Monat: Mai 2018

Konstruktiver Beitrag

In der Philosophie oder Psychologie sind Konstrukte jene Vorstellungen, die als selbstgemachte nicht den Anschein erwecken dürfen, selbst gebastelt zu sein, weil sie für wirklich gehalten werden, ohne schon Realität zu sein. Nichts ist weniger gegenständlich.
In der Architektur sind Konstrukte jene Vorgaben, die als gebaute immer die Anmutung haben müssen, tragfähig zu sein, weil sie in der Wirklichkeit bestehen können müssen, was planvoll unter realitätsnahen Bedingungen erprobt worden ist. Nicht ist gegenständlicher.

Politische Weisheiten

Selten kommt vor, dass das Wort eines Politikers es in die Sammlung jener Sprüche schafft, die vom Volk als Weisheit geadelt werden. Wahrscheinlicher ist das Umgekehrte, dass die Populisten mit Gemeinsprüchen nach Mehrheiten haschen. Was Gorbatschow zur Wendezeit den Zeitgenossen ins Gewissen schrieb, den emphatischen Satz: wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, das ist als kluge Politiker-Formel so selten wie tief eingegangen in den alltäglichen Sprachgebrauch, meist mit leicht schadenfreudigem, ja gehässigem Beiklang. Dabei ist auch das andere wahr: die Freiheit der Unpünktlichkeit, die Freude über das, was lang vergeblich ersehnt und doch noch erfüllt wurde, die Gnade der späten Geburt (das frühe Wort des geschichtsversessenen Helmut Kohl), die Entschädigung einer verpassten Gelegenheit. Wer zu spät kommt, wird vom Leben gelegentlich belohnt. Und das Gegenteilige gilt ohnehin: Wer zu früh (gar mit Ideen) kommt, wird von seinen Mit- und Nebenmenschen meist abgestraft (mit Formen der Nichtachtung über die Missachtung bis zur Ächtung).

Nulla dies sine linea

In einer Anekdote*, die Plinius der Ältere über den Maler Apelles erzählt, findet sich der Satz: Kein Tag ohne eine Linie. Daraus haben viele, vor allem die aus der Wörterzunft, das Maß ihrer Selbstdisziplin abgeleitet: im Schreibrhythmus zu bleiben, auch wenn es die Umstände kaum erlauben wollen. Der Künstler hingegen meinte das Gegenteil: die gewöhnliche Beschäftigung regelmäßig schöpferisch zu unterbrechen zugunsten jenes Strichs, der zum Tageszeugnis seiner kreativen Kraft wird. Das, was notwendig ist, wird erst gut, wenn es mehr als notwendig ist.

*Naturalis historia 35, 84

Architektenwettbewerb

Im Wettbewerb um die hässlichste Architektur verlieren die Städte haushoch. Auf dem Land finden sich allenthalben die größeren Brutalismen: die eines Betonscheunenklotzes, eines lang gestreckten grauen, funktionalen Schweinestalls oder einer Kunstoff-Fensterfront, die von weitentwickelter Unempfindsamkeit zeugen gegenüber dem Naturbild und der überkommenen Baustile. Im Bewusstsein, dass es an Platz nicht mangelt, ist die Frage, wie ein Gebäude zu errichten sei, auf ihre technischen Aspekte reduziert. Das unerkannte Baugesetz lautet: Je schöner die Natur, desto grässlicher die Architektur.

Narzisstische Herausforderungen

Die Lust an der Provokation, die viele öffentliche Debatten begleitet, entspringt kaum dem Bedürfnis, eine bislang unbeachtete Sache durch einen sprachlichen oder gestischem Kunstgriff ins grelle Licht zu rücken, als dem drängenden Wunsch, sich ins Gespräch zu bringen. Der Provokateur instrumentalisiert den Inhalt, um die eigene Person interessant zu machen.

Den Gebildeten unter den Verächtern der Zukunft

Vorzugeben, man habe kein Interesse an der Zukunft, heißt, an denen nicht interessiert zu sein, die gegenwärtig leben. Denn nichts will der Mensch mehr, als heute sich auf morgen zu freuen. Nichts fürchtet er mehr als das Morgen, wenn die Sorgen ihn heute erdrücken. Nichts reizt ihn mehr als die Neugier zu erfahren, was heute geschehen ist und morgen ganz anders wird. Nichts hofft er mehr, als sich heute so einzurichten, dass es wieder und wieder ein Morgen für ihn geben wird. Nicht der übersieht das Jetzt, der in die Ferne blickt. Sondern jener, der meint, mit der Gegenwart achtsam umzugehen, bedeute, keine Aufmerksamkeit aufbringen zu müssen für das, was kommt.

Überlebenstechnik

Das Leben unterscheidet sich vom Überleben vor allem durch den Zeithorizont, in dem es handelt. Wo hier die Orientierung vor allem über Pläne und Perspektiven gelingt, die im besten Fall zum Lebensentwurf sich verdichten, reicht dort das Maß der Überschaubarkeit nicht über das Nächstliegende hinaus. Der Überlebenskünstler denkt nur von Tag zu Tag.

Ausbruch

Formeln der Gewalt:
Ausweglosigkeit plus Verzweiflung.
Hochmut ohne Stolz.
Ehrverletzung gepaart mit Hemmungslosigkeit.
Macht, die keine Verantwortung kennt.
Hilfe, der die Diskretion fehlt.
Lust ohne Hemmung.
Gerechtigkeit jenseits von Barmherzigkeit.

Änderungsaufschneiderei

Das ganz große Unterfangen, die Welt zu verändern, ist nicht zuletzt so populär, weil niemand überprüfen kann, inwieweit das gelungen ist. Beim nicht so aufgeblähten, aber anspruchsvolleren Ansinnen, bei sich zu beginnen, zeigt sich, dass der nachhaltige Wandel alltäglicher Anstrengung bedarf. Es scheint allemal leichter zu sein, die Schöpfung zu retten, als das eigene Leben neu zu gestalten.

Es menschelt

Kollektive Singulare wie „der Mensch“ haben die Eigenschaft, wenig Eigenschaften zu haben. Sie sind Sammelbegriffe, hier: für die vielen Milliarden, die sich von dieser Bezeichnung vertreten fühlen, aber bilden sich nicht aus den unterschiedlichen Erfahrungen, Lebensformen, Talenten oder Fehlern, die das Individuum beiträgt zur genaueren Bestimmung dieser allgemeinen Formel. Was, vielleicht besser: wer (schon das ist eine vorauseilende Einschränkung auf die „Person“) der Mensch sei, lässt sich wohl kaum sagen. Und wenn, was ließe sich daraus ableiten? Faktisch haben wir es getan: in Rechtsregeln, Verhaltensnormen, Stadtplanungen, touristischen Leitbildern. Sie alle behaupten stillschweigend zu wissen, was dem Menschen not und gut täte. Wo immer von „dem Menschen“ geredet wird, ist kompetent zu sein sich jedermann sicher und hat doch nichts zu äußern als das, was alle schon kennen, oder aber von Erlebnissen zu berichten, die keinen interessieren. Allzu leicht menschelt es da in der Runde.

Einzigartig

Unter den großen Gefühlen, die sich nicht leicht beherrschen lassen, ist die Eifersucht das am sorgfältigsten versteckte. Das, aber nur das, hat sie mit dem Neid gemein, mit dem sie oft verwechselt wird. Das Eingeständnis, eifersüchtig zu sein, ist nicht selten verbunden mit Scham und der Pein, erklären zu sollen, wie abhängig man sich von einem Menschen gemacht habe. Eifersucht macht klein. Dabei ist sie das Gegenteil: der affektive Ausdruck, der die eigene Würde in den Vordergrund rückt. So erinnert sie daran, dass Wertschätzung stets bedeutet, die Einzigartigkeit einer Person zu achten.

Geistvoll, geistreich, geisthaltig

Was ist Geist?
Die Liebe in der Wahrheit, die Liebe zur Wahrheit, die Wahrheit der Liebe.
Die Kraft in der Ohnmacht, die Kraft ohne Macht, die Ohnmacht der Kraftmeierei.
Der Trost im Glauben, der Trost als Glaube, der Glaube an den Trost.
Die Klarheit in der Gemeinschaft, die Klarheit wider den Gemeinsinn, die Allgemeinheit des Klaren.

Spieltheorie

Ein Spiel, das nicht ernstgenommen wird, kann nicht gespielt werden. Das Spiel, das für Ernst genommen wird, kann nicht ernstgenommen werden. Der Ernst, der sich spielerisch gibt, gewinnt. Ein Ernst, der sich verspielt gibt, verliert sich selbst.

Elfenbeinturm

Das größte Ärgernis der Wissenschaft ist das Leben. Es glänzt durch überraschende Volten, versteckte Beweggründe, unerklärliche Auswüchse, durch Widersprüche, durch Plötzlichkeit und, sehr beliebt, durch Grundlosigkeit. Leben ist am lebendigsten, wenn es „einfach so“ gelingt.  Das macht seine unheimliche Heiterkeit aus. Im Denken kommt solche Selbstverständlichkeit nur vor, wenn es zeigen kann, dass gerade sie sich nicht von selbst versteht.

Wacher Geist

Morgens in der Stadtbahn. Die Gesichter sind gesenkt, kein Mucks ist zu hören. Alle starren stumm auf den Bildschirm ihres Smartphones. Nicht dass sie läsen, sie spielen, daddeln, tippen. Der Mitreisende fragt sich, ob er nicht Zeuge ist jenes Schreckens, den die Philosophen vielmals bedacht und zu entkräften versucht haben: dass das, was wir für unsere Welt halten, nur ein schwerer Traum sei. Sind diese fingerflinken Mitreisenden wach? Wachheit, als eine der Geistesgaben, bedeutet, zur Teilnahme fähig zu sein und damit über die Grundkraft des Lebens zu verfügen: unterscheiden zu können. Der moderne gemeine Morgenmuffel stolpert hingegen in den öffentlichen Nahverkehr, ohne aufzublicken. Ihn stört nicht, dass er sich stößt, dass er andere stört. Er schläft nicht mehr, ist aber auch nicht präsent. In seinem digitalen Zwischenreich zu Hause macht er keinen Gebrauch von der Differenz zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Seine maximale Reaktion ist das Zucken, das des Fingers und das der Achsel. Aber er löst für den Morgen, ohne eigenes Zutun, ein Rätsel. Der wache Geist, denkt der Mitfahrer, schafft nicht nur Klarheit, ist nicht nur schnell oder sieht mehr als andere, sondern er überwindet die Einsamkeit, weil er teilnehmen und teilgeben kann. Darum ist es zu tun in der Pfingstgeschichte.

Feuerstättenbeschau

Früher galten die Schornsteinfeger als Glücksbringer, ein symbolischer Wert, der sich allenfalls noch an den Festtagen gehalten hat, da man einander nur das Beste wünscht: zu Silvester gibt es den schwarzen Miniatur-Kaminkehrer in Vollmilchschokolade. Den Rauchfangfeger des einundzwanzigsten Jahrhunderts gilt es indes zu fürchten, auch wenn er sein Kehrmonopol aufgeben musste. Leiter und Stoßbesen bringt er nur noch gelegentlich mit. Sein scharfer Blick richtet sich auf die Verordnungen, die er genau kennt, die Überprüfungsregeln, das Landesbaurecht; und von dort auf den Zustand von Heizung und Kamin. „Alles in Ordnung“, sagt er. „Sie können von Glück reden.“ „Ist das die neue Form des Glücks: dass nichts zu beanstanden ist?“ fragt der Eigenheimbesitzer. „Nein. Das Glück bin ich. Ich hätte Ihnen die Anlage auch schließen können. Die Abgaswerte sind zwar innerhalb der Toleranz; aber ihre Dachstube entspricht nicht den Vorgaben, Ausstieg, Halterungen für die Leiter, die Laufroste; ich will das gar nicht alles aufzählen.“ Der Kunde widerspricht vorsichtshalber nicht. „Haben Sie schon mal einen gesehen, der sich am Dachbalken aufgehängt hat?“ setzt der schwarzgekleidete Meister das Gespräch fort. „So kommt es mir vor, wie wir mit unserem Leben umgehen. Wenn wir alle Verordnungen buchstabengetreu einhalten, die von der Politik verabschiedet werden, Immisionsschutz, Dämmwert, Rußzahl, Energiesparvorgaben, dann würden wir nicht mehr bauen und am Ende nicht mehr leben. Im Gesetzeswahn artikuliert sich die Selbstmordphantasie unserer Zeit. Beim Individuum heißt die Todesursache: Strangulierung. Bei der Gesellschaft: Regulierung. Viel Glück.“ Erleichtert verabschiedet der Hauseigner den Handwerker.

Hilfe der Hilflosen

Im Unterschied zur Hilfe hat der Trost keine Ursache, er ist die Wirkung. Sprachlich zeigt sich das in der Wendung: Er ist getröstet – was nicht voraussetzt, dass ihm geholfen wurde, geschweige denn, dass es jemanden gibt, der ihn getröstet hat. Der Trost, hilflos übersetzt als Hilfe der Hilflosen, kennt Anlässe, aber keinen Grund. Auch wenn immer wieder davon die Rede ist, dass einer den anderen tröstet, so ist der Ausdruck in Wahrheit ungenau: Man wünscht einander Trost. Die Hilfe muss gegeben werden (weshalb ihre Unterlassung in besonderen Fällen strafbar ist). Auf Hilfe hat man Anspruch, der Trost ist ein Geschenk.

Klarsicht

Ein offener Geist nimmt auf, was von außen kommt. Ein offenes Herz gibt auf, was von innen kommt.

Deutungshoheit

Die wichtigsten Figuren in der Geschichte sind nicht die Helden, sondern deren Deuter. Seher, Ratgeber, Schreiber, Zeugen, Protokollanten und Pressesprecher – sie sorgen nicht nur für die Verbreitung der Ereignisse und Einsichten. Ihnen fällt unwillkürlich die Aufgabe zu, einem Beschluss, einer Einsicht, einer Offenbarung die natürliche Schärfe zu nehmen und zu verhindern, dass sie sich verabsolutieren. Was Ananias aus Damaskus dem von einer Gottesbegegnung ergriffenen Paulus ist oder der blinde Prophet Teiresias dem verzweifelten Ödipus, fügt der Erzählung Entscheidendes hinzu. Sie übernehmen das hermeneutische Amt, die terrorabwehrende Funktion, verstehen zu geben und um Verständnis zu werben. Auslegung ist ihr geistiges Geschäft. Politisch bedeutet es, dass Toleranz möglich wird. Denn die Interpretation ist die Mutter der Geduld und der Duldsamkeit, der Mühe und des Interesses.

Waffenkunde des Worts

Aphorismus: das Wort, das trifft.
Argument: der Satz, der sticht.
Beweis: die Folgerung, die schlägt.
Kritik: der Gedanke, der erschüttert.
Idee: die Vorstellung, die sprengt.
Zweifel: die Ahnung, die spaltet.
Frage: die Einrede, die aufbricht.

Handlungstheorie

Die Parameter, nach denen unser Handeln sich sinnvoll ordnen lässt, sind wenige: gute Absicht, böser Wille, falscher Augenblick, richtiges Maß, persönliches Interesse, gesellschaftliche Wirkung. Das beste Vorhaben scheitert, wenn es im unpassenden Moment ansetzt; die schönsten Neigungen haben zuweilen hässliche Folgen; sozialverträglich zu sein kann bedeuten, dass die Individualität zur Unkenntlichkeit verformt wird. Es gibt kein Tun, das sich im Netz seiner Bewertungen nicht verfängt. Irgendetwas fehlt immer, vor irgendeinem Kriterium hat es gefehlt.

Christi Himmelfahrt

Statistisch gesehen ist der vierzigste Tag im Osterfestkreis der mit den meisten Prügeleien und der höchsten Zahl an Verkehrsunfällen, bei denen Alkohol im Spiel war. Ist es so abwegig, im nachhinein darin eine Rechtfertigung für Christi Himmelfahrt zu sehen? Angesichts von Männern, die sich ihr Hirn weggetrunken haben und mit einem Bollerwagen voll leerer Bierfässer durch die Lande taumeln, mag der Glaube an Errettung dieser „Väter“, die „ihren“ Tag feiern, dem Erlöser selbst abhanden gekommen sein, so dass er diskret die Flucht ergriff.

Geist und Leben

In dem Maße, wie das Denken sich vom Leben nicht ablenken lässt, kann das Leben das Denken lenken.

Abwahl

Diese Demokratie kennt die Bestrafung durch Abwahl nicht. Wenn ein Kandidat bisher durch politische Minderleistung aufgefallen ist, verliert er sein Amt nur, weil ein Gegner mehr Stimmen auf sich zu vereinen vermag. Der Protest wird so gezwungen, sich eine Alternative aufzubauen und das Misstrauen auszudrücken, indem er das Vertrauen einem anderen schenkt. Das System ist von Grund auf angelegt, den Stillstand für ein größeres Ärgernis zu halten als den Ärger über jahrelange Untätigkeit.