaglichem Nichtstun! Einen müßigen Tag, selbst wenn er mit unerfreulichen Gedanken ausgefüllt ist, kann man, wenn man allein ist, aushalten und sogar angenehm finden, und die Erfahrung hat uns gelehrt, daß Ortswechsel noch keine Veränderung ist. Aber nichts zu tun zu haben und umgeben sein von unangenehmen Wesenheiten, die einen grade bedrücken, daß sie einen von ungestörter Muße abhalten – jedoch nicht so, um einen zu interessieren und anzuregen, das ist eine Kapitalstrafe für ein Kapitalverbrechen. Denn ist es nicht ein Kapitalverbrechen, wenn man seine Zeit für Leute opfert, die weder Licht noch Schatten haben?“ Der Dichter erzählte im Brief von einer Einladung zum Lunch, die er besser wohl ausgeschlagen gehabt hätte. Aus manchen wohlgemeinten Begegnungen kehrt man nach Hause zurück, als habe man sich mit einer lähmenden Krankheit infiziert. Denn das Nichts dehnte sich auch auf den folgenden Tag aus: „Ich weiß nicht, was ich Montag machte – nichts – nichts – nichts – ach wäre das doch etwas Besonderes!“* Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Muße und Müßiggang, dass die Muße jederzeit beendet werden kann, wohingegen man sich vom Müßiggang und seiner Langeweile nur unter Anstrengungen zu befreien vermag.
* John Keats, Gedichte und Briefe, 337
Wettergefühl
Das Wetter – dieser April war der kälteste seit Jahrzehnten – kann sich nicht zeitgemäß erwärmen. Wie zu Beginn der Pandemie wochenlanger Sonnenschein die Menschen ins Freie lockte und über den Schock hinwegtröstete mit einem herzwärmenden Bilderbuchfrühling, so fröstelt in diesen Tagen den im Lockdown endlos verharrenden, dünnhäutigen Zeitgenossen schon beim Blick nach draußen. Mehr als ein meteorologisches Phänomen spiegelt das Wetter den Seelenzustand gelegentlich so präzise, dass die Frage nach den Grenzen hochkomplexer Wechselwirkungen aufkommt: Ist Wetterfühligkeit mehr als der Einfluss von Temperatur und Luftdruck aufs Gemüt? Zeigt das Wetter vielleicht gar selber Mitgefühl?
Wenig reflektiert, sehr reflexiv
Das Unbehagen nach einem Vortrag: zu viel von sich, für sich und zu sich gesprochen zu haben. Das ist die unangenehme Seite des Ich, dass es meint, sich auch noch auf sich beziehen zu müssen.
Von den Besten lernen
In Fragen, die das ganze Repertoire an Freiheit und Phantasie ansprechen, lernt man am besten bei denen, die meist unversehens zeigen, wie man eine Sache nicht macht. Wie anders sollte sonst das Ensemble an ungezählt vielen Möglichkeiten, ein Problem anzugehen, ungeschmälert bleiben, ohne dass nicht dennoch durch die Anschauung vergeblicher Lösungen vorgezeichnet wäre, wo die Antwort sinnvoll zu suchen sei.
Zauberkraft
Dass nicht das Wort, vielleicht aber der Mensch, der es ausspricht, über Zauberkräfte verfügt, zeigt sich in jenen seltenen Augenblicken, da es einem Dritten glückt, zwei Streithähne im Nu zu beruhigen durch nichts als die Bemerkung: „Sorge dich nicht“, die allen lautstarken Ärger entlarvt als fehlgeleitete Angst um den anderen.
Pointiert gesagt
Jede Pointe ist der gelungene Versuch, die Verzweiflung an der Komplexität der Welt für einen Augenblick vergessen zu lassen, weil die Sprache das Ärgernis der Ausdifferenzierung meisterhaft reduziert hat.