Unter den vielen Kräften, die der Liebe zugeeignet sind, gehört jene der Unmittelbarkeit und unbedingten Gegenwart zu den faszinierendsten. Wie ein Sog im Fluss, der alles verschlingt, lässt sie Gedanken an die Zukunft in ihren schönsten Augenblicken vollständig verschwinden: Keine Sorgen, keine Ängste, keine Beklemmungen kommen hoch, nicht einmal die Hoffnungen, die sich mit ihr dauerhaft verbunden haben, beflügeln Phantasien. Sie könnten ja Zweifel wecken. Wer liebt, ist ganz bei sich, weil er ganz bei einem anderen ist, so dass er ganz präsent ist. Der jüngst gestorbene Philosoph Dieter Henrich hat einen kleinen Band geschrieben über ein neutestamentliches Wort*, das diese Erfahrung der Liebe verdichtet: „Die Liebe, die eine Zugehörigkeit auch jenseits der Abhängigkeit in gegenseitiger Attraktion gründet, hat die singuläre Eigenschaft, dass die Sorgen des Alltags und vor der Zukunft ihre bedrängende Realität verlieren. Sie können sich vor der Gegenwart liebender Gemeinschaft zu Schemen aus einer anderen Zeit und Abhängigkeit abschwächen und in unbestimmte Ferne rücken.“**
* 1. Joh. 4,18
** Dieter Henrich, Furcht ist nicht in der Liebe, 41