Sie ist höchst talentiert darin, fremde Geschichten zu besetzen, wie eine Spinne sich in einer Zimmerecke einrichtet. Kaum dass ein anderer sie erzählt hat, zeichnet sie sich in die Erlebnisse ein und wirkt sie um, bis sie in ihrem eigenen Leben ein stimmiges Ereignis darstellen. Und am Ende kann sie nicht einmal mehr selbst entscheiden, was wirklich zu ihr gehört und was sie mit großem Geschick erfunden hat.
Kategorie: Allgemein
Und? Enttäuscht?
Variatio delectat, lautet einer der wichtigsten Unterhaltungsgrundsätze. Dass die Abwechslung Vergnügen bereitet, wissen schon die Jüngsten, die bei aufkommender Eintönigkeit sofort ein buntes Spaßprogramm einfordern. Erschöpft kehrt der vielfache Vater aus der Klinik zurück, wo er der Geburt seiner nächsten Tochter beigewohnt hat. Wieder ein Mädchen. Das muss er sich zuerst von der Ältesten zu Hause anhören, die sichtlich enttäuscht reagiert: Schwestern habe sie schon genug, meint sie patzig, als hätten die Eltern versagt, und verrät, wozu wir Nebenmenschen und Nahestehende überhaupt brauchen: damit sie uns die Langeweile vertreiben.
4. Sonntagskolumne: Nachbarn
… Nichts ist dem Menschen ärger als die unabwendbare Tatsache, dass es Nebenmenschen gibt. Und nichts ist ihm zugleich selbstverständlicher. Zwischen den Extremen des Alleinseins und der Masse entwickelt er seine spezifischen Formen von Einsamkeit. Zu ihnen gehört in gleichem Maß die Sehnsucht, verstanden zu werden, wie der Wunsch, in Ruhe gelassen zu sein. Es ist also kein großes Feld, auf dem sich Nachbarschaft entwickeln kann. Sie repräsentiert die Nähe, die auf nichts baut als auf räumliche Nähe. Das lässt ihr den Auslegungsraum, sich zur Freundschaft zu verfeinern oder in eine Verfeindung zu münden. Beides ist gefährdet durch den Zwang, einander auszuhalten. Man kann sich nicht aus dem Wege gehen, weiß aber nicht immer, ob man sich auf dem Weg begegnen will. Nur selten gelingt, sich die Nachbarn auszusuchen. Allenfalls darf man sie in einem Milieu vermuten, das einem selber angemessen ist. Im besten Sinn kann Nachbarschaft bestimmt sein über Hilfe, also jene selektive Unterstützung, die auf gelegentliche Nähe angewiesen ist, ohne dass sich daraus schon eine Beziehung ableiten muss…
Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.
Double bind
„Du könntest ja einfach mal souveräner reagieren“, sagt sie. Ja, ja, denkt er sich, und verzichtet auf eine Antwort. Souveränität bedeutet ihm: nicht nur zu reagieren.
Kleinkram
Die E-Mail ist das Medium der Erbsenzähler. Schnell wird dem Adressaten noch auf eine Petitesse spitz erwidert, über die man in der direkten Konversation lässig hinweggesehen hätte.
Adel oder Ächtung
Wer das Leben in einem Land genau verstehen möchte, sollte sich anschauen, wie es mit dem Sterben seiner Bürger umgeht. Man erfährt alles, wenn man begreift, warum der Verzicht auf medizinische Maßnahmen in der letzte Stunde hier als selbstbestimmter Tod geadelt und dort als unterlassene Hilfeleistung geächtet wird.
Das liebe Geld
Diese alte englische Regel, die Milton Friedman systematisiert und bekannt gemacht hat, gilt nicht nur fürs Einkaufen: Eigenes Geld, für mich selbst ausgegeben, sorgt für Qualitätsbewusstsein und Preissensibilität; eigenes Geld, das ich für andere einsetze, etwa um Geschenke zu erstehen, lässt mich oft vor allem auf die Kosten schauen. Mit fremdem Geld, das ich für
Eigenes investiere, tritt der Wert in den Vordergrund; was man bezahlt, spielt kaum eine Rolle. Die meisten Spesenritter kennen das Gefühl. Nur bei Geld, das ich von anderen nehme und mit dem ich nicht den eigenen Vorteil suche, ist beides egal: wieviel man hergibt und was es bringt. Vor allem Fondsmanager oder öffentliche Verwaltungen leben davon, dass sie das Ersparte oder die Steuer der Bürger nach Gutdünken verjubeln können; die wenigstens würden auf gleiche Weise handeln, wenn es um das eigenen Vermögen ginge. So manche gesellschaftliche Krise und die Risiken etlicher Anlageentscheidungen könnten entschärft werden, hielte man sich an diese einfache Unterscheidung.
Pläsier am Plausiblen
Wer wirklich Veränderung sucht, nicht bloß eine leichte Variante des Vorhandenen, muss sich auf Geschichten einlassen, die in dem Maße wahrscheinlich sind, wie sie unglaubwürdig zu sein scheinen.
Große Oper
Wohin ist eigentlich die Kreativität in diesem Land verschwunden? Sie steckt in den Namen der Frisiersalons: Von „Cre-Haar-tiv“ über die „Haarchitekten“, die gleich ein ganzes Raumkonzept für die Kopfbedeckung entwickeln, dem „Haarem“, einem Dienstleister nur für die Herren unter den Bartträgern, dem „Kammpus“ für den Intellektuellennachwuchs, den „Vier Haareszeiten“, Vertretern der Saisonmode, geht es „Hin und Hair“ mit haarspalterischen Wortspielen. Und wer die ganz große Oper braucht, geht zu „Cut by Caruso“, allerdings nicht in „Bel Hair“ oder Hollywood, sondern nur in Hofheim.

Der Schnitter von Hofheim am Taunus: Über sein Gewerbe, Film oder Singspiel, ist er noch im Unklaren. Nur die große Bühne soll es in jedem Fall sein, auch wenn der Laden eher nach kleinem Bahnhof aussieht
3. Sonntagskolumne: Peinlichkeit
… Es ist weniger der Akt als vielmehr dessen schmerzhafte Wirkung, die Anlass gibt, eine Situation peinlich zu nennen. Die Pein, abgeleitet aus dem griechischen Wort für Strafe, stammt aus einem Weltbild, in dem eigenem Tun auch ein entsprechendes Ergehen zugefügt wird. Zwischen der Handlung und dem Los, das Menschen erfahren müssen, wird ein Zusammenhang vermutet, der in diesem Wirken selber liegen soll. Doch anders als in den mythischen Bildern vom Tun-Ergehen, die Gott, dem konsequenten Weltenherrscher, moralische Autorität und daher ein Eingriffsrecht zusprechen, tritt hier die Öffentlichkeit ins Feld. Nur vor ihr ist überhaupt etwas peinlich. Sie straft, ohne dass sie sich dafür eigens engagieren müsste. Woher nimmt die Öffentlichkeit eine derart große Macht? Der Peinlichkeit steht das Sehen gegenüber. Allein vor dem allgegenwärtigen Auge, eines Einzelnen oder der Vielen, entsteht das peinigende Gefühl. Weil der Verborgenheit entrissen, verliert eine Handlung ihren Ort, die Zugehörigkeit, die sie im Erträglichen hält. Die Peinlichkeit reflektiert Handlungen, die heimatlos geworden sind …
Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.
Loses Gerede
Beim Betrachten einer Unterhaltungs-Talkshow: Gesichtslose Geschichten, erzählt von geschichtslosen Gesichtern.
Auch der Bruder Leichtfuß hat es schwer
„Routine ist kein Naturtalent“, sagt sie, angesprochen auf eine neue Aufgabe. Der verdeckte Verweis auf harte Arbeit benennt die mühsam und langfristig erworbene Erfahrung als Hauptbeigabe versierter Leichtigkeit. Und verkennt, dass es dennoch Menschen gibt, die besonders begabt zu sein scheinen, ihre zahlreichen Erlebnisse rasch in tiefe Erfahrungen umzuformen. So manchem geht vieles von leichter Hand, ohne dass er darum schon ein Bruder Leichtfuß sein müsste.
Das Recht des Publikums
Gerade die routiniert gehaltenen Vorträge, zum x-ten Mal mit eloquenter Höflichkeit in Szene gesetzt, entpuppen sich meist als gefällige Ansprachen, die nichts wagen und nichts sagen. So vergreifen sie sich am ungeschriebenen Recht eines Publikums auf Unterhaltung oder Überraschung und rauben mit kaum versteckter Unverfrorenheit dessen knapp bemessene Zeit. Der Spätankömmling, der erst während der obligatorischen Fragerunde im Nachgang zum Auditorium gestoßen ist, erfährt auch jetzt noch viel über das, was er versäumt hat, ohne offenkundig etwas zu verpassen. Hier der sanfte Ton des antwortenden Referenten, dort die krampfhaft zurückgehaltene Wut in den Kommentaren der bemüht neugierigen Zuhörer – da wollte der Veranstalter mit der Wahl des bekannten Redners wohl nichts falsch gemacht haben und hat prompt daneben gegriffen.
Batteriestatus: leer
Auf Partys sind jene Menschen, deren Unterhaltungsrepertoire für genau einen charmanten Abend reicht, zurecht meist umstellt. Sie geben die Garantie auf ein paar vergnügliche Stunden, auch wenn bald erkennbar ist, dass sie sich tags drauf zuverlässig als die langweiligsten Zeitgenossen entpuppen werden. Man darf halt nicht den Fehler begehen, von der einen Begegnung auf die nächste zu schließen. Wenn du Freunde willst, suche in solchen Szenen nach spröden Auftritten, nach Mauerblümchen oder notorischen Nörglern.
Hömma
Der Vorwurf, nur selektiv zuzuhören, diskreditiert sich selbst, weil er nichts anderes beschreibt als die Grundbedingung, überhaupt etwas zu verstehen. Niemand nimmt wahr, wenn er nicht zuvor einen Filter einsetzt. Dass dabei zuweilen auch verloren geht, worauf es anderen angekommen ist, macht die Sache spannend. Wer, außer gelangweilten Automaten, wollte noch kommunizieren, wenn von vornherein klar wäre, was aus einer Botschaft alles herausgelesen werden kann.
Die Gelegenheit ist günstig
Schon der antike Brauch, die Strategen der Stadt wegen ihrer Fehlentscheidungen zum Tode zu verurteilen, hat dafür gesorgt, dass sich eine Strategie ehedem als Gegenbild des opportunistischen Tuns verstanden hat. Wer strategisch denkt und handelt, reagiert nicht auf Gelegenheiten; er schafft sie. Heute hingegen ertönen zuverlässig nach jeder noch so kleinen Niederlage, nach minimalen Abweichungen von der vorgezeichneten Erfolgsspur die Rufe nach einem Strategiewechsel. In der zeitgenössischen Politik und Wirtschaft ist Strategie kein System, das vorausdenkt, sondern der schlichte Codename für das, was der entscheidenden Mehrheit nachplappert.
2. Sonntagskolumne: Gelegentlich
… Wenn Lustlosigkeit einen Namen hat, dann lautet er: Gelegentlich. Im Niemandsland des guten Willens, das zwischen Pflicht und Neigung liegt, verschwindet jede bemerkliche Form des Eigenantriebs. Der Opportunist ergreift zwar nicht die Initiative; das widerspräche seinem Hang, gar nichts zu tun. Aber er lässt die Gelegenheit nicht vorüberstreichen, ohne sich ihrer zu bedienen (besser: von ihr bedienen zu lassen). Mit demselben Gleichmaß, das er dem Arzt gegenüber aufsetzt auf dessen nachdrängende Frage, was denn gelegentlicher Alkoholkonsum meine, nämlich: einen verschwindend geringen, zeigt er sein stoisches Desinteresse auch in anderen Angelegenheiten, die seinen Einsatz erforderten. Er will nicht sagen, wie es um seine Neigung bestellt ist, lässt aber von ihr sich das Maß seiner Pflicht diktieren …
Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.
Mobile Eingreiftruppe
Die Polizei stellt sich neu auf: weg vom Behördenimage, hin zur Bürgernähe. Die Architektur des neuen Präsidiums signalisiert schnelle Einsatzbereitschaft, flexible Verbrechensbekämpfung, wechselnde Präsenz an den sozialen Brennpunkten der Stadt. Gegen die schweren Jungs hat man den Vorteil des leichten Gepäcks entdeckt.

Traditionspflege: Die Polizei schlägt ihr Zelt auf, wo dereinst die wichtigste Stadtwehr untergebracht war, an der Frankfurter Hauptwache, zu der auch ein Gefängnis und ein Verhörlokal gehörte
Was aber bleibet, stiften die Richter
Das Urteil war schon lang gesprochen, vom Volk ohnehin; die Institution zog nach. Seit dem Wochenanfang hat nun auch der amtsverzichtende, frühere Limburger Bischof Tebartz-van Elst die Skandalstätte verlassen und ist umgezogen. Zurückgeblieben ist das Häuserensemble, das unter dem Namen „Protzbau“ für ein landesweites Ärgernis gesorgt hatte. Dessen Tore sind inzwischen geöffnet. Und in Scharen strömen krämergeistige Menschen neugierig hinein, um hinter den Mauern überraschend zu entdecken, dass die geschmackvollere Architektur noch immer entstanden ist, wenn über sie ungeachtet aller Budgetzwänge allein entschieden wurde. Die Ästhetik ist in Wahrheit eine demokratiefreie Zone.
Zeit zum Lügen
Mit dem Aufkommen der bildgebenden Verfahren lässt sich das Hirn wie eine Landkarte vermessen, auf denen die Orte für Gefühle, das Sprachzentrum oder Felder des logischen Denkens genau verzeichnet sind. Wo aber wohnen die moralischen Urteile, wo ist Wahrheit zu Hause; und teilt sie sich mit der Lüge Tisch und Bett unter einem Dach? Der Neurowissenschaftler könnte die Schlafforschung bemühen, um – wenn schon nicht räumlich exakt, so doch – zeitlich zufriedenstellend Auskunft zu erhalten: Nie ist der Mensch ehrlicher als in den Dämmerphasen seines Bewusstseins, zwischen Wachheit und den tiefen Träumen. Dösend erzählen wir alles, weil wir schon nicht mehr wissen, was wir im einzelnen verraten. Aus der leichten Narkose erwacht, will der frisch Untersuchte dem Arzt erklären, was er als Lektüre für die Wartezeit mit in die Klinik genommen hat. Der allerdings ist längst im Bilde und berichtet von einem interessanten Dialog über das Buch, in dem er gerade erfahren haben will, warum es der Patient nicht versteht.
Kreuz und quer
Nie hat sich mir erschlossen, welche Auszeichnung es sein soll, ein „Querdenker“ genannt zu werden. Der Querkopf gilt als sturer Sonderling. Wohingegen in den Reflexionen auf logische oder erzählerische Folgerichtigkeit zu achten, also „längs“ zu denken, jederzeit eine Minimalbedingung ernsthafter Überlegungen zu sein hat. Von der Norm kann intelligent nur abweichen, wer die Norm brillant beherrscht.
Sinneswandlung
Auch die Allerweltsweisheiten werden töricht, sobald sie allezeit und allerorten zu finden sind.

Brunnen im Schloss Heiligenberg, Jugenheim
Labor omnia vincit improbus: „Anhaltende Arbeit besiegt alles“ – auch den Durst?
Der Satz, der leicht abgewandelt den Georgica (1, 145f.) von Vergil entstammt, bezeichnet dort einen Wechsel der Zeiten, vom Goldenen Weltalter unter Saturn hin zu den weitaus härteren Tagen der Jupiter-Herrschaft. Der zwang die Menschen, sich der Welt zu stellen und provozierte so den findigen Geist der Sterblichen. Ackerbau, Schmiedekunst, Jagd oder Fischfang, alle Künste des Handwerks oder der Himmelsbeobachtung, zuletzt die Wissenschaften, waren die Folge. Der Mythos des Vergil handelt von den Überlebensbedingungen in einer Welt, die dem Menschen alles abverlangt. So verstanden, klingt das Wort plötzlich anders. Schwerste Mühsal hat sich durchgesetzt und Herrschaft gewonnen über alles, was dereinst, in den schönen früheren Zeiten nur die Trägheit des leicht blasierten Genusses herausforderte. So hart durfte es in den Ohren der späteren Bürgermoral nicht klingen. Als Allgemeinplatz genügt der Appell sich anzustrengen: Wer hartnäckig arbeitet, wird siegen.
Menschenfreund
Ein Mann von großer Menschenkenntnis, wird der Ältere vorgestellt. Die ehrfurchtheischende Apposition löst sich im Gespräch schnell auf. Er mag Menschen und ist daher auf sie neugierig. Was deren Kenntnis angeht, ist er vorsichtiger: Man solle nie glauben zu wissen, wer jemand sei; aber man dürfe auch nie nachlassen, es immer wieder erfahren zu wollen. Der wahre Philanthrop ist Skeptiker.
1. Sonntagskolumne: Fragen und Antworten
„… Mit der Antwort zu beginnen, um ins Fragen zu kommen, ist ein Unterfangen, dem es an Folgerichtigkeit zwar mangelt; das allerdings in existentieller Hinsicht ein großes Maß an Wirklichkeitstreue widerspiegelt. Der Mensch ist die Frage nach sich; und Leben bedeutet: dies zu ertragen …“
Aus den „Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens„. Das Buch erscheint in diesem Herbst.