Kategorie: Allgemein

Einsilbig, zweischneidig

Den Bekannten etliche Jahre nicht gesehen, der sogleich fragt: Wie geht’s? Was soll man nach dauernder Gesprächsabstinenz darauf antworten? Kann er noch verstehen, wie tief die Lebensveränderungen, auch die jüngsten, in die eigene Biographie geschnitten haben? Schon zwei Sätze wären zu viel, weil sie natürlich allzu wenig sind. Also: Bestens. Und selbst? Je länger die Zeit der Abwesenheit gewährt hat, desto kürzer gerät die Erwiderung auf die Frage nach dem Befinden. Man könnte maßlos erzählen, so dass prompt der Wörterausgang verstopft bei allem, was da auf einmal hinausdrängt. Hier wirkt das Gesetz von der umgekehrten Proportionalität der Kommunikation: Oft bringt kein Wort heraus, wer besonders viel zu sagen hat; noch öfter plappern sich den Mund fransig, die nichts zu sagen haben.

Ohne Ergebnis

So ganz will die Anekdote über den Entschuldigungszettel nicht einleuchten, die sich in Darstellungen zu Hegels Biographie immer wieder findet. Von Zeit zu Zeit soll eine Notiz an der Tür zum Kolleggebäude der Universität die Abwesenheit des Dozenten erklärt haben: „Die Vorlesung von Herrn Professor Hegel muss heute leider ausfallen, weil der Herr Professor mit dem Nachdenken noch nicht fertig geworden ist.“ Was daran zweifelhaft ist? Für einen Philosophen, dessen Widerwille gegen das Ergebnisdenken aus den Poren jedes seiner Sätze quillt, kann der fehlende Abschluss einer Überlegung kein Grund sein, andere davon auszuschließen. Im Gegenteil müsste der noch intakte Prozess einer Gedankenbewegung geradezu ein bestechender Ausweis sein, dass wirklich nachgedacht wird. Wahrheit geschieht; sie gibt es nicht als Resultathäppchen von endlichen Reflexionen. Ob sich in der kleinen Geschichte die Hoffnung späterer Zeitgenossen spiegelt, mit einem klassischen Vorbild die eigene Nachlässigkeit rechtfertigen zu können? So sehr man sich von so manchem Lehrer wünschte, er hätte sich mehr Zeit genommen, bevor er aufs Podium strebt, hat der fahle Eindruck seiner Ideenpräsentation allerdings auch damit zu tun, dass er mit einer Sache allzu oft fertig geworden ist.

Weniger haben, mehr sein

Das Geheimnis des Fastens: die Entdeckung der Vorfreude.

Fastenspeise mit Perspektive: Spätestens an Ostern kommt das Lamm auf den Tisch. – Quelle: Perspective Pictures

Fastenspeise für Fleischfans: Spätestens an Ostern kommt das Lamm wieder auf den Tisch. – Quelle: Perspective Pictures

China, wie es klingt und lacht

Wenn man die Staaten in Europa aus dem Chinesischen wörtlich übersetzt, wohnen in Deutschland die Menschen mit dem erhobenen Zeigefinger, England beherbergt die Unerschrockenen, in Frankreich finden sich viele Rechtskundige. Und in Griechenland? Da hoffen sie auf den Dezember: noch lang hin bis zum Verhandlungsende mit der Euro-Gruppe.

Märchenland Europa, gezeichnet von Amazing Maps

Märchenland Europa, gezeichnet von Amazing Maps

Jugendwahn

„Das ist ein Faltrad, kein Klapprad.“ Die Entrüstung des Händlers ist offenkundig nicht gespielt. Gerade noch hat sich der Kunde den Mechanismus erklären lassen wollen, mit dem sich der Klassiker unter den Modellen auf ein geringes Packmaß verkleinern lässt. „Sie würden von einer Frau ja auch nicht sagen, dass sie klapprig sei, wenn längst Falten ihr Gesicht zeichnen.“ So belehrt, dass er sich im Ton vergriffen und ein scharnierbesetztes Gestell würdelos beleidigt hat, meint der Mann, für dieses Zweirad doch noch zu jung zu sein.

0 oder 1

Jüngst forderte Dieter Zetsche, der Vorstandsvorsitzende von Daimler, eine ethische Debatte über Roboterautos. Es müssten Algorithmen gefunden werden für jene selbststeuernden Fahrzeuge, die automatisch funktionierten, sobald ein Kind auf die Straße laufe. Wohin soll der Wagen manövrieren, wenn jedes Ausweichen Personen gefährdete? Der Manager beschreibt den klassischen Fall einer tragischen Situation. Gleich, wie ein Mensch sich entscheidet, sind die Folgen schrecklich. Ob es dafür digitale Programme geben kann? Und wem ließe sich die Verantwortung zuschreiben, wenn Prozessoren zum Kalkül machten, was den Menschen verzweifeln lässt? In den Grenzräumen des Lebens scheint die Übersetzung eines Problems in die Logik nicht zu funktionieren. Nicht ohne Grund sind es literarische Formen, die dem menschlichen Drama prinzipieller Verlegenheit eine allgemeine Darstellung ermöglichen. Wo sich eine vertrackte Lage nicht in ein Emtweder-Oder auflösen lässt, versagt das Digitale. Tragödien und Komödien müssen erzählt werden als Geschichten, in denen Menschen einander nie tiefer begegnen als im Raum der dunklen Verstrickungen und kaum näher kommen als dort, wo der Doppelsinn sie zum Lachen bringt.

Der guten Form halber

„Nichts ist altmodischer als ein Inhalt“, sagt der Marketingmann. Ob auch das nur eine leere Worthülse ist?

Geistesgegenwart

Es lohnt, das Wort „Geistesgegenwart“ buchstäblich zu lesen. Dann erschließt sich, dass es jenseits ungewöhnlicher Zungenfertigkeit oder des Talents zum spontanen Witz vor allem darum geht, keine Situation anzunehmen, der eine Bedeutung fehlt. Wo der Geist gegenwärtig ist, hat das Faktische nicht das letzte Wort.

Alles in Ordnung

Ordnungsformen des Denkens, der Strenge nach lose geordnet, alliterativ aufsteigend:
1. Anarchie – die einzige Regel lautet: keine Regeln;
2. Alliteration – die Willkür wird im ersten Buchstaben begrenzt;
3. Assoziation – die Herrschaft des Einfalls über Prozess und Struktur;
4. Analogie – mehr als ein Irgendwie, weniger als ein Genauso;
5. Antinomie – im Widerspruch steckt die Kraft zur Versöhnung;
6. Argumentation – nichts entscheidet als der gute Grund allein;
7. Axiom – im Prinzip Anfang und Ende zugleich.

Das Auge hungert mit

So mancher kulinarische Genuss wird vergällt durch die kunstvolle Inszenierung der Speisen für den Sehsinn. Wer schneidet schon mit Lust eine Torte an, die der Konditor in tagelanger Arbeit architektonisch ansprechend aufgebaut hat? Wer stürzt sich auf ein Buffet, das liebevoll arrangiert von der sensiblen Fertigkeit des Kochs kündet? Da bedarf es schon einer nachhaltigen Aufforderung, um dem Hunger die zerstörerische Handlungsinitiative zu überlassen. Dass das Auge mitisst, gerät selten zum Vorteil des Magens.

Friedensstifter

Eine der unterschätzten versöhnlichen Eigenschaften der Politik ist, dass für sie der Frieden kein Prinzip darstellt, sondern die pragmatische Einsicht, dass Konflikte sich auch anders ertragreich bearbeiten lassen. Frieden ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Das unterscheidet die Politik von der Religion, in der der Frieden zum Grundwort erhoben wird, um dessen handlungsleitende Auslegung Menschen sich bis zur Vernichtung streiten können.

Existenzrecht

Am Rande einer Diskussion über die Heilerfolge der Stammzellmedizin taucht die Frage nach dem Sinn von Krankheit auf. Ob denn der bei allen kleinen und größeren Triumphen der Forschung nicht unterschlagen werde? Die klügste Antwort wäre gewesen: Sinn schon, aber kein Existenzrecht. Im umgekehrten Fall sind wir ja auch bereit, sofort einzuräumen, dass eine Sache nicht schon deswegen dienlich ist, nur weil es sie gibt.

Applaus, Applaus

Seitdem die Hände das Begreifen an den Kopf delegiert haben, üben sie den Beifall. Oft, bevor das Hirn mit seiner Arbeit schon begonnen hat.

Mehr Fragen als Antworten

Besser als gesunde Ernährung, Bewegung oder der Verzicht aufs Rauchen hilft gegen allzu schnelles Altern schlicht Neugier. Sie scheint ein unauffälliges, aber höchst wirksames Mittel zu sein gegen den frühen Tod. Wo mindestens eine Frage noch offen ist, existiert ein zureichender Grund, von der Welt nicht zu lassen.

Zwecklos

Die meisten Unternehmen verarmen daran, dass ihre Zwecke mit ihren Zielen identisch sind. Hier wie dort heißt es oft identisch: Gewinn erwirtschaften. Was als Ziel jedem einsichtig ist, muss als Zweck nicht taugen. Unternehmen sind mehr als Transaktionsmaschinen des Kapitals.

Schule der Schuldner

Was wir noch von der Politik lernen können: dass es geradezu fahrlässig wäre, Schulden zu machen, wenn man die Absicht hat, sie später zu begleichen, und leichtsinnig, mit Geld zu bezahlen, das man sich nicht geliehen hat.

Sinngebung des Sinnlosen

Seitdem er den Versuch aufgegeben hat, dem Bügeln Sinn zu geben, indem er dabei den Fernseher laufen lässt, hat er das Gefühl, dass die Hemden besser sitzen. Nicht nur, dass das Programm nichts taugt. Allzu oft wertet man eine Sache ab, wenn man sie mit einer anderen aufwerten will.

Links oder rechts von der Mitte

Der Stille Ort ist die Metapher für Flucht und Zuflucht in einer Welt, die sich den Zugriff auf alles mit immer subtileren Mitteln sucht, ein Asyl, das den aufnimmt, der von ihr für Augenblicke genug hat und zuweilen länger als nur kurz verschwinden muss. „War mein Aufsuchen der stillen Orte im Laufe des Lebens gleichsam weltweit, immer wieder auch ohne spezielle Notwendigkeit, vielleicht ein Ausdruck, wenn nicht von Gesellschaftsflucht, so doch von Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruss? … Noch merkwürdiger, dass man, ohne Vorsatz oder gar Plan, die stillen Orte allein aus sich selber heraus schaffen konnte, von Fall zu Fall inmitten eines Tumults (gerade im Tumult), inmitten von dem zeitweise noch ungleich stärker geisttötenden Gerede. Solche Orte bauten sich auf und schirmten einen ab, indem man … die grossen und sogar die weniger grossen Texte, ja, der Literatur las.“*

* Peter Handke, Versuch über den stillen Ort

Pissen ist Macht: Lokus für die Gebildeten unter den Verächtern des billigen Latrinenspruchs

Pissen ist Macht: Das Örtchen als Ort für die kundigen Leser unter den Verächtern des billigen Latrinenspruchs

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing

Wie oft haben Unternehmensberatungen, nach Analyse der wirtschaftlichen Malaisen in einer Firma, eigentlich die Empfehlung ausgesprochen, vor allen anderen den Vorstand zu entlassen, der sie beauftragt hat? Guter Rat ist eben nicht nur teuer, sondern kommt den Berater teuer zu stehen.

Fassen wir zusammen

Jedem Feingeist stellen sich die Nackenhaare auf, wenn er die Politiker-Floskel hört, man müsse in Bildung investieren. Das ändert auch nicht deren häufiger Gebrauch. Wem wirklich an ihr, der Bildung, gelegen ist, schielt nicht auf das, was sie bringen wird, wie der Investor vornehmlich auf die Rendite schaut. Das Bürokraten-Gerede verkennt, dass Bildung zwar nicht unnütz, aber immer mehr als nützlich ist, dass sie sich an Ergebnissen so wenig orientiert, wie sie zumeist von Erfahrung lebt. Die Formel taugt zu nicht mehr als zu einem Schibboleth für die Besitzstandswahrer in der öffentlichen Verwaltung, die mit ihr jedes Ersuchen um fiskalische Erleichterung oder Sparvorschläge bei den Staatsausgaben abschmettern. Allerdings fehlt es wirklich an einem Unterrichtsfach, das im Lehrkanon bisher nicht aufgeführt wird und das wie kein anderes die Verlegenheiten gegenwärtiger Pädagogik abbildet: Kann es eine allgemeine Anleitung in Herzensbildung geben? Was mit diesem altmodischen, gleichwohl hochaktuellen Wort gemeint ist? Robert Musil hat das Manko unserer Zeit beschrieben: „Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen.“* Wer also fasst zusammen, und was hält zusammen? Für das Leben und Überleben einer komplexen Gesellschaft sind das die entscheidenden Fragen. In einer solchen Disziplin ginge es vornehmlich darum zu verstehen, was ein Unterschied bedeutet: jene immer größere Ähnlichkeit bei noch so großer Unähnlichkeit, jene stets aufmerksame Wahrnehmung des Anderen bei scheinbar noch so großer Selbigkeit. Die Talente, die zu diesem Vermögen gehören, heißen Respekt, Urteilskraft, Großzügigkeit, Empfindsamkeit, Diskretion. Wer soll das lehren?

*Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 154

Gernegroß

Früher nahm man noch die moralische Verpflichtung wahr, die im Doppelsinn der Größe, als quantitativer und qualitativer Bezeichnung, versteckt ist. Was vor aller Augen sichtbar das Normalmaß überschritt, sollte auch allenthalben Eigenschaften besitzen, zu denen aufzublicken mehr war als eine Frage der hochgerichteten Körperhaltung. Man darf daher mutmaßen, dass der französische Schriftsteller Antoine de Rivarol, der im Jahr 1784 in ganz Europa bekannt wurde, weil er den Preis der Berliner Akademie gewann mit einer Abhandlung über die Universalität der französischen Sprache, mit der zwiefachen Bedeutung des Worts „Größe“ bestens vertraut war. Unter seinen Sentenzen zur Ökonomie findet sich ein auch heute noch bedenkenswerter Satz: „Große Unternehmen vernichten nur kleine Vermögen.“* Der Widerspruch, den wir entgegenhalten wollen, belehrt durch die jüngere Vergangenheit, in der große Unternehmen sehr große Vermögen vernichtet haben, stockt in dem Augenblick, da andere mögliche Lesarten aufscheinen. Etwa die sozialkritische: Nur die kleinen Vermögen sind von den großen Unternehmen vernichtet worden; die großen blieben erhalten. Oder die vorsichtig wirtschaftsethische: Groß verdient ein Unternehmen dann schon genannt zu werden, wenn es nicht mehr vernichtet als kleine Vermögen. Oder die wachstumstheoretische: Die Größe eines Unternehmens resultiert daraus, dass es nur kleine Vermögen vernichtet hat. Doch die Formel impliziert noch eine andere Pointe, jenseits von „groß“ oder „klein“: Kein Unternehmen, so Rivarol, scheint sich des Loses entziehen zu können, überhaupt etwas zu vernichten, will es erfolgreich sein.

*Antoine de Rivarol, Vom Menschen, 167

Warum Narzissten Mimosen lieben

Er hatte kein besonderes Talent darin, seiner eigenen Begabung Glauben zu schenken: Jeden Mangel an Bewunderung verstand er schon als Kritik.

Thank you for smoking

Das beste Marketing: die Werbung mit dem Ende der Werbung. Auf die eigene Substanz reduziert ist die Reklamebotschaft eine Verweigerung des Produkts. Wer wollte dem widersprechen, dass Rauchen tödlich sein kann? Was das Plakat verspricht: keiner, der diese Zigaretten kauft, muss fürchten, eine Mogelpackung zu erhalten. Es ist drin, was draufsteht. In einer imageüberdrüssigen Zeit wirkt die brutale Wahrheit wie die Droge, vor der sie warnt. Der Inhalt ist die Darstellung. Er zieht an, weil sie abstößt. Das Geheimnis dieser Sache ist, dass sie alles offenlegt. Es gibt eine Verlogenheit, die sich keines anderen Mittels bedient als der Ehrlichkeit.

Tag der Wahrheit: Der Tod kennt kein Vielleicht

Tag der Wahrheit: Der Tod kennt kein Vielleicht

 

Logik der Sackgasse

Was beim Problem die Lösung, ist bei der Aporie die Verlegenheit.