Monat: Juli 2019

Klare Ansage

Nichts zeigt Ernsthaftigkeit so deutlich wie der Widerstand. Wo die Konfliktscheu überwiegt, entsteht jene Sprachlosigkeit, die sich später als Wut äußert. Was als routinierte Höflichkeit für oberflächliche Ruhe sorgt, übertüncht nur die Unlust, sich der Mühen eines Widerspruchs oder gar einer Widerlegung zu unterziehen. Gefälligkeitsgesellschaften sind brüchig, weil in ihnen mit dem Nein gegen andere das Ja zu sich selbst abhanden kommt. Viel hängt daran, dass wir wieder lernen, wie sich sinnvoll und belastbar begründen lässt, warum wir nicht alles teilen, was uns offeriert wird.

Entrüstungsreflex

Nicht selten ist Entrüstung ein Ersatzreflex, weil wir nicht anerkennen, dass wir schlicht überfordert sind. Die Welt scheint böser zu werden in dem Maße, wie wir die Aufgaben nicht mehr bewältigen, die sie uns täglich stellt.

Meteorologie der Philosophen

Nicht jeder Denker lässt sich jederzeit lesen und genießen. Das teilt er mit Wein, der in den heiteren Abendstunden eines langen Sommertags leicht und von weißen Trauben sein sollte, in kalten Winternächten schwer und dunkel. Eine kleine, absurde (aber so ist Wahrheit gelegentlich) Typologie, die zu ergänzen ist:

Heidegger: Winterphilosoph. Verträglich nur nach einem Skiausflug im Hochtal bei einem Schwarzwald-Gin.
Baudrillard: leichter Sommerphilosoph.
Jaspers: mit dem Frühling hellt sich die Stimmung auf.
Schmitz: das Atmosphärische bestimmt die Übergangszeiten.
Rousseau: auch Sommerphilosoph, der durch Kornfelder streift. Durch dieselben Felder geht Voltaire. Der ärgert sich aber, dass er keine Ähren raufen kann, weil das Feld abgeernet ist.
Hannah Arendt: Herbstzeitlose.
Hegel: Ganzjahresphilosoph.
Kant: Er kennt kein Wetter.

Ist das nicht krass?

Unter den Jüngeren hat sich ein seltsamer Hang ausgebildet, etwas für wichtig zu halten, ohne erklären zu können, ja zu wollen, warum. Bedeutsamkeit, die keinen Inhalt hat, findet sich in einer Fotomontage, die zwei politisch engagierte und szenepopuläre Frauen zeigt, die sich nie getroffen haben und wahrscheinlich auch nichts zu sagen hätten, in der gedruckten Botschaft auf dem T-Shirt, die radikal klingt, aber nichts fordert, im trotzigen Statement gegen Lebensgewohnheiten, die sonst eher zu jenem Lebensmodell gehören, das vehement vertreten wird. Man darf alles fragen, nur nicht nach Stimmigkeit und Gründen. Also danach, was das alles bedeutet.

Proporz

Wie wenig das politische Personal in Europa europäisch denkt, lässt sich ablesen an den Entscheidungen, die für die Spitzenpositionen getroffen sind. Im Postengeschacher um die Kommissionspräsidentschaft und die der Zentralbank oder des Rats haben alle genau darauf geachtet, dass die mächtigsten Länder auch ihre Kandidaten unterbringen, anstatt nach Qualität, Kompetenz und Charakter zu beschließen. Eine Europäerin? Ein Europäer? Nein, die Nationalinteressen übertrumpfen den Gemeinsinn: hier eine Deutsche, dort eine Französin, da ein Spanier … Nicht nur der demokratische, auch der europäische Geist verzieht sich, wenn Europa tagt.

Ach, sieh da

Seine Hochzeitsreise, die ihn und seine Frau Fanny Vandegrift für zwei Monate durchs Napa Valley führte, hat Robert Louis Stevenson wenig später in einem kleinen Buch verarbeitet, in dem er, der Vielreisende, sich abgeklärt zeigt angesichts von verkieseltem Holz, dem „versteinerten Wald“: Sight-seeing, schreibt er, is the art of disappointment.* Wer genügend Gemälde gesehen hat, oft genug unterwegs gewesen ist, oder, heute, durch Filme, Aufnahmen in hochauflösender, dreidimensionaler Qualität, durch virtuelle Realitäten ins Bild gesetzt wurde, kann im Angesicht des Originals nur desillusioniert sein. Vieles, wohinein man durch technisches Raffinement geführt wird, bleibt in Wirklichkeit verborgen, unerreichbar für den Blick, versperrt durch beschränkte Öffnungszeiten, Bauzäune, architektonische Hindernisse. Die Welt ist, im Vergleich mit allen künstlichen Realitäten, der Ort der Enttäuschung. Vielleicht bleibt das ihr wesentlicher Vorzug.

* The Silverado Squatters, Erster Teil, Kapitel 2

Sturmwarnung

Die Gemütsruhe und Dickfelligkeit, die vielen Menschen an der See zu eigen ist, mag damit zusammenhängen, dass die Luft erregt genug ist. Wenn schon das Wetter einen Hang zur Hysterie hat, muss die menschliche Natur nichts beisteuern zur gefälligen Unterhaltung des Tagesgeschehens.