Monat: September 2021

Sprechfähigkeit

Eine politische Partei, der die Sprechfähigkeit mit Fug abgesprochen werden kann, hat sich selbst verloren. Nichts als die Kraft des Worts steht dem zur Verfügung, der sein Handlungsmandat erhalten hat, weil er andere überzeugte. Verstummen ist in der Politik, die durch Öffentlichkeit legitimiert ist, keine Option. Gerade dann, wenn es mehr zu erklären gibt als den eigenen Erfolg. Niederlagen sind immer vielstimmig; der Sieg – das ist das Kennzeichen seiner heimlichen Langeweile – muss nicht gedeutet werden.

Ideen messen

Jede Idee hat eine eigene Größe. Sie lässt sich berechnen über das Maß der Entschlossenheit, das aufgebracht werden muss, um sie zu realisieren.

Rücktritt

Eine alte Weisheit aus den Zeiten, da Männer noch Kopfbedeckungen trugen:
Man kann seinen Hut auch nehmen, ohne ihn gleich in den Ring werfen zu müssen.

Nimm‘s persönlich

Sieg und Niederlage sind die beiden sensiblen Momente im Leben, in denen Menschen spüren, wie fragil die Trennung zwischen Person und Sache ist. Doch auch da gilt: Ich kann nur persönlich nehmen, was nicht von vornherein bloß persönlich ist.

Die Selbstverständlichkeiten der Demokratie …

… die sich nicht von selbst verstehen:
1. Wählen ist abwählen – auch wenn am Ende die neue Regierung nicht wie ausgewechselt arbeitet.
2. Man muss sich entscheiden zwischen Freiheit und Gleichheit. Beides impliziert Ungerechtigkeiten.
3. Repräsentation bedeutet nicht Delegation. Der Souverän ist das Volk, nicht „die da oben“. Und nicht nur am Wahltag.
4. Bürgerliche Mitte heißt nicht: durchschnittlich. Politisch links steht jeder, der etwas sinnvoll bewegen will. In der politisch rechten Ecke bewegen sich jene, die stehengeblieben sind.
5. Wer nicht wählen kann, weil er sich nicht vertreten fühlt, sollte sich beim nächsten Mal selbst zur Wahl stellen.
6. Die Stimme abzugeben, meint nicht, sie zu verlieren.
7. Die Demokratie lebt von der Anerkennung von Regeln, die zu akzeptieren sie nicht erzwingen kann. Man nennt das Kultur, politische Kultur. Wenn es ihr um etwas immer gehen sollte, dann diese im Letzten nicht zu beschädigen.

Das kleinere Übel

Jede Wahl lehrt den Abschied von Idealen. Weil nicht zur Entscheidung steht, was man für die beste Alternative hält, wird zum Kriterium der Stimmabgabe das kleinere Übel. So verdichtet die Demokratie den Zwang zu handeln im Verzicht auf das Maximum dessen, was in der Vorstellung erreicht werden könnte. Schon die attische Staatsform, nach den Reformen des Kleisthenes im fünften Jahrhundert vor Christus, reduzierte den Bürgerwillen auf die Negation der Verbannung: Auf den Tonscherben stand der Name dessen, der die Polis für zehn Jahre zu verlassen hatte. Im Scherbengericht bewilligte sich die frühe Volkssouveränität einen Augenblick der politischen Paradoxie; aus Furcht vor der Tyrannei wurde der Erwählte ausgeschlossen, das beste Talent vertrieben, ohne allerdings so garantieren zu können, dass die zweitbeste Lösung die bessere ist. Nie geht es in der Demokratie um Alles oder Nichts, auch wenn Wahlkämpfer das uns weismachen wollen, sondern immer nur um Mehr oder Weniger. Das Absolute ist kein Gegenstand der Politik, weder in der Form des Moralischen, des Apokalyptischen und Historischen, noch in der des Religiösen oder Ideologischen. Im Grunde stellt sich die ideale Partei dar wie eine Plattform, auf der sich unterschiedliche Positionen streitbar präsentieren können, weil es einen belastbaren Rahmen gibt, in dem dieser Konflikt um Lösungen ringt. So gesehen wäre eine Partei die pragmatische Gestalt der Vernunft.

Große Ansprüche

Nicht selten belohnt das Leben den, der ihm mit hohen Ansprüchen begegnet. Das steigert nicht nur die Unzufriedenheit mit dem üblich Gebotenen und verlängert eine Suche manchmal ungebührlich; die Beglückung, gefunden zu haben, ist indes auch größer und wird angereichert mit der Erfahrung, wo künftig besser gar nicht erst geforscht werden muss, weil es nicht lohnt. Besonders in der Auswahl der Menschen, die zum eigenen Umkreis zählen, kann man nicht genau genug aufs Niveau achten. Ja, es gibt ein gewisses Gespür, dass längeres Warten seine Mühe wert war: das Gefühl, den anderen schon gekannt zu haben, bevor man ihm begegnet ist.

Bildung heute

Bildung heute: streiten lernen. Je besser wir das verstehen, desto größer ist die Chance, Differenzen nicht mit körperlicher Gewalt auszutragen. Wer die Regeln der Argumentation kennt und die Kunst des intelligenten Widerspruchs beherrscht, muss den Konflikt nicht fürchten. Redeverbote und Sprachrestriktionen entsprechen derselben Angst wie der Versuch, andere niederzuschreien, zu erniedrigen, lächerlich zu machen, moralisch zu bevormunden, im schlimmsten Fall: ihre Würde und Unversehrtheit zu beschädigen. Es ist das Unbehagen vor dem, was sich nicht durchschauen lässt.

Wo bleibt die Freiheit?

Willkür ist nicht der Spitzname von Freiheit. Aber Freiheit ist der Kosename von Verantwortung. Den Unterschied zu verstehen mag helfen, das allenthalben wachsende Misstrauen in Freiheit zu verringern, das sich beruft auf die ungezählten Fälle, in denen deren faktischer Missbrauch schlicht als das Risiko erklärt wird, das mit dem, gelegentlich unsinnigen Gebrauch von Entscheidungsgewalt einhergeht. In der Tat, auf Freiheit zu setzen bedeutet, Ungewissheit in Kauf zu nehmen, aber nicht, weil sie rechtfertigungsunbedürftig sei, sondern weil sie als Ermöglichungsgrund mit der Zukunft operiert.

Die Retter der Welt

In der Spätphase der Globalisierung (ist sie schon angebrochen?) ist der Gedanke einer einigen, eng vernetzten, freien und nicht zuletzt friedlichen Welt, die allen allüberall Zugang gewährt, verkümmert, nein: gewuchert, zumindest: verdichtet zur Aufgabe, sie zu retten. Auch wenn das in Wahrheit eine Reduktion darstellt. Doch wovor und für wen, durch wen und wie? Die Erwiderung lässt die Ungeheuerlichkeit aufblitzen, die in dem Ansinnen sich verbirgt. Immer geht es um uns: vor dem Menschen und seiner Gewalttätigkeit, für den Menschen und seine Zukunft, durch den Menschen und seine Intelligenz, mit dem Menschen, trotz allem. In der Hypertrophie der anstehenden Arbeit zeigt sich vor allem die Widersprüchlichkeit seines Wesens, mit der er sein Unwesen treibt.

Wahlalter, Alterswähler

Nur eine flüchtige Idee: Es würden weniger verlogene politische Versprechungen gegeben, wenn es neben dem Wahlalter, das hierzulande mit achtzehn Jahren erreicht und den Eintritt in das demokratische Grundrecht der Volkssouveränität bedeutet, auch ein Austrittsalter gäbe – spiegelbildlich zur 18 vielleicht mit einundachtzig Jahren. Mit einem Schlag fielen falsche Rücksichten auf Besitzstände weg zugunsten eines offeneren Blicks auf das, was künftig nötig ist. Auch unter den Betagten leben etliche Egobratzen, denen die Perspektiven auf eine Zeit herzlich egal sind, die nicht mehr die ihre ist.

Das Paradox der Liebe

Die zwei Seiten der Liebe: harter Realismus, ungehemmte Weltlosigkeit. Nichts hat die Kraft, andere Wirklichkeiten so in den Hintergrund zu drängen wie diese Form der Leidenschaft, die Geist und Seele, Körper und Sinne ganz und gar okkupiert, als sei sie die einzige Wahrheit. Und nichts versteht es so geschickt, die Grundformen jeder Realität, Raum und Zeit, listig zu überwinden, indem sie ein festes Band knüpft über weite Entfernungen und einschneidende Veränderungen hinweg.

Kandidatenkarawane

Täglich zieht die Karawane der Kanzlerkandidaten von einem Sendeplatz zum nächsten und zeigt dem Zuschauer vor allem das unterschiedlich stark ausgeprägte Talent, dasselbe noch einmal so zu sagen, dass es ganz anders klingt. Im Grunde demonstrieren sie den Willen, sich von nichts überraschen zu lassen, nicht einmal von der Zukunft. Was aber, wenn das jähe Erstaunen, zu dem die Fähigkeit gehört, aus der plötzlichen Sprachlosigkeit intelligent herauszufinden, jene Haupteigenschaft ausmachte, die allererst das Vertrauen in einen Politiker rechtfertigt, der davon spricht, dass er den Wandel gesellschaftsverträglich gestalten kann? Sich überraschen lassen zu können, ist die beste Voraussetzung, Veränderungspflichten angemessen zu entsprechen.

Die Menschen da draußen

Jede Wahl ist der Versuch, die Entfremdung zu versöhnen, die zwischen Entscheidungsträgern und denen aufgebrochen ist, welche die Folgen der Entscheidungen zu ertragen haben.

Lügen wie gedruckt

Niemand ist so glaubwürdig wie der, dem die Lüge ins Gesicht geschrieben steht.

Wir Bestimmer

In jeder Rede, in jeder Gegenrede, in jedem Dialog sind wir stillschweigend und unablässig dabei zu definieren. Was heißt das, worin unterscheidet sich jenes, welche Bedeutung trifft zu? Der Verstand setzt voraus, dass es ein solches unausgesetztes Vorverständnis gibt, um klar zu denken und deutlich zu verstehen. Was passierte, wenn wir all die unausgesprochenen Bestimmungen einforderten? Wir stolperten von einer Verlegenheit in die nächste – und schwiegen zuletzt. Nur unter der Fiktion der Exaktheit in der Sache gerät das nicht in Gefahr, was einen Großteil unserer Lebendigkeit ausmacht: das freie Gespräch. Man sollte diese Vorstellung nicht allzu oft in Zweifel ziehen.

Schicksalswahl

Es gehört zum Schicksal, dass wir bei ihm keine Wahl haben.

Apokalyptisches Potential

In einer Welt, deren apokalyptisches Potenzial gerade wiederentdeckt wird, gerät die gute Laune unversehens in die Nähe des Unernstes. Menschen, deren Heiterkeit sich nicht so leicht erschüttern lässt, setzen sich dem Verdacht aus, Unseriöses zu bezwecken, sobald sie mit Mut und Entschlossenheit angehen gegen die Tendenz, die Zukunft nicht nur schwarzzusehen, weil man ohnehin keinen Einblick in sie nehmen kann. Warum nur kann der Pessimist meist eine größere Realitätsnähe für sich beanspruchen; warum muss Zuversicht sich stärker rechtfertigen? Die Welt wird erfahren als das, was schiefgehen kann.

Entscheidungshilfe

Viel wäre gewonnen, wenn vor der Wahl die Kandidaten nicht unentwegt erklärten, warum sie hier dagegen und dort dafür seien. Und weshalb der politische Gegner bei seinen Vorschlägen irre. Sondern wenn sie sich genötigt sähen, nur zu antworten auf die Frage, wozu gut ist und taugt, was sie propagieren. Der Zweck heiligt zwar nicht immer die Mittel, aber er offenbart den Sinn einer Position. Über das Warum gibt es stets Streit, der letztlich beim Persönlichen endet. Das Wozu zwingt zu nüchterner Sachlichkeit.

Neusprech

Spätestens seit George Orwells „Neusprech“, jener politisch geregelten und gestalteten Redeform, die mit eingeschränkter Grammatik das Denken begrenzen und das Bewusstsein verengen sollte, wissen wir, dass ein Sprachwandel die Weltsicht verändert. Das Umgekehrte gilt aber auch: Umbrüche verlangen nach Beschreibungen, die sich mit dem überkommenen Wortschatz nicht genau genug leisten lassen. Welche Sprache braucht die Welt, deren Formen sich fundamental unterscheiden werden von dem, was Gewohntes und Vertrautes übermitteln? Zumindest eine, die ihr schöpferisches Potenzial nicht leugnet, nicht hindert, die experimentiert, ohne zu dogmatisieren, die Komplexität nicht der Klarheit opfert und Deutlichkeit einfordert, wo die Varianten ungezählt sind. Wer gendert, ist weder wahnsinnig, noch löst er das Problem. Aber er zeigt eine Aufgabe an, die sich allenthalben aus der Abgegriffenheit der Begriffe ergibt: Mit dem Wort muss der Gedanke wieder scharf gestellt werden, auf dass er präzise zu sehen gibt, was sich neu einstellt.

Empfindsam in der Sache, unempfindlich im Persönlichen

Ein objektives Urteil setzt widersprüchliche Talente voraus: ein dickes Fell, wenn es persönlich wird, und Dünnhäutigkeit als Feinsinn für die Sache, um die es geht.

Solidarität

Gewöhnlich bilden sich Gemeinschaften über das Gelingen, wenn etwas geglückt ist oder damit es besser funktioniert, wohingegen Niederlagen und Erfolglosigkeit einsam machen. Der Grundgedanke der Solidarität erschließt sich aus dem Gegenteil. Jene Gemeinschaft, die stärkt und trägt, erwächst aus der Annahme von Menschen, denen etwas missraten ist. Ihr wesentliches Ansinnen zeigt sich im Mitgehen, Mitdulden, Mitleiden. Erst der Fehlschlag offenbart, worauf zu verlassen lohnt.

Was über den Menschen zu sagen ist

Lehrstück des Lebens über den Hauptsatz der Anthropologie: Nur das, was menschlich ist, kann unmenschlich werden. Dazwischen ist der Ort der Freiheit.

Wissen wollen

Freude, die durchtränkt ist von Theorie, heißt Neugier.