Monat: Oktober 2021

Die Ampel steht auf …

Grün: Wirtschaft ist der Spielraum, den die Natur ihr lässt.
Rot: Politik ist der Versuch, die Gesellschaft jene Probleme nicht spüren zu lassen, die sie ohne Politik nicht gehabt hätte.
Gelb: Irgendwie lässt sich das regeln, wenn man nur keine Regeln erlässt.

Was kommt?

Nur in einer Revolution bricht die Zukunft auf einmal über uns herein; üblicherweise kommt sie wohldosiert in kleinen Portionen und gut verträglich. Man muss nicht gleich die Welt retten wollen, um jenen Gutes zu tun, die man in ihr erhalten will. Was den Menschen stets in Verlegenheit mit sich und seiner Umgebung gebracht hat, ist sein Hang, sich selbst zu überfordern durch den Zwang, mehr sein zu müssen als das, was er ist, um das zu sein, was er ist.

Unpassend, unangepasst, unpässlich

Das Werk des Handwerkers: das eine passt perfekt ins andere.
Die Wirkung des Architekten: alles passt so zusammen, dass es im Ganzen unangepasst erscheint.
Die Wirklichkeit des Künstlers: gelegentlich unpässlich, oft unpassend, immer unangepasst. So passt es.

Vertrauensvoll

Was das Vertrauen nicht verträgt: dass an es Appelle gerichtet werden, Prüfungen, ob Verabredungen wirklich belastbar sind, Beschwörungen und Einschwörungen, Belehrungen, woran man es angeblich erkennt, allzu hohe Erwartungen an seine Stabilität. All die guten Eigenschaften, die das Vertrauen zweifelsohne besitzt und mit denen es Beziehungen unermesslich zu bereichern vermag, entfaltet es nur, wenn es nicht zum Gegenstand von Erörterungen gemacht wird. Das gewisse Kennzeichen des Vertrauens ist, dass nicht über es geredet werden muss.

Auf wessen Kosten geht das, bitte?

„Machen Sie bitte keine Witze auf anderer Leute Kosten.“
„Ich kenne keine anderen. Selbst die unfreiwillige Komik lebt davon, dass anderen Missgeschicke passieren, über die wir lachen. Die Freude am Scherz ist immer auch Schadenfreude.“
„Man könnte ja vielleicht ausnahmsweise mal über sich selber lachen, statt das Unglück Fremder lustig zu finden. Finden Sie nicht?“
„Aber wenn ich mich über mich selbst amüsiere, bin ich mir auch fremd. Oder glauben Sie wirklich, dass ich das an mir lustig finde, worüber ich mich lustig mache. Das gilt überall: Der Spaß beginnt doch ernsthaft erst da, wo der Spaß eigentlich aufhört.“
„Echt jetzt?“
„Der Preis, den der Scherzbold zahlt, ist hoch. Er wird fast nur noch für voll genommen, wenn er so redet, dass anderen das Lachen im Hals stecken bleibt.“
„Das klingt jetzt aber ganz schön frustriert.“
„Oder es ist der Anlass für den nächsten Kalauer. Das ist doch die Pointe: Der Lieblingsort des Witzes ist die Schwelle, wo nicht mehr so genau zwischen Seriösem und joke, Eigenem und Fremdem, dem Geplanten und dem Überraschenden, Schmerz und Lust unterschieden werden kann. Das überfordert uns. Und damit spielt der Scherz. Also keine Regeln, bitte. Der Rest ist eine Frage des Geschmacks.“
„Das ist mir jetzt zu komisch.“

 

Söldner des Windigen

Antwort an das Beschwerdemanagement, das Beratungsteam und Servicecenter

Sehr geehrter Herr,
vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir in – nicht immer schönen  („vollumfänglich“), aber sehr – vielen Worten zu erklären, dass Sie sich für den Konstruktionsfehler, den Ihr Unternehmen zu verantworten hat, nicht zuständig fühlen, schon gar nicht vollumfänglich. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich habe es nicht anders erwartet, auch wenn ich vor Ihrem Schreiben noch einen Funken Hoffnung hatte, dass Sie einen Funken Anstand besäßen, für das eigene Versagen einzustehen.
Keiner, mit dem ich bisher aus Ihrem Haus gesprochen habe, war willens, mir schriftlich zu bestätigen, was er mir gesprächsweise, fast flüsternd, am Telefon einräumte: dass meine nach langem musikbeschwingtem Verharren in der digitalen Warteschleife, begleitet von einer mit schnarrender Automatenstimme wiederholt vorgetragenen Bitte um Geduld, geduldig vorgetragene Beschwerde durchaus ihre Berechtigung habe … Puh, jetzt ist der Satz fast so lang geraten wie Ihre Warteschleife. Was, wie durch Sie noch einmal ausführlich belehrt, natürlich nicht bedeutet, dass ich Recht habe. Im Gegenteil muss ich jetzt annehmen, dass sich nach bewährter Manier zum Schaden nun auch der Sport gesellt, von dem sonst immer jovial die Rede ist, wenn es heißt: Nehmen Sie’s sportlich.
Darf ich fragen, wie viele Mitarbeiter, die nichts anderes leisten, als den Schaden von Ihrem Unternehmen fernzuhalten, sich Ihr, mal leicht unsportlich, aber mit herzhafter Ehrlichkeit ausgedrückt, Laden leistet? Es scheint, dass Ihre Abteilung deutlich größer ist als die, in der die Produkte hergestellt werden. Wäre es andersherum, hätten wir wohl nicht miteinander zu tun bekommen, weil alles in schönster Qualität gefertigt nur so vor sich selbstbewusst hinstrahlte wie das vielbemühte Honigkuchenpferd. Was aber auch irgendwie wieder schade gewesen wäre. Denn hätte ich sonst lauter vollendet nette Marketingschreiben bekommen (wenigstens ein kleines Honigkuchenpferd hätten Sie allerdings mitschicken können als Zeichen der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Ihrem Haus und mir als Kunden)?
Ich verstehe ja, dass Sie gelernt haben, Briefe solle man beginnen mit Formeln wie „Ich verstehe ja …“ Und dass Sie ebenfalls geschult sind darin, Briefe zu beenden mit Sätzen wie: „Wir hoffen, Ihnen mit dieser Information geholfen zu haben“. Und wenn ich jetzt antworte: Nein – dann hoffe ich, Ihnen mit dieser Information geholfen zu haben.
Mit Grüßen, deren Freundlichkeit mir nicht in die Schreibfinger will

Eine neue Zeit

„Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es hätten sich schlechterdings keine Einzelheiten nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Zugeständnisse Beifall, der schon gebildete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute gemengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben ausreichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zusatz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmal waren alle bevorzugten und wichtigen Stellungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen.“*

* Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften Bd. 1, 57f.