Der Tod des Liberos

Aus gegebenem Anlass eine Erinnerung an Franz Beckenbauer und die Rolle, die er maßgebend im Fußball, innerhalb und außerhalb des Spielfelds, ausgefüllt hatte. Ausschnitte aus meinem Essay „Der Tod des Liberos“ (hier geht es zur Originalfassung) der am 21. Juni 1985 im Magazin der „F.A.Z.“ erschien

„Der Libero, er ist mehr als nur ein ballverliebter Virtuose, ein Alleskönner und Polyhistor auf dem Spielfeld; er weckt unser schlechtes Gewissen, das quälende Bewusstsein einer gedankenarmen, mit sich selbst unglücklichen Zeit, die ihre Eroberer des Nutzlosen, Phantasten und Schwärmer zugunsten von Expertentum und Sicherheitsparolen ins geschichtliche Abseits hat laufen lassen …
Der Libero wird zur Metapher für jene Menschen, die sich vom Reglement unserer technisierten Welt, von Spezialisierung, Phantasielosigkeit und Passivität, allgemeiner: von den Formen unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht haben beirren lassen, weshalb sie sich auch gegen Festlegungen vehement wehren. Ob linker Flügel oder rechtes Mittelfeld – der Libero erscheint meist dort, wo man ihn am wenigsten vermutet …
Wieder ist es jener Franz Beckenbauer gewesen, der – allerdings nicht mehr als Akteur auf dem Spielfeld, sondern als trainierender Vordenker, „Teamchef“ genannt – der deutschen Fußball-Misere auf die Beine half. Gewitzt drehte er die Erkenntnis, der Libero sei ein aufgehobener Spezialist, einfach um: Wenn schon keine Charaktere mehr von der Art des Liberos zu existieren scheinen, muss wenigstens die Spielstruktur so ausgenutzt werden, dass der Gedanke des Liberos erhalten bleibt. Heute fungiert daher jeder dieser Experten der Fußballkunst in der Arena als so etwas wie ein freier Mann. Der Spezialist ist der aufgehobene Libero. Denn die wohldefinierte und fixierte Position eines Außenstürmers, eines linken Verteidigers oder Mittelfeldspielers ist aufgegeben worden zugunsten eines schwer durchschaubaren Systems ständig wechselnder Rollen. Der Außenstürmer, gerade hat er noch eine präzise Flanke seinem Kollegen zugespielt, entpuppt sich plötzlich als Außenverteidiger; und der spielgestaltende Mittelfeldregisseur offenbart sich in Wahrheit (aber was heißt hier „in Wahrheit“?) als gefährlicher Torschütze. Jede Position relativiert sich durch eine andere. Der Libero ist tot, – doch die Idee des Liberos triumphiert.“*

* Der Tod des Liberos, F.A.Z.-Magazin vom 21. Juni 1985, 42 – 47