Kategorie: Allgemein

Das große Gähnen

Die Erschöpfung sucht den Schlaf als Erlösung, die Müdigkeit wünscht ihn sich als Erlebnis.

Geburtstagsgruß

Goethe, geboren heute vor zweihundertsechsundsechzig Jahren: „Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat.“*

*Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch IV, Kapitel 16, HA 7, 260. – Porträt an der Goethe-Universität in Frankfurt

*Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch IV, Kapitel 16, HA 7, 260. – Porträt an der Goethe-Universität in Frankfurt

Gefühlsknäuel

Die genaueste Metapher für die Liebe: in sie verstrickt sein.

Wer sich neckt, kriegt sich leicht in die Wolle. – Sackgasse auf Pellworm

Wer sich neckt, kriegt sich leicht in die Wolle. – Sackgasse auf Pellworm

Olle Klamotten

Wann das Altern einsetzt? Wenn nur noch die Kleidung dafür sorgen kann, dass man jünger aussieht. Wann das Alter einsetzt? Wenn das nur noch komisch wirkt.

Tage der Entscheidung

Nirgendwo wird die Vollkommenheit und die Verlegenheit eines freien Willens gleichermaßen sichtbar wie im Augenblick der Entscheidung. Das eine, die Würde des Entschlusses, ist nicht ohne das andere, eine letzte Ungewissheit, zu haben. Wo versucht wird, sich abzusichern über Statistik und Informationstechnik, Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Fortschreibung eines Augenblickszustands, geht auch die Souveränität des Handelns im ganzen verloren. Weniger die Möglichkeit, das Verhalten von Menschen vorherzusagen, ist die eigentliche Versuchung gegenwärtiger Datensammelwut als die geheime Hoffnung, mit ihr die Verzweiflung über die eigene Freiheit loszuwerden. Dabei wird vergessen, dass wirklich frei nur der ist, der über dieses Vermögen immer wieder kopfschüttelnd staunt.

Bewusstwerdung

Karl Marx benennt im „Kapital“ die Ausgangslage des modernen Denkens, wenn er daran erinnert, wie eine Gesellschaft im Tausch ihre Arbeit unwillkürlich als allgemein menschliche anerkennt. Er fasst zusammen: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“* Das zu ändern und das blinde Verhalten ins Bewusstsein zu holen, kann dessen Beschreibung leisten oder schlicht Aufklärung, eine Interpretation oder Argumentation. So wird durch Einsicht aus einem unreflektierten Habitus am Ende Handeln. Das Bewusstsein bestimmt in diesem Fall das Sein.** Das wusste Marx vielleicht nicht, als er den Satz notierte. Aber er schrieb ihn.

* Das Kapital, MEW, 88
** In “ Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ steht die berühmte Wendung: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ – MEW 13, 9

Wiederholungstäter

Die Widersprüchlichkeit des Worts „Neuanfang“ – hier ist selten etwas originell, noch handelt es sich um einen voraussetzungslosen  Beginn – verrät, dass die einzige Weise, in der wir überhaupt Anfänge setzen können, ein Gewaltakt ist wider das Bestehende. Anfänge sind nie unschuldig.

Unpünktlich

„Bin ich zu früh?“ fragte er unsicher, als er keine anderen Gäste erblickte. Er wähnte sich eingeladen auf eine Abendgesellschaft und wunderte sich nun, dass niemand sonst zu sehen war. „Ich würde eher sagen, es ist jetzt zu spät für dich“, antwortete sie siegessicher, weil die kleine Finte funktioniert hatte. Außer ihn hatte sie keinen Besucher erwartet.

Entkerntes Fallobst

Hochmut: hohles Selbstvertrauen. So manches Engagement startet voller Stolz auf die Sache und versiegt als leerer Dünkel der Desillusion.

Wittgenstein, rhetorisch

Versonnen steht der Gast vor der Werkausgabe seines verehrten Jugendautors Karl May, vierundsiebzig Bücher im Regal, chronologisch aufgereiht. Es waren diese gebundenen Bände mit der Goldprägung auf dem Rücken und dem bunten Deckelbild, die ihn einst fesselten, die Winnetou-Erzählungen vor allem oder die Abenteuer aus dem wilden Kurdistan. Da fällt ihm ein, wie er damals beim Lesen über ein Wort gestolpert war, das er nicht kannte: „insofern“ hatte er auf der zweiten Silbe betont und es irrtümlich für einen Infinitiv gehalten, ähnlich dem „Lauern“ der Indianer. Die Eltern, die er nach dieser unbekannten Vokabel fragte, verstanden nicht auf Anhieb, was er wollte. Auch sie hatten „insófern“, das neue Verb, noch nie gehört. Sie brauchten einen Moment zur Aufklärung, und die Erklärung, die sie endlich nachschoben, machte die Sache nicht heller. Dass Wittgenstein auch das im Blick hatte, als er einen seiner berühmten Sätze zum Sprachspiel formulierte: Es sei die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache*, wird dem Besucher und Betrachter der frühen Lieblingsliteratur nun klar. Es geht am Ende um die Lebensform der Rede. Sprache ist im umfassenden Sinn gemeint: als grammatisches System, logische Struktur und, nie zuletzt, als rhetorischer Stil. Im lauten Nennen zeigen sich am deutlichsten die Verständnisdunkelheiten. Nichts ist falsch an der Präzisierung der Formel: Die Bedeutung eines Worts ist sein Gebrauch im Sprechen.

* Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43

Nur zur Probe

Vieles von dem, was im nachhinein als stillschweigende Übereinkunft in einer Gesellschaft anerkannt wird, ist entstanden aus einem munteren Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Jedes Regelwerk setzt voraus, dass es sich verändern oder neu entstehen kann, weil es genügend Raum gibt für Ungeregeltes, Regelwidriges, Regelverdrehungen und -verletzungen. Die Bedingungen der Regel sind ihr Gegenteil. 

Was ist, wenn nichts mehr ist?

Spuren sind sichtbare Verletzungen.

Das Abwesende ist auffälliger als das Anwesende

Das Abwesende ist auffälliger als das Anwesende

Nahsichterwartungen

Hinter der Scheu vor allzu großer menschlicher Nähe, die bei manchen ein tiefes Befremden auslöst, steckt nicht selten der lebenskluge Respekt vor den gewaltigen Kräften des Alltäglichen, die so mancher Individualität den Zauber rauben.

Das macht mich verlegen

Die Sprache pendelt zwischen der Furcht, sich nicht verständlich zu machen, und der Angst, dabei zu viel von sich zu zeigen. In dieser Verlegenheit gründet ihr rhetorisches Vermögen.

Dat is nu eenmaal so

Zu später Stunde werden die Sätze knapper. „Dat is nu eenmaal so“, erwidert der ältere Herr am Kneipentisch mit bierschwerer Zunge. Er will nicht mehr reden, und man hört unverkennbar, dass er es auch nicht mehr kann. Als er aufgestanden ist, bleibt der Gast mit dem Wirt für ein letztes Pils allein. Draußen ist finstere Nacht eingebrochen, auf der Insel leuchtet keine Straßenlaterne den Weg heim. „Das ist hier ein geflügeltes Wort“, sagt er. „Wir ändern im Norden nur das Nötige, deswegen ist vieles noch so ursprünglich.“ Er muss es wissen, denn seit etlichen Jahren hat er auch das Amt des Bürgermeisters inne und sitzt im schleswig-holsteinischen Parlament. „Wenn Sie Tag für Tag den Launen der Natur ausgesetzt sind, schätzen Sie Willkür nicht so sehr.“ Am nächsten Morgen muss der Besucher weiter. Übergesetzt aufs Festland, will er den Bus nehmen, der ihn tags zuvor samt Fahrrad zum Fähranleger gebracht hatte. Am Steuer sitzt derselbe Fahrer, nur ist er nicht so freundlich. „Heute nehmen Sie Ihr Fahrrad auf den Schoß, oder ich muss Ihnen eine kleine Gebühr abnehmen.“ „Wieso das denn; gestern ging es doch bestens ohne Zusatzkosten?“ „Dat is nu eenmaal so“, antwortet der Buslenker; er will seine Willkür nicht erklären müssen, und kann es wohl auch nicht. „Dann steige ich wieder aus“, antwortet der Gast aus einem tiefen Gerechtigkeitssinn heraus, „und fahre mit dem Rad“. „Das ist doch viel zu weit“, meint der Mann am Steuer. „Und außerdem, unterschätzen Sie nicht den Gegenwind.“ Da hat sich der Fremde schon auf seinen Sattel geschwungen. Er tritt kräftig in die Pedale und ruft nur noch zurück: „Dat is nu eenmaal so.“

Offene Klönschnacktür

Wenn man ein Land kennenlernen will, muss man allein reisen. Die gesteigerte Offenheit fürs gelegentliche Gespräch wird nur noch übertroffen von der Sorge der Einheimischen, dem Besucher mangele es an gefälliger Geselligkeit.

Vorsicht Maulwurf

Das Missverständnis des Grüblers: Er hält die Überfülle seiner Fragen schon für eine Garantie, reichhaltig Antworten zu finden. Sich darauf verlassend, verliert er das Gespür für die Praxis, die immer leicht oberflächlich ist. Wo der Sorgende stets schon weiß, wie eine Sache ausgehen wird (und es sich in der schrecklichen Variante ausmalt), erlebt der Grübelnde den Zweifel als so mächtig, dass er keiner Lösung traut. Beide sind Übersprungshandlungen des Handlungsunfähigen und ergänzen sich zur Entscheidungsschwäche. Wenn die Vergangenheit nicht mehr ausreicht, um sich mit ihr den Kopf lange zu zermartern, springt die Sorge munter mit düsteren Zukunftsphantasien ein, nur um von einer Gegenwart abzulenken, die sich unbedarft selbst genießen will. Im Grübeln erreicht das Denken einen Sog ins Tiefe, bei dem ihm von sich selbst schwindelig wird und es aufpassen muss, nicht in jene Grube zu fallen, die der wühlende Geist* geschaufelt hat.

* Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 8

Wie kommt das Neue in die Welt?

Alles Schöpferische beginnt mit Nachahmung und endet im Vorbildlichen. Was dazwischen passt, ist originell. 

…chen, …lein

Unter den Namenskorrekturen ist der Kosename gewiss die gebräuchlichste. Man heißt anders, weil andere einen anders ansehen, zumindest: betrachten wollen. Nur seltsam, dass zum variantenreichen Blick der Liebe die Phantasielosigkeit der Bezeichnungen oft in starkem Kontrast steht: Es lässt sich nicht viel für das millionenfach geflüsterte „Mäuschen“ anführen, außer dass mus musculus auch von der gelehrten Latinität zärtlich behandelt wird.

Witz, komm raus

Nicht so sehr die Fähigkeit zum Witz, als vielmehr Situationen unfreiwilliger Komik offenbaren den Humor eines Menschen. Da nämlich lachen die anderen schon, und es kommt alles darauf an, selber mit einzustimmen.

Unter Verdacht

In der Hierarchie der am wenigsten unschuldigen Wörter belegt „Mehr“ einen Spitzenplatz.

Einer gegen den Rest

Man verkenne nicht die heilsame Kraft einer hübschen Verschwörungstheorie: Sie gibt dem eigenen Misslingen einen größeren Sinn und verklärt es als ein heldenhaftes Kämpfen wider übermenschliche Mächte. Nichts schmerzt beim Scheitern mehr als seine Banalität.

Gute Arbeit

Wiedersehen auf einer Beerdigung: Die ältere Frau unter den Trauergästen erkennt die Bestatterin und geht strahlend auf sie zu. „Ich wollte Ihnen noch einmal danken“, sagt sie begeistert, „dass Sie vor drei Jahren meinen Mann so gut unter die Erde gebracht haben.“ Es hatte für einen Moment den Anschein, als wolle sie ihrer Freude Ausdruck geben, dass der Gatte nicht wieder aufgetaucht ist.

Ableitungen

Die Wortfolge „leiten – geleiten – begleiten“ lässt sich lesen, als entstehe Gemeinschaft in dem Maße, wie der Führungsanspruch fällt. Manchmal stimmt es.