Monat: November 2021

Aufgelöst

Das Ideal der Bildgebung, mit hochauflösenden Verfahren eine Überfülle an Details darzustellen, zeigt den Konflikt zwischen Tiefe und Totalität. Je genauer eine Sache zu sehen ist, desto mehr Verschwimmen die Vorstellungen von ihrer Ganzheit, bis sich in der höchsten Auflösung des Sichtbaren das aufgelöst hat, was zu sehen war. Ist es mit Problemen ähnlich: man muss sie nur bis in die letzten Feinheiten durchdenken, um sie zum Verschwinden zu bringen?

Solange geredet wird …

Die wichtigste Aufgabe in der Erziehung ist, Menschen in ihrer Sprachfähigkeit zu entwickeln. Weit mehr, als gleich eine Fremdsprache zu lehren, bedeutet das, jenes Ausdruckstalent zu fördern, das noch in schwierigsten Situationen nicht verstummen muss. Solange geredet werden kann, lassen sich Gewaltspiralen vermeiden. Der Unterschied zwischen Wut und Zorn zeigt sich vor allem darin, dass dieser sich in Worten artikulieren kann, wohingegen jener sich aufs Schreien reduziert.

Entgegenkommen

Zum Beginn des Advents: 
Das Wort „Entgegenkommen“ hat in seiner abgeschwächten Fassung die Bedeutung, eine hartnäckig vorgetragene Forderung, einen Daueranspruch wenigstens so weit anzuerkennen, dass man ihn nicht ins Leere laufen lässt. Na ja, meint es dann, man will nicht so sein und erfüllt einen kleinen Teil der nervigen Erwartungen. Entgegenkommen im starken Sinn ist indes jene antizipierende Geste, die dem Gegenüber alles erleichtert und einen Gast und Kollegen, ein Kind oder einen Bittsteller gar nicht erst in peinliche Nöte bringt. Wenn nun im Advent von der Ankunft des Weltenerlösers die Rede ist, dann in dieser vollen Version: Gottes Kommen ist dem Menschen stets ein Entgegenkommen, das jedem Zweifel über Angemessenheit zuvorkommt, weil es ihn nichts als willkommen heißt. Aus dem „Na, ja“ wird ein uneingeschränktes „Ja“.

Die Vernunft der Unvernunft

Nur wer vernünftig ist, kann unvernünftig sein. Das ist kein Widerspruch. Wenn einer Blödsinn redet oder abwegig handelt, hören wir ja nicht auf, seiner Einsichtsfähigkeit die Kraft zuzutrauen, den Irrtum zu korrigieren. Was aber, wenn Sturheit, Verstocktheit, Dickköpfigkeit oder Dumpfbackigkeit dieses Talent zur Umkehr verschütten? Dann kann, in relevanten Angelegenheiten, der Zwang nicht mehr zwanglos sein, wie Habermas das kommunikative Handeln beschreibt*, das sich in einer Theorie der Demokratie aufgehoben weiß. Nicht logische Regeln oder erhabene Inhalte zeichnen die Vernunft aus, sondern die Offenheit, sich von Ihresgleichen infizieren zu lassen.

* „Argumente sind Gründe, die einen mit konstativen oder regulativen Sprechakten erho­benen Geltungsanspruch unter Diskursbedingungen einlösen und damit Argumentations­teilnehmer rational dazu bewegen, entsprechende deskriptive oder normative Aussagen als gültig zu akzeptieren.“ – Faktizität und Geltung, 276

Wellenschlag

So unterschiedlich Natur und Kultur sein mögen, im Wettstreit miteinander kämpfen sie ums Überleben und mit den Mitteln der Anpassung. Was die Mutation hier, ist die Innovation dort. Sie gleichen sich im Verschwenderischen; Fehlformen, die sich nicht durchsetzen auf beiden Seiten. Der Mensch hat einen Vorteil: Er weiß, was Zukunft bedeutet, und kann mit ihr operieren. Den anwachsenden Wellenschlag, immer neue gefährlichere Varianten eines Angriffs auf seine körperliche Integrität kann er antizipieren. Und verliert auf Dauer nur, wenn er ohne Not aufgibt, im Vorsprung zu sein. Vielleicht ist es dieses Phänomen, für das man einmal wegen schlechter Erfahrung mit sich selbst das Wort „Dummheit“ reserviert hatte.

Sachzwang

Allzu oft ist das, was als Sachzwang oder diplomatische Rücksichtnahme verlegen tituliert wird, nichts als das kühle Kalkül sehr persönlicher Korruptheit.

Wahrgesagt, schöngeredet, gutgemeint

Zwischen Wahrhalten und Haltung, zwischen Schönfinden und Fund ist die Differenz nicht sonderlich groß. Aber zwischen gutgläubig und Glauben klafft ein Unterschied im Ganzen.

Vorfreude und Freude

Nicht selten erleben wir die Vorfreude als das stärkere Gefühl. Die gespannte Erwartung wird enttäuscht, sobald eintritt, was man sich in der Vorstellung aufs Schönste ausgemalt hat. Gegen die Phantasie kann die Freude kaum mithalten. Was hier sich steigert, wirkt dort schnell degressiv. Kurz aufgeflammt, nimmt sie mit jedem Tag ab, nachdem erreicht ist, was erhofft wurde. Es sei denn – und das mag das eigentliche Ziel der Freude andeuten –, dass man sie teilt.

Lichter Raum

Was ein Raum ist, wird er erst durch das Licht, das in ihn eindringt. Derselbe hohle Kubus, nach Maßen identisch, mutet innen grundverschieden an, je nach Art des Einlasses, über den Helligkeit, die von außen kommt, sich verteilt. Ein schmaler Spalt kann genügen. Das ist die Aufgabe auch jeder Leuchte, nicht nur künstlich für Sichtbarkeit zu sorgen, sondern vor allem abzuschatten, um dem Raum ein Gefühl beizugeben, eine Stimmung, die ihn erst zu etwas Auffälligem und Erinnerungswertem macht. L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière. Baukunst sei das wissende, genaue und großartige Spiel der Baukörper unter dem Licht, so schreibt Le Corbusier.* Jenseits des Korrekten ist es vor allem Lebensklugheit, das Gespür für Atmosphären, die Erfahrung mit Licht und Schatten, die vor allem ein Zusammenspiel ermöglichen zwischen Gebäude und Mensch, und nicht nur der gestalteten Formen untereinander, wie es dem Denker der klaren Linien vorschwebte. Das gebrochene Licht lässt Räume menschlich erscheinen.

* Œuvre complète, Volume 1,33

Was nicht käuflich ist

Das größte Missverständnis des Kapitalismus ist, dass man denkt, alles sei käuflich, nur weil es nichts gibt, das man nicht auch für Geld erwerben könne.

Simulation des Lebens

Erst die Annahme, dass jedem Äußeren ein Inneres entspricht, ein Motiv, eine Neigung, ein Talent, das nach Darstellung strebt, macht den Unterschied zwischen Original und Simulation scharf. Zu jeder Handlung eine Haltung, zu jeder Lebensform ein Erleben, zu jeder Sprechblase eine Intention, zu jeder Reaktion wenigstens eine heimliche Antwort – das überforderte wohl unser „Hinzudenken“. Und dennoch ist es wichtig, jene zweite Ebene des Personalen einzuzeichnen, die davor schützt, nicht alles als Output eines Systems begreifen zu müssen.

Der elegante Panzer

Man unterschätze nicht das Bedürfnis, sich unangreifbar zu machen durchs Reden. Die Sprachbrillanz, mit der eine verfahrene Situation plötzlich beherrschbar wird, ist zugleich ein Maß der Verletzlichkeit.

Oft gesagt

Die erste rhetorische Entdeckung: Einer hört nicht zu. Die zweite rhetorische Erfahrung: Einer hört nicht zu, obwohl die Sache oft wiederholt wurde. Aus beiden ergibt sich das, was bei Aristoteles als Maßstab gelungener Rede gilt: das Angemessene. Und die Folgerung, dass einer auch dann nicht zuhört, wenn Wahrheit zu oft gesagt wird.

Die Steigerung von „dumm“

„Dumm“ gesteigert, bedeutet: leugnen. Was hier die Unfähigkeit ist, Wirklichkeit wahrzunehmen, ist dort der Unwille, eine Wahrnehmung als wirklich anzunehmen.

Wund geschlagen

Das Denken, das sich dem Wundern verdankt, wird verwundet, wenn es auf ein Wunder stößt.

Betriebsblindheit

Manchmal ist das Maß der Schärfe und Genauigkeit, mit der man eine schwierige Lage durch Gesellschaftsanalysen und Marktbewertungen in den Blick nimmt, um die dringlichen Fragen zu bewältigen, nur ein beredtes Indiz für eine willkommene Ablenkung von eigener Unzulänglichkeit in der Sache. Wenn Probleme tiefer liegen, findet man deren Lösung nicht, ohne sie zuvor in den eigenen Untiefen aufgesucht zu haben.

Der Mensch im Tier

Aus einer Haus-, Garten- und Wildtierkunde:
Unter allen Einteilungen, die den Tieren einen Rang und eigenen Namen in dem weitverzweigten Verwandtenverbund der Natur zuweisen, ist deren Gliederung nach Graden der Zähmbarkeit sicher die menschlichste. Und vielleicht auch die tierigste. Keiner käme auf den Gedanken, einen Hund als seinen besten Kameraden zu wählen, und das nicht nur mangels Alternative, wenn das Vieh sich am Veloursofa zu schaffen machte, wie es seine wilden Artgenossen zu tun pflegen, die das freie Unternehmertum als blutigen Wettbewerb um die besten Futterplätze dem sicheren Angestelltendasein im soliden Beamtenhaushalt vorgezogen haben. Und dennoch reichte das nicht für die tiefsten Empfindungen, die der Mensch seinem bellenden Wahl- und Mitbewohner entgegen- … ja, was: bringt? Nein, er bringt sie ihm nicht, er krault und zwickt, liebkost, kämmt und reibt all seine überaus zugeneigten Gefühle ins struppige Fell hinein, als seien sie eine wohlriechende Seelentinktur. Was aber wären all diese Gesten der maßlosen Freundlichkeit, würden sie nicht erwidert durch den freundschaftlichen Blick des Vierbeiners. In den Augen des Tiers erkennt der Mensch fast sich selbst: zu so viel Trauer und Treue, Verständnis und Verschmitztheit ist kein anderes Wesen fähig, denkt er. Und sieht in ihm die Vollendung solcher Tugend.
Was dem Haushund die Augen, sind beim Fisch, um über die Vielzahl der Gattungen hinweg gleich ins kalte Wasser zu springen, Maul und Schädel als Merkmale seiner dunklen Menschlichkeit, die in den allergruseligsten Formen Anlass zu grüblerischer Nachdenklichkeit geben. Der Vielstirnfisch, ein grimmig gestimmter Tiefseegleiter, verzieht sein Gesicht zur grundhässlichen Fratze, als sei ihm gerade die Galle geplatzt, auf deren Unversehrtheit jeder geübte Angler zu achten gelernt hat, wenn er seinen Fang ausnimmt …

Ewige Liebe

Das größte Talent der Liebe ist, dass sie sich nicht vorstellen kann, einmal zu enden. Die größte Schwäche des Liebenden ist, dass er oft nicht merkt, wenn er nicht mehr geliebt wird. Sein größter Betrug ist, nicht wahrhaben zu wollen, dass die Liebe aufgehört hat, so lang er in sich noch Gefühle verspürt.

Ändern anders

Wer andere durch sein Denken verwandelt, verdient, ein Rhetor genannt zu werden. Wer sich durch sein Denken ändert, heißt ein Philosoph.

Zur Ästhetik einer Organisation

Jene Bereiche, die auf dem Vertrauen der Mitarbeiter untereinander fußen, sind meist schöner eingerichtet, als die Abteilungen, in denen deren Kontrolle vorherrscht. Man kann es auch verallgemeinern, dann wird diese Beobachtung fast religiös: Der Glauben macht die Welt heiter, das Wissen lässt sie düster erscheinen.

Hunger nach mehr

Jede Unzufriedenheit spiegelt nur eine ungestillte Sehnsucht wider, die sich verkörpert hat im Unwillen, sich mit einer Situation zu arrangieren, die dem Eigenen nicht angemessen zu sein scheint. Dieses Verlangen ist das Einfallstor wie jene Ernüchterung das Indiz für Einflussnahmen aller Art. Wer Manipulation vermeiden möchte, sollte mindestens eine präzise Vorstellung besitzen von dem, was ihm fehlt, auch wenn er diese Lücke nicht gleich zu füllen vermag.

Hochrisikoberuf

Autor zu sein bedeutet, riskieren zu wollen, auch für den eigenen Blödsinn haftbar gemacht zu werden.

Warum wir veröffentlichen

Man sollte sich lösen von der romantischen Vorstellung, dass sich in der Veröffentlichung von Ideen der drängende Wunsch verbirgt, sie wertzuschätzen durch deren Mitteilung. Was spräche dagegen, in der Publikation die Verlegenheit zu lösen, das Eigentumsrecht für eine Idee zu beanspruchen?! Oft ist es dem Autor gleichgültig, was andere wahrnehmen, wenn sie von seiner Sache lesen oder hören, solange sie nur erkennen, wer sie vertritt.

Ich nur

Das Gegenteil von Freiheit ist Selbstbezogenheit.