Monat: Oktober 2021

Unbewusst leben

„Entspann dich“, sagt er.
„Hättest du mich nicht aufgefordert, wäre es mir möglich gewesen“, entgegnet sie.
„Aber wenn ich dazu schweige, machst du ja nichts“, rechtfertigt er seinen Appell.
„Das ist die Kunst, so stillzuhalten, dass es wie ein Anstoß wirkt. Und so nichts zu tun, dass es geschieht. Jede Entspannung ist ein Weglassen. Aber das scheinst du ja nicht kapieren zu wollen“, erläutert sie.
„Ich will dir nur helfen“, erwidert er, „aber ich kann es auch lassen.“
Sie nimmt ihn in den Arm: „Komm, sei nicht gleich beleidigt.“ Und denkt: Genau das ist mein Problem, dass es am Ende immer um ihn geht. Aber sagt lächelnd: „Entspann dich.“

Der digitale Defekt

Was in der digitalen Welt nicht vorkommt: das Zögern. Sie ist im Gegenteil die technische Entsprechung zur absoluten Ungeduld des Menschen. Wenn nun aber Kultur und Wissen, Haltung oder Charakter, Form wie Format entstehen, weil wir nicht immer gleich alles auf einmal und sofort erreichen, wenn also die angestrengte Überwindung eine notwendige Voraussetzung darstellt für Bildung und gelegentliche Unberechenbarkeit deren Wert erprobt, dann ist der Preis für den Gewinn von schnellem und unbeschränktem Zugang in dessen Zeitalter* der Verlust, man muss es so streng konstatieren, wesentlicher Eigenschaften von Menschlichkeit.

* Jeremy Rifkin, The Age of Access. The New Culture of Hypercapitalism

Aus Mangel an Geschichten

In der evidenzbasierten Medizin haben Krankheiten zwar eine Historie, aber keine Geschichte. Sie markiert Werte, misst Differenzen in den Daten, hält sich an Fakten und kennt deren Veränderung, aber sie versteht nicht, in eine Erzählung zu fügen, was sich als Leid und Schmerz anfühlt und die Aufgabe formuliert, ein Verhältnis zu entwickeln zur eigenen Malaise. „Weil das Wesen der Krankheit ein biographisches ist, darum kann auch die Erkenntnis der Krankheit immer nur eine biographische sein“, schreibt Viktor von Weizsäcker in seiner „Pathosophie“.*

* Gesammelte Schriften 10, 289

Aha

Jedes Denken setzt mit genau zwei Reaktionen ein: Es beginnt mit „Aha!“ und endet mit „Ach so“. Das philosophische setzt dazwischen noch ein „Echt jetzt?“

Lesefrüchtchen

Nichts leichter, als einen Schreibkünstler in Verlegenheit zu bringen durch die Bitte, er möge doch einmal seine Worte öffentlich erläutern. Sobald er ihr nachkommt, ist er blamiert. Gelingt die Interpretation, muss das wohlgesinnte Publikum denken: Warum nicht gleich so (klar, elegant, leichtfüßig, voller Witz, als hätte er sich den Text sparen können)? Scheitert er daran, wird es ihm diskret danken mit dem Hinweis, dass der geborene Autor kein geborener Redner sein müsse. Entzieht er sich dem Ansinnen, heißt es gleich: Diese Arroganz habe man ihm nicht zugetraut.

Toleranz, eine Paradoxie?

Von Karl Popper, der die Bedingungen einer offenen Gesellschaft untersuchte, ist der Satz überliefert: „Alle Theorien der Souveränität sind paradox.“* Man muss ihnen Bedingungen zuschreiben, die undemokratisch, interolant oder nicht souverän zu sein scheinen, um jene Freiheit zu bewahren, die mit der Verabsolutierung von Freiheit auf dem Spiel steht, die, das wusste schon die Antike, sich ja auch so frei zu sein dünken könnte zu entscheiden, dass sie sich selbst aufgibt. Ist das schon eine Paradoxie, also ein Selbstwiderspruch im strengen Sinn?

Auf dieses Paradox berufen sich jetzt viele, die ein Gespräch verweigern, der vernunftgeleiteten Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, weil sie von vornherein annehmen, dass der Gegner unduldsam ist im strengen Sinn, verbohrt, gewaltbereit, Gesinnungstäter. Mit dem anderen könne man nicht reden, heißt es, es lohne die Mühe nicht, er sei nicht aufgeschlossen für rationale Argumente. Da höre die Offenheit eben auf. Ungeachtet der Frage, ob es logisch exakt sich wirklich um ein Paradox handelt, wenn die Bestimmtheit einer Vorstellung davon abhängt, dass man sie nicht ins Grenzenlose zu dehnen versucht, treffen sich in der Gesprächsverweigerung Andersdenkenden gegenüber vor allem zwei Unversöhntheiten in der Position, die jeweils das markieren, was Popper für den Schaden schlechthin hielt in der Rationalität: deren Hang zur Verabsolutierung. Hier wie dort regiert die Intoleranz; da ist keiner strukturell in der moralisch oder politisch besseren Lage.

Die prinzipielle Schwäche einer offenen Gesellschaft, auf Bedingungen zu fußen, die der Offenheit Grenzen setzen, fordert den Willen heraus, diese Grenzen auszuhandeln, um sie in ihrer Stärke zu identifizieren. Intolerant verdient nicht jener genannt zu werden, dem man sie aufgrund von im Zweifel berechtigten Interessen schlicht unterstellt; sie ist ein Frustrationsmerkmal, ein Resultat – nicht unendlicher, aber – geduldiger Streitversuche. In Freiheitsräumen gilt, dass man schon genau sagen können muss, warum einer als Feind der Freiheit ausgemacht wird, was voraussetzt, dass man ihm die Freiheit lässt, sich zu artikulieren. Da herrscht nur die Überzeugung, dass Argumentation der beste Ort ist, an dem gewaltfrei gehandelt werden kann. Nur wer sich der Kraft guter Gründe im Letzten verweigert, hat sich aus dem Spiel genommen und sich selbst in den Verdacht gestellt zu betreiben, was Freiheit als Vermeidungsform des Lebens unbedingt ausschließen muss: dass sie bedroht wird von jenen, die sie für sich unbedingt reklamieren.

*  Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, 174; s.a. 358ff. – Dort beschreibt Popper genauer die Grenzen der Toleranz: „Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Womit soll der Anfang gemacht werden?

Es ist einer der dümmsten Ratschläge, gern jenen gegeben, die Schwierigkeiten haben mit dem Beginn schöpferischer Arbeit: Fang einfach mit dem Anfang an. Nicht nur, weil mit der Verweigerung der Hilfe, die sich als Hilfe verkleidet, niemandem geholfen ist. Sondern vor allem, weil Anfänge immer irgendwoher rühren und irgendwohin zielen. Die Vorstellung vom absoluten Anfang ist so abstrakt, dass sie den ersten Zeitmoment jenseits der Zeit verortet. Keinem Anfang wohnt der Zauber inne, frei zu sein von dem, was er unwillkürlich kritisiert, wenn er sich, indem er gesetzt wird, gegen das richtet, was zuvor war, und unbeeinflusst zu sein von dem, was er erst initiieren will, aber schon imaginiert. Was als Inbegriff von Gegenwart gedacht wird, ist in Wahrheit mannigfach korrumpiert von Vergangenheit und Zukunft.

Lebenstraum

Es gibt Lebensträume, deren beste Eigenschaft ist, Lebensrealitäten kühn zu verändern. Wer sich von ihnen lenken lässt, flieht nicht vor der Wirklichkeit. Im Gegenteil, er sieht in ihr, was andere wache Geister noch nicht erkennen können. Seine Gewissheit zieht er nicht aus den Fakten, sondern aus der Kraft, die ihn jetzt schon erfüllt, um das gestalten zu können, was sich noch erfüllen soll. Unter allen Qualitäten des Unternehmers ist diese Kraft die stärkste.

Konfliktstoff

Das Problem der Menschen, kurz gefasst. Ohne Ausnahme wollen sie alle das Gleiche: nämlich nicht das Gleiche zu wollen, so dass jeder etwas Besonderes sein kann. Das Einzigartige ist das Allgemeinste.

Und das, was sich nicht messen lässt?

Als im Jahr 1795 die französische Nationalversammlung beschloss, „die Maßeinheiten nicht mehr am Menschen, sondern an Naturphänomenen“* auszurichten, übernahm sie politisch, was sich im Denken längst als Ideal seit Descartes ausgebildet hatte: den Zwang zu Eindeutigkeit, Klarheit und Genauigkeit. Und sie öffnete den Weg, auf dem heute alles, was Digitalisierung heißt, was Quote (und nicht mehr Qualität) bedeutet, was die Rolle der Statistik, die Einflusssphäre von Umfragen, Prognosemodellen oder Multiple Choice-Verfahren angeht, sich gesellschaftlich so durchsetzen konnte, dass über dem Gewinn an Exaktheit eines verkümmert: die Fähigkeit zu sprechen über das, was sich der Welt der Zahlen nicht erschließt. Über das also, was ehedem die großen Fragen genannt zu werden verdiente, die nach Sinn, Schönheit und Lebensglück, und was sich heute in der so populären wie belächelten Suche nach dem Ganzen artikuliert.

* Zitiert bei Ralf Konersmann, Welt ohne Maß, 205

Wie ein aufgeschlagenes Buch

Lesen ist die Antwort auf ein fiktionales Gesprächsangebot mit einer biographischen Geste, die nicht nur Zeit gewährt, sondern Gedanken, Gefühle, ja nicht zuletzt Lebensentscheidungen enthält.

Für wen schreibst du?

Kein gedachter Leser, kein imaginiertes Publikum vermag jene förderliche Strenge zu repräsentieren, die ein Gedanke braucht, um aus ihm die schönsten und angemessensten Sätze herauszuarbeiten. Für wen schreibt ein Autor? Vielleicht zeichnet ihn aus im Unterschied zu Journalisten, Redakteuren, Gelegenheitsromanciers oder Werbetextern, dass er sich keinerlei Vorstellungen macht vom Adressaten seiner Arbeit. Der Autor hat keine Kunden oder Schüler, er befriedigt keine fremden Bedürfnisse. Sein Gegenüber ist das Wort, dem er folgt, weil es ihn zwingt; und das er setzt, um es zur Stellungnahme zu nötigen, so dass ein Gespräch entsteht über das einzig wesentliche Kriterium: Passt, wie ich es sage, zu dem, was ich sagen will, weil gesagt werden muss, wovon ohne mein Zutun nicht die Rede wäre?

Grenzgänge

Die Durchlässigkeit von Grenzen, die den Austausch von Gütern, Interessen oder Erlebnissen, kurz: die Kommunikation ermöglicht, verleitet nach dem Grad der Öffnung gelegentlich zur Annahme, nichts sei mehr zu beachten, weil verschwunden ist, was ehedem Widerstand bot. Mit dem Verlust des Grenzrespekts verliert aber auch ein Gut seinen Charakter, versiegen Interessen, verkümmern Erlebnisse. Grenzen sind „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau), die durch die Regelung des Zugangs den Transaktionen Bestimmtheit verleihen. Was durch darf, wird wertvoll, weil anderem der Übertritt versagt ist. Eine Grenze gewährt Halt in dem Maße, wie sie Halt gebietet. Das gilt für Territorialgrenzen und die Grenzen des Anstands, für soziale Grenzen und die Grenzen des Wissens gleichermaßen: dass der Schmerz der Fremdheit die Bedingung darstellt für den Reichtum der Vielheit, die Demütigung durch Unzugänglichkeit eine Voraussetzung ist für das Glück der Unterscheidung.

Sprechen und Denken

Man muss Einfälle niederschreiben oder aussprechen, um festzustellen, ob sie auch gedacht werden können. Nur das verdient, Gedanke genannt zu werden, das prinzipiell vor einer vorgestellten Öffentlichkeit Bestand hat.

Herbst des Pessimisten

Der Pessimist sagt: Die Tage sind schon wieder deutlich kürzer.
Der Optimist freut sich, weil die Nächte wieder länger werden.

Liebeslust

Nur wenn beide einander nicht bloß begehren, sondern begehren, begehrt zu werden, hält sich die Lust in der Liebe. Ich will dich, aber ich will dich so, dass du mich willst – das ist die Bestimmung des Orts, den das Ich in einem Wir hat, in dem sich nach einem Du sehnt, was sonst nicht Ich zu sein sich wünscht. Der versteckte Egoismus der Liebe und ihr heimlicher Hochmut meinen, es genüge, stark zu begehren, um den Anderen spüren zu lassen, wie viel schöner es ist zu begehren, dass man begehrt wird.

Gebrochenes Versprechen

Jede Psychotherapie lebt von einem nie geäußerten Versprechen des Lebensglücks, das auch noch gebrochen wird.

Zeitgewinn

Wahrscheinlich wie in keiner anderen Phase der Geschichte offenbart unsere Gegenwart das perfide Geheimnis der Zeit: Der Preis für jeden Zeitgewinn ist Weltverlust. Nie zuvor mussten Menschen sich so angestrengt abwenden von allen denkbaren Ablenkungen – den medialen wie den touristischen, von kulinarischen, von Eventofferten und nicht zuletzt von all den überflüssigen Weisen der Selbstbeschäftigung, Selbstpflege, Selbstoptimierung –, um sich konzentrieren zu können, wofür sie Zeit zu haben beschlossen hatten. Wo die Angebotsfülle nur das Maß der Anstrengung widerspiegelt, Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen, fehlen auch die Voraussetzungen für Gelassenheit, ja Muße. Es gilt das Paradox: ohne Welt keine Zeit. Aber für sie nie genug.

Der Tanz auf dem Börsenparkett

Dass die Börse in die Aktienkurse und den Stand der Indizes schon die Zukunft eingepreist habe, wie von Händlern und Vermögensverwaltern stets erklärt, ist nur die seriöse Umschreibung eines Realitätsverlusts, der die Marktpreise bestimmt. Gehandelt werden Erwartungen und Erwartungserwartungen, nicht die Ergebnisse eines Geschäftsquartals. Nur diese verdoppelte Wirklichkeitsentkopplung lässt den Optimismus überschießen in Euphorie und düstere Prognosen in Depression münden. Nicht ohne Grund heißt die Veräußerung der Wertpapiere im Jargon: realisieren. Es ist der Moment der Wahrheit, an dem der Anleger sich, nicht selten schmerzhaft, löst von seiner Zuversicht, auch in Phasen stark steigender Kurse. Zu verkaufen bedeutet hier, die Hoffnung aufzugeben.

Hohes Gericht

Man muss schriftliche Verträge, verklausulierte Gesetzestexte oder deren Parteigänger, die Winkeladvokaten, nicht mögen. Man muss die Art des Friedensschlusses, den zwei allbekannte Streithähne durch Richterspruch verordnet bekommen haben, nicht gleich verklären als Stiftung eines harmonischen Freundschaftsbundes. Man kann die Beachtung von Vorschriften lästig finden, die Unausweichlichkeit von formalia als überaus engstirnig abtun und jedem juristischen Akt ein prinzipielles Misstrauen unterstellen gegenüber der besseren Absicht. Und doch wird man der Verrechtlichung der Welt, die Paul Valéry ehedem als „Theologie der Niedrigkeit“* abschätzig bezeichnet hat, eines zugestehen müssen: dass sie die Folge des wohl realistischsten Blicks auf den Menschen ist. Das Recht vergiftet nicht die Welt, sondern sorgt dafür, dass die Welt umgekehrt ein Ort ist, an dem Menschen nicht notwendig in vergifteter Atmosphäre miteinander umgehen. Verträge sorgen nicht für Frieden, aber sie sorgen dafür, dass der Wille zum Frieden ernstgenommen wird.

* Cahiers 5, 485

Nach dem Zynismus

Nichts hindert den Aufbruch in eine neue Zeit so sehr wie ein über Jahre gepflegter, distinktiver Zynismus.

Gelöst

Die Faszination, die in jeder Problemlösung steckt, ist, dass am Ende die Welt ein Stück ordentlicher, ja sinnvoller erscheint als zuvor. Lösungen, das sollte man nicht vergessen, sind Machtgesten, weil Erfolg zu haben sich in ihnen zu der Vorstellung verdichtet, eine Sache nun fest im Griff zu halten. Dem Menschen mit routinierter Problemlösungskompetenz erscheint die Welt als das, was nicht mehr ausweichen kann.

Was ist die Welt?

Versuch einer Definition des Undefinierbaren:
Die Welt ist alles, was zu verstehen gibt, ohne selber verstanden zu werden.
(Dieser Satz macht sich gesteigert indes auch gut als Beschreibung eines Konfliktfalls im Zwischenmenschlichen: Einer erlebt sich als der, der dauernd zu verstehen gibt und um Verständnis wirbt, ohne je selber verstanden worden zu sein.)

Habachtstellung

Moralische Korrektheit: der Militarismus von Kriegsdienstverweigerern.