In einer Unternehmenskultur, in der Angst vor Fehlern das alltägliche Arbeitsverhalten bestimmt, meidet jeder Entscheidungen. Stattdessen regieren die Sachzwänge, denen man abgetreten hat, was entschlossenes Handeln genannt zu werden verdiente, und hinter die zu verstecken folgenlos gelingt, sollte einmal etwas schiefgegangen sein. Nichts ist so armselig wie ein Mitarbeiter, der über die hausinternen Richtlinien belehrt, statt die Verantwortung für eine eigenständige Aktion zu übernehmen.
Monat: April 2025
Hundert Tage Eitelkeit
Die Mächtigen dieser Welt unterscheiden sich in jene, die dem Volk dienen, und jene anderen, die sich das Volk dienstbar machen.
Gestaltungsfrage
Unternehmerische Verantwortung zu übernehmen bedeutet, die Zumutungen an die eigenen Mitarbeiter zu knüpfen an deren Ermutigung.
Provisorisch leben
Auch das ist eine Lebenserkenntnis: Nicht selten hält sich, was in der Absicht begonnen wurde, nur vorübergehend und vorläufig zu sein, am längsten. Der Mensch neigt dazu, sich im Provisorischen endgültig einzurichten. Vielleicht ist das die treffendste anthropologische Bestimmung: das Tier, das probeweise lebt.
Der korrekte Mensch
Das ist das Missverständnis des korrekten Menschen, dass er meint, im Recht zu sein, nur weil er alles richtig gemacht hat. – Der korrekte Mensch heißt so, nicht weil er korrekt ist, sondern weil er andere korrigiert. – Recht haben und: im Recht sein, das sind, auch wenn sie Ähnlichkeit vorgaukeln, zwei konträre Lebenseinstellungen. Die eine stellt sich über das, was rechtens ist, indem sie es misst an dem, was richtig ist. Die andere fügt sich ein ins Rechte, ungeachtet dessen, ob sie alles richtig macht.
Was halten Sie davon?
Ein Philosoph wurde einmal gefragt, ob er, der Experte in dieser Sache, denke, dass das Denken nützlich sei. Für einen Augenblick zögerte er und antwortete dann: Ja, er habe davon auch gehört.
Das boshafte Gesicht der Freundlichkeit
Es gibt eine Freundlichkeit, die nichts anderes will, als das Gegenüber zu demütigen. Sie erscheint in der Variante einer Machtdemonstration, die den anderen ins Unrecht setzt, wenn er, aus nachvollziehbaren Gründen erregt, seinem Unmut zwar höflich, aber scharf Luft verschafft. Als ob es zum guten Ton gehören müsste, den sanften Ton immer anklingen zu lassen. Vornehm sollte man bleiben, ohne zuvorkommend sein zu müssen; verbindlich, ja, aber nicht vertraut.
Fremder Freund
Das Anerkennungsbedürfnis mancher Menschen ist so groß, dass sie noch im Fremdesten einen potentiellen Freund sehen und so manchen Passanten peinlich überraschen mit dem Satz „Wir kennen uns doch“.
Das Verschwinden der Frage
Immer häufiger wird die einst vorsichtig gestellte, gleichwohl erwartungsfrohe Frage, ob einer teilnehmen möchte an einer Sache, ersetzt durch die schlichte Erwartung, dass er es doch müsste, wo die Sache, allerdings erst einmal nur aus der Sicht dessen, der sie vertritt, so faszinierend, so wichtig, so begeisternd auch für den sein müsste …, – der dankend ablehnt und den Wunsch schon allein enttäuscht, weil er nie die ehrliche Gelegenheit angeboten bekam zu entscheiden.
Der kleine Betrug des Aphorismus
Aphorismen wollen zu denken geben. Und wählen dabei eine Form, die den Anschein erweckt, als sei ihr Autor schon mit dem Denken fertig. Punkt und Pointe, Knappheit und Einzigartigkeit ergeben eine kleine, vollendete sprachliche Preziose, die aufregen und anregen soll. Nur dass sie, so formuliert, ins Gespräch nicht einladen. Wer dem Aphorismus etwas anfügt, hat ihn nicht verstanden.
Das leere Grab
Zu Ostern
Die Ostergeschichten des Testaments sind zunächst Erzählungen, nicht von der Nähe, sondern vom Verschwinden Gottes. Das Grab sei leer gewesen, so der bestürzte Bericht der Frauen, die dem toten Jesus eine letzte Ehre erweisen wollten durch Salbung und ihn nicht fanden an der Stelle, an der er hätte liegen sollen. Glaube beginnt immer dort, wo wir Gott vermissen, wie die beiden, die den Lebendigen, so die evangelistische Korrektur, fälschlicherweise bei den Toten gesucht hatten.
Hohes und Niedriges
An einem Karsamstag schrieb Kafka nieder, was zur Selbsterkenntnis wesentlich gehört: das Beste des Eigenen einzuschätzen und dessen Schwäche nicht nur benennen, sondern sich von ihr distanzieren zu können. Es ist dieselbe Bewegung, die der kirchlichen Lesart nach der Gekreuzigte vollzog: vor dem Aufstieg hinabzusteigen in die Tiefste aller Untiefen, um aufzunehmen, was sonst zum Scheitern ein für allemal verurteilt wäre. „Karsamstag. Vollständiges Erkennen seiner selbst. Den Umfang seiner Fähigkeiten umfassen können wie einen kleinen Ball. Den größten Niedergang als etwas Bekanntes hinnehmen und so darin noch elastisch bleiben.“*
* Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923, Werke 7, 201, Eintrag vom 8. April 1912
Lebendiger Gott
Zum Karfreitag
„Lebendiger Gott …“, so lautet eine Liturgieformel, die trotzig und zuversichtlich, vertrauensvoll und entschieden die Gebete einleitet, die in den Feiern zum Karfreitag des Gottestodes gedenken. Man stelle sich vor, so hätten jene gesprochen, die vor zweitausend Jahren zu Zeugen dieses Ereignisses geworden waren, die Gefolgsleute, die Jünger, die ihre Existenz auf diesen Messias am Kreuz gesetzt hatten, nicht zuletzt die Frauen, von denen das Testament erzählt, am Rande, gewiss, aber nicht als Randfiguren. Undenkbar. Da ist längst viel österliche Theologie in den Anrufungen des Gottesdienstes zu finden. Die Gefolgsleute heute in den Kirchenbänken, die der Radikalität der ersten Glaubensbekenner meist nur wenig entsprechen können, wenn sie ihre bürgerliche Existenz am arbeitsfreien Tag für eine gute Stunde in Andacht verbringen, werden mit der Härte des Geschehens kaum konfrontiert: Da ist kein Gott gestorben, so dass sie verzweifeln müssten, wie es der Chor in Bachs „Matthäuspassion“ noch singt: „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Der Kreuzestod war für viele, nicht nur für den einen, das Ende. Sie hatten nichts mehr, woran sie sich fest halten konnten; das Leben, das sie auf ihn vorbehaltlos ausgerichtet hatten, war für sie total durcheinandergeraten. Nur aneinander hielten sie noch fest, so dass die Trostlosigkeit nicht absolut werden konnte. Das war ihr Glück. Ohne die Gemeinschaft, die in der schwersten Zeit zusammenstand, wäre die Osterbotschaft wohl so nicht belastbar weiterzugeben gewesen. Zwar erschien der auferstandene Jesus, wie es die Zeugnisse berichten, einzelnen zunächst, den Frauen, die vom Rand ins Zentrum der Geschichte gerückt sind. Aber die Gemeinschaft derer, die zunächst verzweifelt, dann zweifelnd, die Erlebnisse der vom Gottessohn Berührten (so Thomas, der Skeptiker) vernahm, entwickelte sie zu einer Glaubenserfahrung bis in die Gegenwart, die der attributiven Zuordnung „Lebendiger Gott“ nicht nur den Charakter nimmt, angesichts des Kreuzestodes eine contradictio in adiecto zu sein, ein Selbstwiderspruch, sondern ihr eine Gewissheit gibt, die alle Untiefen des Lebens übersteht. Ohne die Formel „Lebendiger Gott“ gäbe es an Karfreitag nichts zu feiern.
Liebesverrat
Zum Gründonnerstag
Die Größe einer Liebe zeigt sich am klarsten in dem Moment, in dem sie verraten wird.
Von einem neuerdings erhobenen ruppigen Ton in der Politik
Man darf darauf wetten, dass der in der Politik neuerdings erhobene ruppige Ton, wird ihm nur lautstark widersprochen, in Weinerlichkeit verfällt. Sie sind beides Ausdrucksformen eines Ichs, das sich selber maßlos überschätzt. Die treffsicherste Kränkung eines Narzissten ist gelangweilte Ignoranz.
Tarnkappentechnik
Je umständlicher, komplizierter (nicht komplexer) und detailreicher eine Sache ist, desto mehr entschwindet sie der Aufmerksamkeit. Das ist die Tarnkappentechnik in einer Welt, die sich nicht mehr die Mühe macht, in ihren eigenen Dingen gründlich, ausdauernd und ausgiebig zu sein. Wer etwas zu verbergen hat, verschweigt es am besten, indem er ellenlang redet.
Was sich lohnt
Es ist eine einzige Frage, deren Beantwortung zuverlässig Auskunft gibt, ob sich mit einer Sache zu beschäftigen lohnt. Frage dich: Ist dieses oder jenes fähig, deine Liebe zu erwecken? Die Welt sortiert sich, so betrachtet, präzise. Nur das Liebenswerte macht einen Unterschied. Mehr muss man von sich selbst und anderen nicht wissen.
Lebenshilfe
Zum Palmsonntag
Hosianna, der Ruf, ob als Flehen oder Jubel, der beim jüdischen Pessachfest liturgisch die Lobpsalmen begleitet, und später die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem kennzeichnet, verdichtet die Vorstellung von Gott auf den Akt der Hilfe. Als Bitte um Hilfe benennt er ein dem Menschen zentrales Defizit, ohne zu sagen, worin es besteht. „Hilf doch“, so die Übersetzung des Anrufs, ist zunächst abstrakt und bekommt nur seinen Sinn, wenn sowohl dem Absender wie dem Adressaten klar ist, worin ein solche Hilfe bestehen könnte. Wie lautet der Name der Not, die zu lindern, ja aufzuheben, den Anlass gibt, so zu beten? Das wird nicht gesagt. Weil es sich selbst erklärt? Weil keiner genau weiß, welcher Beistand genau gemeint sein könnte? Was bedeutet die Assistenzanrufung also? Ein Hinweis mag jene Lästerrede geben, die der Evangelist Matthäus dem Zufallspublikum der Kreuzigung in den Mund gelegt hat: „Der du den Tempel Gottes zerbrichst und bauest ihn in drei Tagen, hilf dir selber!“ (Matth. 27, 40) Wer so Großes zu tun beansprucht, der muss mächtig genug sein, wenn es ums Ganze geht, und ihm an den Kragen. Der Tod aber ist das Ganze des Lebens; besser: dem Leben geht es im Ganzen um den Tod. Das einem Sterbenden zuzurufen, ist der Inbegriff des Zynischen. Von der Begeisterung der Zuschauer am Wegrand, die den Eselsritt des Erlösers bejubeln, bis zur Bitterkeit der Zeugen eines Todeskampfs steigert sich das Maß der erwarteten Hilfe, die anfänglich noch unbestimmt ist, hin zur letzten Bestimmtheit einer jeden Existenz: Befreiung von ihrer Endlichkeit. Und damit von allen Beschränkungen, die sie, leidvoll, aber auch freudenreich, ausmachen. Mag das Hosiannageschrei noch als unbedacht ausgelegt werden, so ist die Aufforderung zur Selbsthilfe schon konsequenter: Ein Gott, der als Helfer sich ansprechen lässt, muss auch im Letzten in der Lage sein, das Los aller zu sterben für sich abzuwenden. Das Missverständnis indes bestand darin, dass keiner sah, dass genau dies nicht geschehen durfte, um hierin Helfer sein zu können. Zur Hilfe gehört wesentlich, dass sie aus Erfahrungen erwachsen ist, die überwunden worden sind. Wer im Tod helfen will, muss ihn erfahren und überwunden haben. Selbsthilfe war daher die falscheste aller Empfehlungen. Es ist tröstlich – Trost ist die Hilfe der Hilflosen –, dass die Passions- und Ostergeschichten anders enden: mit der Belastbarkeit einer Hilfe, der es ums Ganze geht, indem sie es durchmacht und durchsteht. Das Testament nennt das Auferstehung.
Bruchlinien
Nichts fördert so sicher die Bereitschaft, gewalttätig zu werden, wie ein gebrochener Stolz. Das ist die hauptsächliche Gefährdung jener Menschen, die meinen, groß zu werden, indem sie andere kleinmachen.
Da kann man sich nur wundern
So manche Frage beginnt damit, dass einer sich wundert. Es gibt Antworten, die so gut sind, dass am Ende alle staunen. Alles, was dazwischen ist, heißt „denken“.
Spiel der Erwachsenen
Was sich von den Märkten – Aktien, Anleihen, Edelmetalle, Krypto – lernen lässt, die im ganz großen Stil derzeit manipuliert werden von Menschen, die eigene Interessen und Vorteile über alles andere stellen: Wer nur spielt, verspielt vor allem Vertrauen, und damit jene entscheidende Bedingung, die ermöglicht weiterzuspielen. Ohne dieses Vertrauen spielt keiner mehr mit, auch wenn ihm, meist übel, mitgespielt wird.
Politik als Spiel
In dem Maße, wie die Politik als Spiel betrieben wird, wächst der Ernst für den Bürger, weil er nicht mitspielen kann, sondern nur noch als Spielball mächtiger Interessen instrumentalisiert wird.
Das große Finale
Endspiele in der Geschichte beginnen immer damit, dass der Preis für die Zerstörung des anderen die Selbstzerstörung ist.
Nähe zum Abstand
Ein Mensch, der unfähig ist zur Selbstdistanz, besitzt auch nicht das Talent für Nähe. (Eine politische Konsequenz: Man sollte sich nur von Menschen regieren lassen, die über sich lachen können.)