Dass Leben lernen bedeutet, sich verabschieden zu können, ist eine alte Weisheit, die Sigmund Freud als Grundmotiv seiner Psychoanalyse verwendet hat. Wer nicht fähig ist, zugunsten des Realitätsprinzips Vorstellungen von sich selbst zu begraben, wird vielleicht nicht von seinen Träumen, aber von seinen Träumereien auf gelegentlich sozialunverträgliche Irrwege geführt. Die Kunst ist immer, im Guten auseinanderzugehen, und damit zurechtzukommen, dass sich nicht selten erst zeigt, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat. Zum wahren Wert gehört nicht unwesentlich das Vermisstwerden. Wir verabschieden ein Jahr. Aber stimmt das? Es sind Menschen, die in ihm gegangen sind, Beziehungen, die zerbrochen, Erwartungen, die gestorben, Hoffnungen, die begraben sind. Und mit ihnen keimen frische Wünsche auf, schlägt Zuversicht einen Bogen ins Weite, geben neue Verhältnisse Anlass zu vertrauen. Beides nehmen wir mit ins Morgen, vielleicht in anderer Weise, als Erinnerung oder als Plan. Die Zäsur eines Jahreswechsels lenkt die Aufmerksamkeit darauf: dass bei allem, was wir (bei-)behalten, sich zwingend die Formen ändern. Und mit diesem Übergang die Aufgabe gegeben ist, sie zu gestalten.