Vor bald fünfzig Jahren, am 20. Mai 1975, schrieb der Publizist Joachim Fest in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“:
„Es hat den Anschein, als fühle sich fast jedermann in diesem Lande, vom Gesetzgeber bis zur Kindergärtnerin, einem hektischen Reformdruck ausgesetzt. Im steten Bedürfnis, den eigenen Neuerungswillen zu beweisen, werden unzureichend durchdachte Programme verabschiedet, die entweder finanziell nicht gedeckt sind und folglich wieder rückgängig gemacht werden müssen … oder aber von nahezu sämtlichen beteiligten Gruppen abgelehnt werden … Der Vorzug ist kaum greifbar. Es soll nur alles anders werden.
Was sich da als Reformwille ausgibt, ist vielfach lediglich Unrast, die als Ressentiment gegen das Bestehende in Erscheinung tritt. In Umkehrung der berühmten Hegelschen These gilt das Wirkliche heute als unvernünftig, und das aus keinem anderen Grund, als weil es wirklich ist: modische Wegwerf-Mentalität, bezogen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Zahlreichen Reformideologen geht es denn auch weniger um die Verwirklichung des vernünftigen Neuen als vielmehr um den Bruch mit dem Überkommenen.
Angesichts der beispiellosen und pessimistischen Dynamik, die der zivilisatorische Prozeß entwickelt hat, liegt jedoch die Funktion des aufgeklärten Reformwillens eher darin zu bremsen, als fortzubewegen … Denn nicht das Bestehende muß verändert werden, sondern das Verkehrte. Das ist nur ein Gemeinplatz; aber gleichwohl kompliziert zu denken für alle.“*
* Wieder abgedruckt in: Joachim Fest, Nach dem Scheitern der Utopien. Gesammelte Essays zu Politik und Geschichte, 15f.