Tag: 1. Oktober 2021

Eine neue Zeit

„Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es hätten sich schlechterdings keine Einzelheiten nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Zugeständnisse Beifall, der schon gebildete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute gemengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben ausreichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zusatz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmal waren alle bevorzugten und wichtigen Stellungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen.“*

* Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften Bd. 1, 57f.