Monat: Juli 2016

Darf ich Dich siezen?

Der größte Vorteil des Sie gegenüber dem Du: Es taugt besser für die nuancierte Beleidigung.

Und nun gute Unterhaltung

Befreit vom Ballast der Böswilligkeit gilt das Paradies auch unter denen, die glauben, dass sie es verdient hätten, ehrlicherweise als langweiliger Ort. Unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, uns eine unterhaltsame Welt ohne Rivalität, Streitlust, Konfliktlinien zu denken, so sehr wir uns danach sehnen. Nicht wenige Idyllen enttäuschen tief in dem Augenblick, in dem sie aus dem Stadium des Wunschs heraustreten in die Wirklichkeit – gerade weil sie halten, was sie versprechen.

Gefühlsordnung

Neid: Pein, die mit der Bewunderung anderer einhergeht.
Missgunst: Bewunderung, die sich hinter dem Leid versteckt, das sie anderen verursacht.
Eifersucht: Verwunderung, dass ein anderer die Kraft hat, Schmerz auszulösen, ohne dass er etwas gemacht hat.

Schmalband

Internet auf dem Land? Kein Problem: Obwohl der Regen einsetzt, ist die Wäsche immer noch on line.

Andersherum wird ein Schuh draus

Aus der Reihe „Sätze, die im Spiegel besser aussehen“:

Und jedem Zauber wohnt ein Anfang inne.*

* Weder Rilke noch Rinke

Anschlag auf den Kopf

Für einen Augenblick irrt der leicht orientierungslose Zugbegleiter durch den Gang. Wo er denn hinwolle, fragt der Reisende rollenvertauscht. „Ach, ich überlege nur, von welcher Seite ich mit dem Abrüsten anfange.“ „Was ist das denn für eine martialische Tätigkeit?“ „So heißt bei der Bahn offiziell das Aufräumen der Wagen, wenn wir den Zielbahnhof erreicht haben.“ „In diesen nervösen Tagen ist eigentlich egal, welche Seite mit dem Abrüsten zuerst dran ist. Hauptsache, es beginnt irgendwo“, meint der Fahrgast. „Da gibt es schon Unterschiede“, widerspricht der Dienstmann. „Nur im Risiko“, antwortet der Mitfahrer, „aber ich muss jetzt aussteigen“. Da rafft sich der Bahnmitarbeiter zu einem letzten Wort auf, mit dem er zeigt, dass er den doppelsinnigen Dialog in wiedererlangter Klarheit zu beschließen willens ist: „Aussteigen geht nicht, wenn man die Pflicht hat abzurüsten.“

Der Mensch als Transitstation

Sie klingen nur ähnlich, zeigen aber eine eine große Differenz an: Der Satz: „Das Leben geht weiter“ ist der Inbegriff des trotzigen Trosts wider jene Untröstlichkeit, die sich Ausdruck gibt in der folgenreichen Formel: „Das Leben geht vorüber“. Beides ernstgenommen heißt: Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst hinterherläuft und darauf achten muss, dass es nachkommt.

Heldendämmerung

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, so reagiert in Brechts Drama einer der Schüler des Galilei unwirsch auf das Glockengeläut, das dessen Widerruf seiner Thesen vor der kirchlichen Autorität annonciert.* Und der Meister antwortet: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Es ist der Satz des postheroischen Zeitalters und der eines großen Missverständnisses. Nicht der Held wird verabschiedet, nur jene Figur, der es um Größeres geht als das Eigene. Denn in dem Maße, wie die narzisstische Bereitschaft wächst, „Ich!“ – vielleicht nicht zu sagen, aber – zu leben, bildet sich auch jene Form des Heldentums aus, der es weniger darum zu tun ist, die Interessen anderer stellvertretend zu übernehmen um eines höheren Werts willen, als sich selbst ins Zentrum einer Geschichte zu rücken. Und deren pathologische Verirrung der Herostrat darstellt.

* Das Leben des Galilei, 13. Aufzug

Worauf zu vertrauen lohnt

Gefahrengemeinschaften, die einer juristischen Bestimmung zufolge „ihrem Wesen nach auf gegenseitige Hilfe angelegt“* sind, entwickeln sich zu Wertegemeinschaften immer dann, wenn Menschen erkannt haben, dass sie das Vertrauen ins Leben teilen (und dieses der Sehnsucht nach dem Tod allemal vorziehen). Vielleicht braucht man nicht viel mehr an Geisteshaltung, um gesellschaftlich gut miteinander auszukommen.

* Schönke/Schröder/Stree/Bosch et al., StGB-Kommentar, § 13, Rn. 23.

Nächste Frage, bitte

Die größte Leistung des Erfolgs ist seine größte Gefährdung: dass man die Antwort kennt. Mit der Lösung verschwindet nicht nur das Problem, sondern oft auch die Lust, weiter zu fragen, sich zu öffnen, neugierig zu sein.

Höchste Disziplin

Menschen, deren Ansprüche an sich selbst niedrig sind, können nicht heucheln. Das Maß der Verstellung wächst mit der moralischen Kompetenz. Nur wer nach einem Heiligenschein strebt, tappt auch in die Falle der Scheinheiligkeit.

Wie geht es dir mit dir?

Sollten Maschinen einer späteren Zeit über die unsere schreiben: So berichteten sie von Menschen, die begeistert jene Apparate erfunden und ins Alltagsleben eingeführt haben, deren einzige Aufgabe es gewesen ist, ihre Konstrukteure abzuschaffen. In einem solchen Text würde jede Information detailgetreu wiedergegeben werden, eines aber enthielte er nicht – das Erstaunen über diesen Entwicklungsschritt. Wenn wir noch fragen, was uns im Wettbewerb mit künstlicher Intelligenz überlegen sein lässt: Es ist die Fähigkeit, zum Eigenen sinnvoll Distanz aufnehmen zu können. Wie geht es mir damit? ist eine Frage, die die Maschine nicht versteht.

Geschäftspraxis

Der öffentliche Zweifel an den eigenen Fähigkeiten behindert das Geschäft. Die heimliche Fraglichkeit des eigenen Talents befördert dessen Inhalte.

Hierarchonten

Wie oft Macht abgeleitet ist aus dem niederen Talent, andere klein zu machen, so dass sich der eigene Dünkel aus dem Vergleich speisen kann, spürt ein Beobachter, wenn plötzlich ein noch Mächtigerer ins Umfeld tritt. Dann gerät der einst sich Hochschätzende schnell ins Kleinliche, seine sonst so stolze Stimme beginnt zu vibrieren, seine Rede verhaspelt sich und verirrt sich im Detail. Unsicher mimt er den Suchenden, vermeidet Behauptungen, die er gewöhnlich im Gestus der Unantastbarkeit vorträgt, und setzt hinter jeden noch so schwachen Satz ein Fragezeichen, das um Einverständnis bettelt. – Wirklich mächtig ist, wem es gelang, sich aus der Hierarchie zu befreien, die ihn einst nach oben getragen hat.

Logik der Angst

Sicheres Kennzeichen, dass die Angst vorherrscht: Originalität wird bestraft.

Du musst dein Leben … ändern?

Die Dummheit des Handelns hat einen Namen. Sie heißt Bequemlichkeit.

Nur nicht aufgeben

Zur Rhetorik der Verhandlung gehört, am Anfang zu betonen, dass man den Erfolg einer Vermittlung von zwei höchst unterschiedlichen Positionen für unwahrscheinlich hält, und am Ende herauszustreichen, wie stark die Einigung daran hing, dass man festgehalten hat an dem, was man zuvor noch für den Grund hielt, die Sache scheitern zu lassen.

Frei sein, befreit sein

Unabhängigkeit ist jene Form der Freiheit, die sich ihrer Herkunft bewusst geblieben ist und nicht auch noch die eigene Geschichte abgestreift hat.

Der Verstand als Luftikus

Manchmal ist die Phantasie nichts anderes als ein Verstand, der aus Gewohnheit weiterdenkt, obwohl er seinen Gegenstand längst verloren hat, so wie alte Ventilatoren sich noch eine Zeitlang drehen, ungeachtet dessen, dass der Stecker längst gezogen ist. Es wird noch ein bisschen Staub aufgewirbelt, heiße Luft hinausgeblasen, aber der Sache fehlt die elementare Kraft. „Phantastisch!“ ist stets ein zweifelhaftes Lob, irgendetwas zwischen irreal, irregulär, irrelevant und irrwitzig überraschend.

Und was hat das zu bedeuten?

Deutsche Spezialität: das leicht Verständliche steht im Verdacht der Gedankenseichtheit; das allzu Unverständliche wird von der Vermutung begleitet, Tiefes zu bedeuten. 

Der heimliche Held

Der moderne Protagonist, auf seine auffällige Leistung angesprochen, zeigt sich verlegen und bescheiden. Die Mannschaft, das Umfeld, die Unterstützung durch die Fans: Es klingt wie die biographische Entschuldigung eines Angeklagten, der dem Richter weismachen will, für die Tat wenigstens nicht verantwortlich zu sein, wenn denn schon zweifelsfrei erwiesen ist, dass er sie begangen hat. Im Zeitalter absoluter Kommunikation spricht sich die Nachricht vom Helden überall herum; nur ihn selbst scheint sie nicht zu erreichen. Aber lässt sich ein Idol ohne Selbstbewusstsein denken?

 

Väter

Väter sind jene Lebensfiguren, denen das größte Konstruktionspotential anhaftet. Wo gibt es sonst die Steigerung bis hin zum Übervater? Keine Übermutter, kein Überbruder, keine Überfreundin, allenfalls noch das peinliche Über-Ich, das eher quält als begeistert. Selbst dort, wo der Vater nach langen, enttäuschenden Auseinandersetzungen bei seinen Kindern unten durchrutscht, verrät die starke negative Einstellung ihm gegenüber als Gegenbild noch das, wovon man glaubt, sich verabschieden zu müssen, und erfährt, dass man es nicht recht kann. Es ist erst der Tod des Vaters, an dem meist erschüttert wie erleichtert Sohn oder Tochter erleben, dass sie in dieses Verhältnis allzu viel hineingelegt hatten: weil seine Endlichkeit als Verrat wahrgenommen wird an der Vorstellung, dass er, der gewiss wie kein anderer Auskunft geben konnte über den eigenen Anfang, auch ein Prinzip zu sein vermöchte.

Nichts als Arbeit

Was oft übersehen wird: Nicht nur die Niederlage muss verarbeitet werden. Auch der Erfolg bedarf einer analytisch-kritischen und, nicht zuletzt, psychischen Nachbetrachtung. Was hier dazu dient, es künftig besser zu machen, sollte dort nicht anders sein. Weder das Missglücken noch der Sieg sind Errungenschaften, die auf Dauer einen Status begründen. Ein Weltmeister, der nicht Europameister wurde, wird anders wahrgenommen und anerkannt. Die Arbeit, die auf einen Fehlschlag wie einen Triumph gleichermaßen folgt, hat vor allem eine Aufgabe: beide nicht nur als das Ergebnis eines Prozesses zu begreifen, sondern als Versprechen oder Verpflichtung für Künftiges. Jeder Erfolg ist die Pleite von morgen – das ist sein Problem. Jeder Rückschlag kann einen Siegeszug auslösen – das ist seine Verheißung.

Lesetipps

Fallen des Lesens: leichter, gefälliger Stil, der die Gedankentiefe verschleiert; plakative Sätze, die dem Ernst der Sache nicht einmal angemessen wären, wenn der Autor sein Publikum unterschätzt hätte; zu viele Nebenschauplätze, die von der Hauptidee ablenken; viele kurze Kapitel, die den Ausstieg provozieren, obwohl sie zum Einstieg verführen sollen; verlegerisch erzwungene Kürzungen, die zu Sinnentstellungen führen; ein Übermaß an Anregungen, die nicht in den Text zurückfinden lassen … und dann noch ein Ärgernis des Lesens: Bücher, die gerade erschienen sind, aber bei der Lektüre den Eindruck machen, man habe alles schon einmal woanders gelesen.