Monat: Juli 2020

Der Moment, in dem wir die Frage schätzen

Um den Wert einer Frage zu ermessen, kann es sinnvoll sein, sie nicht nur als dienstbaren Verweis auf eine Antwort aufzufassen. Sondern umgekehrt jede Antwort auch zu verstehen als jenen Akt, der eine Fülle neuer Unklarheiten aufwirft. Die Frage als Folge der Antwort zu sehen, ist mindestens so interessant, wie eine Erwiderung in ihrer konsequenten Beziehung zur Forderung zu betrachten, dass sie eine offene Situation schließt. Fragen verstören, Antworten beruhigen. Manchmal ist es anders: Antworten verengen, Fragen befreien.

Behördenreform

Vielleicht wird es zur wichtigsten Behördenreform jenseits von Stellenverlagerungen und Büroschließungen, Strukturumbauten oder Verwaltungsneuordnungen nie kommen: der nämlich, die aus einer Administration des institutionellen Misstrauens gegenüber dem Bürger ein Amt macht, an das er sich gern wendet, weil es zuverlässig keiner anderen Aufgabe nachgeht als der Dienstleistung in allen staatlich verursachten Angelegenheiten. Es ist nur eine Utopie: die Behörde prinzipiell als der Ort, an dem der Bürger entlastet wird.

Zweckfrei

Zwei Fragen, die sich gegenseitig entlasten: Der Zukunftsgerichtete will wissen, wozu eine Geschichte gut ist, und muss nicht erforschen, warum sie entstand. Der Vergangenheitsinteressierte braucht keine Rechtfertigung der Zwecke, wenn er nur die Ursache kennt.

Ein anderer sein

In nichts ist der Mensch so sehr er selbst wie in dem Wunsch, ein anderer zu ein.

Mir fehlen die Worte

Jeder Gewaltakt ist ein Gedanke, der vergeblich um seine Fassung in Worten gerungen hat. Das hat er mit der Liebesgeste gemein. Aus Mangel an Sprache entstehen die schrecklichsten und die schönsten Augenblicke der Welt. Bis das eine Wort gefunden ist, das, weil es alles sagt, sich von der Tat nicht mehr unterscheidet, und dennoch nicht unausgesprochen bleiben darf, weil nur so geschieht, was geschehen muss. Aber das lässt sich nicht mehr nur denken.

Entschuldigung

Der Narzissmus der Vergebung glaubt, ein Vergehen sei schon in Ordnung gebracht, wenn man sich entschuldigt hat. Dass mit dem beiläufigen Ausruf „Sorry!“ kein Reparaturmechanismus einsetzt, der die Sache selbstredend zurechtrückt, sondern die Bitte implizit ausgesprochen wird, es möge Verzeihung gewährt werden, missversteht jener, dem auch sonst alles „kein Problem“ ist. Und der in Wahrheit meint: dein Problem! Verstimmung und Verwunderung erntet, wer Verantwortung einfordert und eine platte Rechtfertigung erhält: „Aber ich habe mich doch entschuldigt – ? “ Als ob das Wort „Entschuldigung!“, das vorgibt, für den Fehler geradezustehen, die Haftung ersetzen könnte. In einer Welt des selbstbezogenen Umgangs bezeichnet die Entschuldigung nur den Augenblick, von dem an einer glaubt, mit den Folgen des Patzers nichts mehr zu tun zu haben. Entschuldigung, müsste man erwidern, aber so läuft die Chose nicht.

Hilfe, Verschwörung

Jede Verschwörungstheorie ist zunächst ein Hilferuf aus der Erklärungsnot.

Was willst du wirklich?

Der erfahrene Gesprächspartner entdeckt in den Worten seines Gegenübers genau jene Fragen, die nicht ausdrücklich gestellt werden, und ist klug genug, sie zu erwidern, ohne seine Rede als Antwort zu markieren. So wird das Gefälle vermieden, das jedes Ersuchen in die Nähe eines Bittakts rückt und jede Entgegnung als heimlichen Machtgestus kennzeichnet. Frei von Fragen zu sein bedeutet, an der Welt nicht teilhaben zu wollen; aber oft ist Freiheit die Folge eines fraglosen Umgangs mit ihr.

Moralapostel

Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchem Maß an Böswilligkeit für eine gute Sache gestritten wird.

Schöne Seiten

Das Gespür für Schönheit ist eines der Talente, die keine Einseitigkeit dulden. Wer seinen Geschmack gefunden und ausgebildet hat, wird ihn in der Musik, der Architektur, der Mode, der Kunst gleichermaßen, nicht zuletzt in der Natur stilsicher einsetzen. Jeder, der vom Schönen einmal sich hat ernsthaft ansprechen lassen, kann nicht ungerührt vorbeigehen, wenn er einen attraktiven Menschen sieht, lässt sich anziehen von der Anmut wohlgesetzter Worte, findet selbst in der mathematischen Formel oder einem Spielzug auf dem Fußballrasen noch die Brillanz einer einfachen Lösung. Das Schöne ist weltverbindender als das Gute oder gar Wahre.

Gastfreundschaft

Unter den verschiedenen Formen der Freundschaft, die vom Geschäftsfreund bis zum Busenfreund reicht, ist die Gastfreundschaft am klarsten geregelt. Der Gast, der in vielen Sprachen auch der Fremde heißt, soll nach alter Weise, die seit den Tagen gilt, da der schiffbrüchige Odysseus auf einer Insel beim Volk der Phäaken, der friedlichen Fährleute, gestrandet war, nicht länger bleiben als drei Tage. Die allerdings haben es in sich. Alles sei dem Besucher in dieser Zeit über die Maßen zu gewähren, auf dass es ihm nur ja an nichts fehlen möge. Und Gastgeschenke sollen ihm mitgegeben werden für seine Weiterfahrt. Reichlich. Und der guten Erinnerung wegen. Womit der Fremdling das verdient hat? Da nach seinem Namen nicht gefragt wird, könnte er dieser oder jener sein, auch ein Gott auf der Reise. Das allein reicht für Gunstgewährung. Und der Dank? Nichts als seine befristete Gegenwart – also: keiner? Doch, schon. Denn in ihr stecken die wahren Schätze jedes Besuchs: die unbekannten Welten, die mit der Präsenz des Fremdlings ins eigene Haus kommen. Bezahlt wird mit Geschichten. „Sprache ist Gastlichkeit.“*, sagt Emmanuel Levinas. Umgekehrt gilt es gleichermaßen: Gastlichkeit ist Sprache. Das ist die Aufgabe des Fremden als Antwort für die Aufnahme: Sorge zu tragen, dass der Gastgeber sich nicht langweilt und seinen Horizont erweitern kann. Die „Währung“ der Gastfreundschaft ist Kultur. Da sind drei Tage recht bemessen.

* Totalität und Unendlichkeit, 444

Schönes Wochenende

Es gibt Städte, in denen man sofort leben möchte, wenn das Wochenende regelmäßig schon am Montag beginnt.

Ruhe sanft

Man hat nicht genug gelebt, wenn man auf dem Friedhof die letzte Ruhestätte gefunden hat. Es könnte ja auch die erste sein.

Gegen die Harmonie

Widerspruchsfreiheit mag ein Ideal des folgerichtig schließenden logischen Denkens sein. Es sollte aber niemals zum Leitmotiv eines gesellschaftlichen Gesprächs werden. Im Gegenteil: Gerade die Auseinandersetzung mit fremden und befremdlichen Positionen, sofern sie bedenkenswert erscheinen, das Aushalten des Anderen – gehört nicht nur zu den ersten Tugenden eines demokratischen Diskurses, sondern – ist ein Ausweis der überaus klugen, weil bescheidenen Einsicht, dass die Erkenntnis von Wahrheit eine Angelegenheit ist, die einen Einzelnen überfordert. Jedes Denk- und Sprechverbot, auch aus Rücksicht auf Harmonie und Linientreue, Parteidisziplin oder vermeintliche Tabus, verdient schon deswegen, dumm genannt zu werden.

Meinungstief

„Das habe ich nicht so gemeint“, ist meist die Dürftigkeitsformel für den Wunsch, besser nicht gesagt zu haben, was ohne Zweifel einzugestehen wäre. Sie beruft sich auf die Bedeutungsvielfalt und nutzt den Spielraum der Interpretation, ohne ihn zu schließen. Im Unbestimmten lässt sie, was ein Gesprochenes heißen soll, um mit Entschiedenheit zu behaupten, wie es nie auszulegen sei. Indem sie das Deutungsmonopol für sich beansprucht, von ihm aber keinen Gebrauch macht, schafft sie die größtmögliche Versicherung.

Auf einem Auge blind

Mehr zu sehen als andere, bedeutet zunächst, dass man weniger sieht als andere. Es ist die Kunst, eine Sache fest in den Blick zu nehmen, ohne zu vernachlässigen, was sich sonst noch zeigt. Umgekehrt gilt aber auch: Wer einmal etwas annähernd durchdrungen hat, wird mit der Zeit immer öfter entdecken, dass er nicht nur dieses eine verstanden hat, sondern mit ihm vieles. Die Dimensionen der Einsicht erstrecken sich in die Tiefe wie in die Weite.

Legitimationszwang

Nicht selten bleibt mit dem Zuwachs an Machtfülle kaum Platz für den Charakter, ihren Verführungen zu widerstehen. Man merkt es daran, dass Menschen sich nur noch erklären, weil sie meinen, sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen.

Die Erfahrung der Freiheit

Als gewisses Indiz, wirklich frei zu sein, mag jener Moment gelten, in dem es leichter fällt, Geld abzulehnen, als Geld anzunehmen.

Gerade noch geschafft

In einer Demokratie ist der allzu knappe Sieg nicht selten die größere Niederlage als die Abwahl.

Die Welt ist gegen uns

Das läuft wie am Schnürchen, lautet die Formel, wenn sich ein, nicht nur geschäftliches Vorhaben allzu leicht realisieren lässt, da es geordnet und in festgenähter Reihenfolge sich darstellt. In ihr schwingt ein ungläubiges Staunen mit, das mit Gegenkräften und Brüchen gerechnet hat und feststellen muss, sich getäuscht zu haben. Zur Erwartung einer Begegnung mit Welt gehört, dass sie Widerstand bietet bis hin zur Unterstellung, sie habe sich böswillig gegen die eigenen Vorstellungen gerichtet. Wirklich ist, was sich nicht fügt. „Realität ist das, was einem von seinen Wünschen beherrschten und daher ständig zu Illusionen bereiten Wesen seiner Natur nach so zuwider ist, daß es nur unter Zwang nachgibt“, sagt Hans Blumenberg, der morgen hundert Jahre alt geworden wäre.*

* Hans Blumenberg, Realität und Realismus, 214 

Mehr Glück als Verstand

Das Einzige, was sich lernen lässt, wenn man mehr Glück gehabt hat als Verstand, ist, dass das Glück nicht zu verstehen ist. Aber man mit den Grenzen des Verstands umso mehr zu rechnen hat. So lässt sich vermeiden, dass aus einer Dummheit, die man begangen hat, jene Dummheit wird, die bestraft gehört.

Stilempfinden

Nie ist die Berechtigung größer als in Stilfragen, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Schlechtes Benehmen mag aus einer Situation akuter Überforderung erwachsen; der Mangel an Charakter aber lässt die Lücke, durch die ein Fehlverhalten unmittelbar verweist auf schlichte niedere Beweggründe. Was wir Persönlichkeit nennen und sich als Respekt in den sozialverträglichen Eigenarten des Handelns niederschlägt, ist vor allem ein Schutz vor den menschlichen Untiefen.

Kirchgang

Es muss ein besonderes Talent hinter der verblüffenden Fähigkeit der Kirchen stecken, Einladungen oft so auszusprechen, dass selbst die Wohlmeinenden abgeschreckt werden.

Zurechtgerückt

Man unterschätze den Trost nicht, den das Recht gewährt. Angesichts von Willkür und Absurdität, Unbotmäßigkeit und Ignoranz im menschlichen Miteinander steht das Recht als letzte, stabile Instanz für eine Vernunft, die sich durch Folgerichtigkeit, Stimmigkeit, gleiche Geltung und Klarheit im Urteil auszeichnet. Und die den Glauben aufrecht erhält an das, was Menschen sinnvoll erschien, als sie sich fragten, was im Verhältnis zu anderen Achtung verdient. Jedes neue Gesetz und jeder Richterspruch sollte darauf implizit eine Antwort darstellen.