Monat: Mai 2022

Geschichtenerzähler

Das unterscheidet die Autobiographie von der Lebensbeschreibung durch andere, dass sie sich die Freiheit herausnimmt, die eigenen Geschichten stets neu und anders interpretiert erzählen zu können. Nicht einmal stimmig müssen sie sein, wenn sie denn zur Unterhaltung und gelegentlichen Belehrung beitragen. Deutungshoheit über das Persönlichste ist der klarste Ausdruck dafür, dass Menschen stets mehr sind als das, was sie sind, um das zu sein, was sie sind.

Unerfüllt

Das Schönste, was einer unentsprochenen Hoffnung passieren kann, ist, dass sie, statt sie in das Gefühl der Frustration umschlagen zu lassen, gesammelt wird mit all den anderen Erwartungen, den vergeblichen wie den genau erfüllten, und so den Quell bildet für eine belastbare Form von Zuversicht. Die ist nichts Illusorisches, Utopisches, sondern mutet jeder Enttäuschung zu, sich über sich selbst zu erheben zugunsten eines neuen Anfangs.

Ethik und Moral

Nicht selten geht einer Moral, die sich auf Entrüstung stützt, die Puste schnell aus, sobald man sie nach ihren ethischen Voraussetzungen fragt. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich mich mit meinen guten Absichten und hehren Ansprüchen über andere erhebe, oder in den Tiefen des Denkens nach jenen guten Gründen forsche, die Handlungspflichten belastbar machen.

Aufrüstung

Gewalt erzeugt, sofern sie mit Gegenwehr rechnen muss, immer ein Steigerungsverlangen. Jede Erwiderung rechnet nicht nur ab mit der erlittenen Zerstörung und reagiert im selben Maß. Sie kalkuliert vielmehr den Schmerz ein, der mit der Destruktion einhergeht, und antwortet stets so, dass sie mit allen Mitteln verhindern will, dass sich das Leid wiederholt. So folgt Schlag auf Schlag, wobei der jeweils nächste sich nie nur orientiert an dem, dem man gerade einstecken musste, sondern sich ausrichtet an allen künftigen, die zu verhindern sind. Das geht wider alle Vernunft so lang, bis zwischen Erschöpfung und Vernichtung kaum noch unterschieden werden kann.

Der öffentliche Blick

Die doppelte Beobachtung – zu wissen und zu wollen, bei der Selbstbeschau gesehen zu werden –, auf ungezählten Bildern medial einflussreich dokumentiert, die aufgenommen sind während eines prüfenden Blicks in den Spiegel, verändert unsere Vorstellung von Schönheit hin zum Ideal der Makellosigkeit. Ästhetik wird reduziert auf die schlichte Kunst kosmetischer Perfektion, die, weil sie Masse produziert, zugleich die Ödnis mitliefert, die dem Ungebrochenen, Übertünchten, Gleichmäßigen anhaftet. Das hat mit Schönheit nichts zu tun, die eher ins Charakterfach gehört als zum Handwerk der Aussteller.

Ordnungssinn

Der Ordnungssinn ist eine Funktion des Raumgefühls. Das Wort „Räumen“ nimmt diese Grundbeziehung sinnfällig auf und spielt mit der Idee, alles müsse an seinen angestammten Platz, als gebe es ein Koordinatensystem, in denen Dinge sich fest verorten. Dabei verändert sich das Bedürfnis, Klarheit in der eigenen Umgebung zu schaffen, wie sich auch die Einteilung des Raums gelegentlich wandelt. Abhängig von der Tagesform, von Stimmungen oder Lebenssituationen empfinden wir Büchertürme auf dem Schreibtisch als notwendige Einhegung allzu fahriger Gedanken; dann wiederum erscheinen sie wie hohe Mauern, die den freien Blick hindern, als müsse er bis zum Horizont reichen und der Arbeitsort hat leer zu sein. Heute künden Manuskriptblätter auf dem Parkett von schöpferischen Stunden; anderntags nervt das papierne Chaos, die beschriebenen Versuchsseiten verschwinden in der Schublade, oft auf Nimmerwiedersehen. So viele Ordnungsprinzipien es geben mag, die Ordnung selber ist kein Prinzip.

Er, Sie, Es

Als ob die Geschlechterdifferenz klarer und eindeutiger sei, wenn sie nicht mehr als natürliche, als biologische Voraussetzung verstanden ist für kulturelle Vorstellungen, sondern umgekehrt durch kulturelle Zuschreibungen die Vielgestalt einer „zweiten“ Natur ausgedrückt wird. Zum Leistungsspektrum begriffsbildender Sinndimensionen gehört, alles zu überbieten, zu kritisieren, zu befragen, was sich für selbstverständlich und unfraglich hält. Wohl wahr. Umgekehrt aber auch, das höchst Individuelle, so gar nicht Anpassungswillige in allgemeinen Kategorien, manchmal schlichten Unterscheidungen beschreibbar und vermittelbar zu halten. Das ist zwar ungerecht, aber hilfreich.